Die Kirche und ihre Caritas im Spiegel der Sinus-Milieus
Trotz aller Kritik werden die Kirche und ihre Dienste nach wie vor gebraucht. Die christliche Religion gilt als zentraler Bestandteil der abendländischen Kultur und als Basis einer allgemeinverbindlichen Ethik. In allen sozialen Milieus gelten die zehn Gebote als sinnvolle Richtschnur des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Aber die Institution Kirche befindet sich in einer Vertrauenskrise - weniger die Kirche vor Ort, die als positiv, bemüht, aber auch als überlastet empfunden wird. Vor allem gegenüber der obersten Kirchenleitung werden Unmut, Kritik und Ablehnung geäußert.
Das MDG-Milieuhandbuch 20132, Ende Januar in der Katholischen Akademie in München vorgestellt, findet breite Resonanz in der Fachwelt und bei den Medien. Es basiert auf einer qualitativen Befragung von 100 Katholik(inn)en im Sommer 2012 und wurde im Auftrag der Medien-Dienstleistung GmbH (MDG) durch das Sinus-Institut erstellt. Auf der Grundlage des aktualisierten Gesellschaftsmodells der Sinus-Milieus bietet es neueste Erkenntnisse, wie Glaube, Religion und Kirche in der heutigen Zeit verstanden und gelebt werden. Ebenso antwortet es auf die Frage, welche Anschlussmöglichkeiten es in den verschiedenen Bevölkerungsmilieus für die Kirche gibt.
Sinus-Milieus ermöglichen differenzierte Betrachtung
Abb. 1: Die Sinus-Milieus in Deutschland 2013MDG
Viel umfassender als nach den soziodemografischen Kriterien wie Alter und Geschlecht werden die Menschen in den Sinus-Milieus nach ihrer Lebensauffassung, Lebensweise, ihren Werteorientierungen und Alltagseinstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit etc. ganzheitlich in den Blick genommen. So werden Einsichten gewonnen, wie Menschen unterschiedlich "ticken" und welche Wünsche und Bedürfnisse sie haben. Die Abb. 1 (s. rechts) zeigt die aktuelle Milieu-Landschaft und die Position der verschiedenen Milieus in der deutschen Gesellschaft nach sozialer Lage und Grundorientierung. Je höher ein Milieu in der Abbildung angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Beruf und Einkommen; je weiter nach rechts gerückt, desto moderner ist es ausgerichtet.
In allen zehn Milieus sind Katholiken vertreten: im traditionellen Segment (Konservativ-Etabliertes und Traditionelles Milieu) deutlich überrepräsentiert; in der Mitte der Bevölkerung (bürgerliche Mitte und Adaptiv-Pragmatisches Milieu) in etwa im Bundesdurchschnitt und in allen anderen Milieus leicht unterrepräsentiert, vor allem im Prekären Milieu.
Caritativer Einsatz im Spiegel der Milieus
In fast allen Milieus - nur nicht in der modernen Unterschicht - wird wahrgenommen, dass sich die katholische Kirche vielfältig im sozialen und caritativen Bereich engagiert: wie zum Beispiel durch Kindergärten, Altenheime, Krankenhäuser oder Obdachlosenheime. Dabei gehen die meisten davon aus, dass ein großer Teil der Kirchensteuer dafür aufgewendet wird. Gerade bei den Konservativ-Etablierten ist sowohl eine sehr ausgeprägte Wertschätzung kirchlicher Trägerschaft von Einrichtungen als auch eine sehr hohe Spendenbereitschaft vorhanden. Kirchliche soziale Einrichtungen halten Angehörige dieses Milieus für unverzichtbar, wie ein Originalzitat unterstreicht: "Also die ganzen sozialen Errungenschaften, Altenpflege, caritative Sachen, die von der Kirche aus bedient werden, finanziert werden. Kirchen sollten schon sein, oder Religion sollte schon sein, sonst würde die Menschheit in ein Chaos verfallen. Das wäre nur noch Mord und Totschlag, weil keine moralischen Werte mehr vermittelt werden."
Liberal-Intellektuelle arbeiten bevorzugt in sozialen kirchlichen Projekten mit, beispielsweise in der Obdachlosenarbeit. Sie schätzen und fordern Angebote, mit denen sich die Kirche für sozial Benachteiligte engagiert, und sind dafür auch spendenaffin. Performer erkennen an, dass die Kirche sich zum Beispiel in Kindergärten, Schulen und Altenheimen engagiert, und schätzen die Qualität der Betreuung eher besser ein als in staatlichen Einrichtungen. Dafür sind die Personen aus diesem Bevölkerungssegment auch bereit, ihren Teil in Form von Kirchensteuern beizutragen.
