Wer pflegt, muss sich pflegen
In der Geschichte „Der kleine Prinz“ beschreibt Antoine de Saint-Exupéry, wie die Rose den kleinen Prinzen mit ihrer etwas scheuen Eitelkeit quält. Sie lässt sich Zeit, sie erhebt Forderungen und stellt den kleinen Prinzen ins Unrecht. „So hatte der kleine Prinz trotz des guten Willens seiner Liebe rasch an ihr zu zweifeln begonnen, ihre belanglosen Worte bitter ernst genommen und war sehr unglücklich geworden.“
In der Altenpflege trifft man auf alte Frauen und Männer, die von ihren Pflegekräften regelmäßig sehr viel Energie absaugen. Es sind Menschen, die keine Rücksicht nehmen wollen oder können, mit denen man keine Absprachen treffen kann, die rufen und schreien, die sich ständig wiederholen, die mit Ausscheidungen spielen oder die auf die Erfüllung unrealistischer Wünsche drängen. Die Pflegenden bemühen sich sehr und versuchen, diesen Menschen gerecht zu werden. Am Ende ergeht es ihnen oft wie dem kleinen Prinzen mit seiner Rose. Sie fühlen sich verletzt, ausgesaugt, und dann leiden sie und werden unglücklich.
Die Ursache ihres Unglücks und ihres Leidens sehen die Pflegenden in den Rahmenbedingungen der Altenpflege, der mangelhaften personellen und finanziellen Ausstattung. Sie schämen sich oder sie verbieten es sich, die Gründe in der Person des alten Menschen zu suchen oder bei sich selbst. Aber es ist nun mal so, dass es nichts Schwierigeres als Beziehungen gibt, und besonders schwierig sind Beziehungen zu Menschen mit herausforderndem Verhalten.
Man muss sich nur in die Nähe jener alten Frau begeben, die jedes Mal sofort und ohne Unterlass um Hilfe bettelt. Beim ersten Treffen ist man noch irritiert, vielleicht ratlos und sucht nach Möglichkeiten, ihr zu helfen. Wenn man dann feststellt, dass man ihr in ihrer Not nicht helfen kann, verhält man sich möglicherweise wie Sabine, eine gut ausgebildete und einfühlsame Pflegerin. Sabine betritt das Zimmer der Patientin, und diese bedrängt sie sofort: „Hilf mir!“ Die Frau zeigt auf ihren Hals. „Hilf mir doch! Du kannst mir helfen. Hilfst du mir? Helf mir doch.“ Die Pflegerin zieht den Fenstervorhang zurück und sagt: „So, Frau Schmitz, jetzt kommt die Sonne ins Zimmer. Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Frau Schmitz bettelt weiter um Hilfe. Die Pflegerin verabschiedet sich. „Ich komme nachher noch mal. Dann bringe ich Ihnen ein Glas Saft.“
Der Beobachter mag sich fragen, warum die Pflegerin sich nicht nach dem Befinden der alten Frau erkundigt, warum sie nicht bei ihr bleibt und sie vielleicht tröstet. Noch befremdlicher wird es auf den Beobachter wirken, wenn er anschließend Sabine im Gespräch mit einer Kollegin sieht. Sabine beklagt sich bei der Kollegin, dass sie bedauerlicherweise keine Zeit für die Patientin habe.
Normalerweise blickt jeder in der Altenpflege auf die alten Menschen und fragt, was den Menschen guttut, wie man ihnen gerecht werden kann, was sie benötigen. Unter diesem Blickwinkel wirkt Sabines Verhalten in der Tat unangemessen. Hätte sie die Zeit für das Gespräch mit der Kollegin nicht auch nutzen können, um Frau Schmitz beizustehen?
Rationalität und Funktionalität helfen nicht weiter
Betrachten wir deshalb die Begebenheit aus der Sicht der Pflegerin. Bei Menschen wie zum Beispiel der um Hilfe flehenden Frau fehlen den Pflegekräften die ihnen vertrauten Sicherheiten, die sich an Rationalität, Funktionalität, Zweckmäßigkeit und den Errungenschaften unserer Zivilisation orientieren. Es ist, als ob sie das „Festland“ verlassen hätten und sich in einem fremden Element befänden, einem Meer. Dort kann Sabine sich nicht verständigen (die Patientin sagt nicht, was ihr fehlt), und sie erreicht dort kein Ergebnis (die Frau hört nicht auf zu betteln). Die Pflegerin hat keinen sicheren Boden unter den Füßen und droht, in dem Meer der Bedrängnis unterzugehen. In ihrer Not besteigt Sabine ein Rettungsboot: Sie sucht Halt in einer Aktivität und einem Versprechen. Sie zieht den Vorhang zurück, um Tageslicht in das Zimmer zu holen, und vertröstet die Frau auf einen späteren Besuch.