Wenn es keine säkularen Alternativen am Ort gibt, wählen Expeditive auch gerne kirchliche Kindergärten. Gegenüber der weltanschaulichen Ausrichtung des Trägers ist aber das pädagogische Konzept der Einrichtung für sie wichtiger.
Personen aus dem Traditionellen Milieu halten kirchliche soziale Einrichtungen für unverzichtbar. Aus ihrer Sicht bewältigen sie ein caritatives Pensum, das von anderen Institutionen nicht geleistet werden kann. Zum anderen werden auch Werte und Umgangsformen vermittelt, die für die Gesellschaft als essenziell erachtet werden. Auch bei diesem Milieu ist die Spendenbereitschaft überdurchschnittlich ausgeprägt.
Beim Prekären Milieu, das aus finanzieller und sozialer Sicht zur gesellschaftlichen Unterschicht gehört, sind die Caritas und auch katholische Kindergärten bekannt, interessanterweise Beratungsstellen weniger. Der Kindergartenplatz in einer katholischen Einrichtung wird aus pragmatischen Gründen gewählt. Vertreter(innen) dieses Milieus geben an, dass kirchlich getragene Einrichtungen ebenso gut von staatlichen Stellen oder nichtkonfessionellen Wohlfahrtsverbänden angeboten werden könnten. Ein ernüchterndes Originalzitat aus diesem Milieu zum Thema katholischer Kindergarten: "Da gibt es auch nur Druck und Haue und ist nichts Christliches in so einem Laden. Vielleicht sollte sich die Kirche da sehr viel stärker engagieren, dass wenigstens in den eigenen Häusern der Ton christlicher ist. Aber da geht es auch nur ums Geld."3
Hedonisten hingegen nutzen angebotene kirchliche Hilfen vor allem in besonderen Lebenslagen, wie beispielsweise Beratungsstellen oder Tafelläden. Da das hedonistische Milieu Abhängigkeiten scheut, möchten seine Vertreter(innen) solche Hilfen am liebsten nicht in Anspruch nehmen müssen.
Abb. 2: Soziales und caritatives Engagement: Das Milieu-PanoramaMDG
Abb. 2 (s. rechts) stellt die unterschiedlichen Zugänge der Befragten für das caritative Engagement der Kirche dar.
Zusammenfassend wird deutlich, dass das soziale kirchliche Engagement und die entsprechenden Einrichtungen aus dem Blickwinkel der befragten Katholik(inn)en als ein wesentliches Element der Kirche wahrgenommen werden.
Ehrenamtliches Engagement aus Sicht der Milieus
Als entscheidende Beweggründe für eine ehrenamtliche Tätigkeit wurden von den Befragten genannt: soziale Anerkennung und Wertschätzung, das Erleben von Gemeinschaft, Verantwortungsbewusstsein, (religiöse) Pflicht und Moral, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe, Sinnstiftung und Selbstverwirklichung, ideologisch-politische Ziele, aber auch Spaß, Unterhaltung und Abwechslung sowie Persönlichkeitswachstum und Horizonterweiterung, schließlich auch Qualifizierung und Erfolg.
Als freiwilliger Einsatz für eine gute Sache ist das Ehrenamt weit verbreitet, wobei aber die milieuspezifischen Präferenzen bezüglich der Ziele und Organisationsformen sehr unterschiedlich sind:
Abb. 3: Ehrenamtliches Engagement: das Milieu-PanoramaMDG
In den Traditionellen Milieus sowie in der Mitte der Gesellschaft (Traditionelle, Konservativ-Etablierte und Bürgerliche Mitte) besteht nicht nur eine große Offenheit, sondern auch eigenes Engagement in kirchlichen Einrichtungen. Eine typische Aussage aus dem Traditionellen Milieu: "Dann wollte ich meine Zeit nicht nur egoistisch für mich verwenden und auch nicht nur für meine Familie. Wer ist benachteiligt oder wo kann ich was Sinnvolles machen, was mir aber liegt?"4 Je moderner das Milieu ausgerichtet ist, desto weniger ausgeprägt ist das Interesse an ehrenamtlichen Tätigkeiten. In den jungen Milieus (Adaptiv-Pragmatische, Hedonisten und Expeditive) konkurriert das Ehrenamt stark mit beruflichen und familiären Verpflichtungen sowie mit anderen Freizeitinteressen. Das Zeitbudget ist eng bemessen, daher wird eine punktuelle Projektmitarbeit bevorzugt (s. Abb. 3 rechts oben).
Bei den Sozial-Ökologischen und Liberal-Intellektuellen wird der Fokus weniger auf lokale Engagements gelegt, sondern stärker auf Projekte mit ökologischem und oft globalisierungskritischem Horizont - hier spielt auch die politische Ausrichtung der Organisation eine wichtige Rolle.
Wenig Bereitschaft zum freiwilligen Engagement ist in den hedonistisch geprägten Milieus (Hedonisten und Adaptiv-Pragmatische) vorhanden. Eine typische Stimme dazu: "Eigentlich nicht, nein. Ich habe sowieso immer schon das Gefühl, ich habe zu wenig Zeit. Und es ist für mich jetzt auch nicht so, dass ich das Gefühl habe, ich müsste da jetzt aktiv auf die Suche gehen, weil ich unbedingt was ehrenamtlich machen will. Früher hat sich das mal ergeben, dass ich die Website für den Skiclub ehrenamtlich gemacht habe, aber im Moment hat sich da nichts ergeben. Ich bin da jetzt nicht prinzipiell dagegen, aber ich suche da nach nichts."5
Erwartungen an die Kirche
Viele Katholik(inn)en verstehen sich nicht als gläubig im traditionellen Sinn und reden nicht direkt von Gott. Gerade in den jungen und unterschichtigen Milieus kommen Glaube und Religion im Alltag kaum mehr vor. Dabei stellen sich die Befragten ein individuelles Glaubens-Patchwork zusammen. Nur bei Älteren im traditionellen Segment sind Elemente einer katholisch verpflichtenden Lebensführung vorzufinden.
In den Milieus der Traditionellen, Konservativ-Etablierten und zum Teil in der Bürgerlichen Mitte gehören Glaube, Religion und Kirche zusammen und geben Orientierung sowie Struktur und bedeuten soziale Integration.
Den Gottesdienst am Sonntag erleben nur noch wenige als verpflichtend. Dagegen gewinnt er am Samstagabend an Bedeutung, gerade auch als Einstimmung auf den Sonntag.
Sowohl die Strukturreform (Zusammenlegung von Pfarrgemeinden) als auch die mangelnde Aufdeckung von Missbrauchsfällen und der Umgang damit haben bei den Befragten Unmut und Unsicherheit erzeugt. Aber die Kirche und ihre Angebote werden nach wie vor als unverzichtbar eingestuft.
Quer durch alle Milieus wünschen sich die befragten Katholiken von ihrer Kirche spirituelle Orientierung, Sicherheit und Sinn, seelsorgerische Begleitung in schwierigen Lebenslagen, Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und die Aussicht auf ein wohlgeordnetes, tröstliches Ende (kirchliche Bestattung). Neben einer Verjüngung und Modernisierung der Ausdrucksformen werden von der Kirche Beweglichkeit und Reformwille gerade zu folgenden Themen erwartet: Engagierte Laien sollen stärker einbezogen werden, um den Priestermangel abfedern zu können. Mehr Frauen in Leitungsämter; die Zölibatspflicht für Geistliche aufheben; Sakramente für alle Menschen, die sich als Christ(inn)en verstehen; weniger Prachtentfaltung und Machtmissbrauch sowie Konzentration auf die Kernaufgabe Gottes- und Nächstenliebe.
Abb. 4: Erwartungen an die Kirche: das Milieu-PanoramaMDG
Abb. 4 (s. rechts) spiegelt die unterschiedlichen Erwartungen an die Kirche aus dem Blickwinkel der einzelnen Milieus wider.
Anmerkungen
1. Der Begriff "Sinus-Milieu" ist ein eingetragenes Warenzeichen der Sinus Sociovision GmbH, Heidelberg.
2. Unter www.mdg-online.de/shop kann das MDG-Handbuch bestellt werden. Die vielschichtigen Ergebnisse der Befragung werden in 444 Abbildungen detailliert dargestellt und bieten so viele Anregungen für Veränderungen. Auf Wunsch wird die Studie vor Interessierten präsentiert; eine Umsetzungsbegleitung bietet die MDG (Medien-Dienstleistung GmbH, München) in Form von Workshops und Moderationen an.
3. MDG-Milieuhandbuch 2013, S. 399.
4. MDG, a.a.O., S. 367.
5. MDG, a.a.O., S. 291.