Wenn man neben dem Wohlbefinden der Pflegebedürftigen in gleicher Weise auf die Befindlichkeit und das Wohlergehen der Pflegenden achtet, dann ist das Verhalten von Sabine nachvollziehbar und berechtigt. Als Festlandbewohnerin kann sie sich nur begrenzt „unter Wasser“ aufhalten. Sie muss auftauchen, damit sie Luft bekommt. Es käme lediglich darauf an, dass der Pflegerin das Motiv ihres Handelns, nämlich Selbstschutz, bewusst ist. Wenn sie ihre Überlebensstrategien kennt und gezielt einsetzt, dann kann sie in belastenden Situationen souveräner handeln. Sie könnte entscheiden, wie lange und wie tief sie in ein Meer eintauchen will. Es reichen ja oft 30 Sekunden, in denen man mit Mimik und Gestik einem Menschen zeigt, dass man seine Not versteht, dass er jetzt die wichtigste Person auf der ganzen Welt, aber man selbst eben auch ratlos ist. Danach könnte man ohne schlechtes Gewissen auftauchen und sich wieder an seinen Sicherheiten wie beispielsweise Sprache und Aktivität festhalten.
Jeder Pflegende braucht Zeiten für sich
In der Altenpflege gibt es die unterschiedlichsten Meere. Das Meer der Angst, der Wiederholung, des Jammerns, des Ekels, der Bedrängnis, der Langsamkeit, der Abwehr, des Gestanks, des Rufens. Pflegende können sich diesen Belastungen nur begrenzt aussetzen. Sie müssen lernen, ohne Schuld- und Schamgefühle ihre Rettungsboote zu benutzen. Und sie müssen wissen, dass sie sich nach einem oder mehreren Tauchgängen erholen müssen. Niemand kann auf Dauer anderen Menschen zur Verfügung stehen. Jeder ist auf Eigenzeiten angewiesen, in denen kein anderer über ihn verfügt.
In der ambulanten Pflege bieten die Wege von einem alten Menschen zum nächsten solche Eigenzeiten. In der stationären Pflege können sie nur schwer eingehalten werden, weil die Mitarbeiter(innen) ständig präsent sein sollen. Um dennoch zu überleben, suchen sie sich „Inseln“, zum Beispiel den Personalraum, die Toilette oder Funktionsräume, in denen sie ungestört bleiben. Die Präsenzkräfte in Hausgemeinschaften nutzen beispielsweise die Geschirrspülmaschine als Insel. Das Einräumen des Geschirrspülers verschafft ihnen die Gelegenheit, sich von den Menschen zu entfernen und sich an einer nützlichen Aktivität festzuhalten. So kommen sie ein wenig zur Ruhe und können, wenn es gut geht, Kraft für den nächsten Tauchgang tanken. Sie müssten allerdings um die Bedeutung der Geschirrspülmaschine für ihre Selbstpflege wissen.
Was tut mir gut?
Wer pflegt, hat ein Recht auf Eigenzeiten, und statt sie sich heimlich, unbewusst oder mit schlechtem Gewissen zu nehmen, sollten die Pflegekräfte überlegen, was ihnen guttut, wenn sie die eine oder andere Minute zu sich selbst kommen wollen und müssen. Manchem reicht es, die Füße hochzulegen, der andere verwöhnt sich mit Süßigkeiten, der dritte braucht ein Gespräch, der vierte muss sich bewegen, der fünfte sucht Ruhe, und viele nutzen die Raucherpausen.
Nach dem Auftauchen benötigen Pflegende oft eine Schleuse oder Druckkammer, in der sie sich ausbalancieren oder sich entladen. Wer aus dem Meer der Langsamkeit steigt, sich zu lange auf einen anderen Rhythmus umstellen musste, will danach vielleicht laufen, um seinen Rhythmus wieder zu spüren. Wer das Meer der Abwehr verlassen hat, will seinen Ärger, seine Wut loswerden oder will in Ruhe gelassen werden. Wer im Meer des Ekels war, will seinen Augen etwas Schönes gönnen, er steht am Fenster und sieht in die Natur. Wer das Meer der Wiederholung verlassen hat, will sich erheitern und befreit sich mit Lachen.
Als Sabine das Meer der Bedrängnis verlässt, begleitet sie das Gefühl der Zerrissenheit, das sich während ihres Aufenthaltes bei Frau Schmitz einstellte. Sie wollte, aber konnte nicht helfen. Das unangenehme Gefühl, weder der Frau noch sich selbst und ihren Ansprüchen gerecht geworden zu sein, nimmt sie mit aus dem Zimmer. Draußen auf dem Flur trifft sie eine Kollegin, und der erzählt sie, wie sehr die alte Frau leide und dass man mehr Zeit für die Menschen haben müsse. Darüber reden beide rund drei Minuten. Diese drei Minuten sind überlebensnotwendig, denn Sabine will sich in diesem Gespräch vergewissern, dass sie keine schlechte Pflegerin ist, weil sie die Patientin hilflos zurückgelassen hat. Das Gespräch hilft Sabine, das Verlassen der alten Frau mit ihrem Anspruch von menschlicher Pflege in Einklang zu bringen. Sie müsste die Gewissheit haben, dass ihr das Gespräch zusteht und sie von niemandem aufgefordert wird, die für das Gespräch verwendete Zeit mit der alten Frau zu verbringen.
In einer Pflegebeziehung stehen zwei Menschen im Mittelpunkt, und beiden soll es möglichst gut gehen. Es müssen also Kompromisse gefunden werden. Das bedeutet, dass keiner von beiden einseitig und auf Dauer zurückstecken und leiden muss, aber sich auch keiner von beiden ganz durchsetzen darf. Mal liegen alle Rechte beim alten Menschen und mal bei den Pflegekräften.
Literatur
Schützendorf, Erich: Wer pflegt, muss sich pflegen. Springer Verlag : Wien, New York, 2., erw. Aufl. 2010.