Wie kann das Gesundheitssystem gerechter werden?
Stellen wir uns folgende Patientinnen und Patienten vor: Frau K. ist Akademikerin, 40 Jahre alt und verdient gut. Trotzdem ist sie bei einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Sie hat Knieprobleme. Der Orthopäde diagnostiziert einen Knorpelschaden, die Physiotherapeutin sieht das Problem eher im Rücken. Der zweite Patient ist Marco, 13 Jahre und seine Eltern beziehen Arbeitslosengeld. Er ist stark übergewichtig und entwickelt Stoffwechselprobleme. Frau M. ist privat versichert, hat Eheprobleme und starke Magenschmerzen. Sie hat schon eine Ärzte- und Diagnostikodyssee hinter sich. Jetzt sucht sie Hilfe beim Heilpraktiker. Herr H. ist 62 Jahre, langzeitarbeitslos, chronisch krank und mittlerweile auch depressiv. Er ist aufgrund der Trennung von seiner Frau zeitweise wohnungslos und hat auch zunehmend Probleme mit Alkohol.
Selbstsorge und Gerechtigkeit
Diese vier Personen haben ganz unterschiedliche Krankengeschichten. Der Umgang mit der Gesundheit und die Erwartungen jedes Einzelnen an das Gesundheitswesen sind höchst verschieden. Allen gemeinsam ist ihr Wunsch, eine gute Versorgung zu erhalten.
Gesundheit ist eng verbunden mit der Sicht jedes Einzelnen auf seinen eigenen Leib, mit seiner Beziehung zu sich selbst als Subjekt. Aus der Beziehung des Subjektes zu sich selbst resultiert auch die Verantwortung für sich selbst. Besser ist es in diesem Zusammenhang, den Begriff der Selbstsorge zu gebrauchen. Denn sie beschreibt diese Verantwortung gegenüber sich selbst als kontinuierlichen Prozess. Diese Selbstsorge kann niemand delegieren. Gleichwohl ist die Selbstsorge etwas, was jeder lernen muss, wozu jeder befähigt werden muss. Diese Befähigung beginnt im Elternhaus, findet statt im Kindergarten und Schule, in Peergroups, im Sportverein, der Gemeinde und wird durch die Medien und gesellschaftliche Trends beeinflusst.
Ein typisches Phänomen des Gesundheitswesens ist die Ressourcenknappheit. Die gerechte Verteilung der knappen Ressourcen ist immer wieder Kernfrage des gesellschaftlichen Diskurses.
Option für Benachteiligte im Gesundheitswesen
Gesundheit und Armut stehen in einem engen Zusammenhang. Menschen, die von Armut betroffen sind, haben deutlich größere Gesundheitsrisiken und eine kürzere Lebenserwartung als Menschen aus anderen Einkommensschichten.1 Insbesondere für Kinder aus armen Familien besteht ein erhöhtes Gesundheitsrisiko.2 Benachteiligung und Armut sind häufig verbunden mit schlechteren Bildungschancen. Zwischen Bildungschancen und Gesundheit besteht ebenfalls ein enger Zusammenhang. Benachteiligte Menschen haben teilweise nicht die gleichen Zugangschancen zum Gesundheitswesen. Dies betrifft insbesondere wohnungslose Menschen beziehungsweise Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus oder mit ungeklärtem Versichertenstatus. Für viele benachteiligte Menschen stellen Zuzahlungen, Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente eine Überforderung dar. Ihre Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten können im Gesundheitswesen eingeschränkt sein.
Ein häufiges Bild, das von Vertreterinnen und Vertretern einer eher liberal geprägten Position transportiert wird, ist die Vorstellung von einem relativ mündigen, souveränen Patienten, der seine Entscheidungen im Gesundheitswesen trifft. In Analogie zu den Gedanken des Gerechtigkeitstheoretikers John Rawls ist ein System, das der Verteilung von Gütern dient, jedoch auch stets aus der Perspektive des am schlechtesten Gestellten zu betrachten. Für das Gesundheitswesen bedeutet dies, dass wir die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens auch stets aus der Perspektive von Menschen mit geringem
Einkommen, zum Beispiel Hartz-IV-Empfängern, Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen sowie Menschen mit Demenz oder anderen Einschränkungen bewerten müssen.
Konkrete Reformvorschläge
Entscheidend für eine gerechte Umorganisation des Gesundheitswesens ist zunächst eine nüchterne Analyse des Ist-Zustandes. Dazu zählt zunächst die Feststellung, dass das deutsche Gesundheitswesen ein hohes Maß an Zugangsgerechtigkeit gewährleistet und ein starkes ethisch fundiertes solidarisches Krankenversicherungssystem besitzt, das auf Risiko- und Einkommenssolidarität gründet. Der Konsens für dieses muss immer wieder hergestellt und befördert werden. Schwarzmalerei und einseitig negative Berichterstattung über das Gesundheitswesen beziehungsweise auch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) können einen solchen Konsens beeinträchtigen. Auf der anderen Seite ist eine öffentlich transparente Berichterstattung über die Wirksamkeit des Gesundheitswesens und über Versorgungsdefizite eine wichtige staatliche Aufgabe.
Hochproblematisch sind die Tabuisierungstendenzen des Bundesministeriums für Gesundheit und anderer staatlicher Institutionen, aber auch des öffentlichen Diskurses bezüglich der Knappheits- und Rationierungsphänomene im Gesundheitswesen. Eine offene, nüchterne und nicht nur Experten zugängliche Diskussion und Untersuchung dieser Phänomene ist dringend geboten. Wer eine solche Debatte fordert, steht schnell im Verdacht, Menschen Gesundheitsleistungen vorenthalten zu wollen. Darum geht es jedoch nicht. Sondern es geht darum, Effizienzreserven des Gesundheitswesens zu identifizieren, auszuschöpfen und Schwerpunkte in der Versorgung zu setzen, die zu einem besseren Gesundheits-Outcome und zu einem nachhaltigen Ressourceneinsatz führen. Wenn Rationierung unvermeidlich ist, müssen dazu faire Verfahren und Kriterien entwickelt werden. Die Debatte über eine gerechte Umgestaltung des Gesundheitswesens muss mit einer hohen Sensibilität und Transparenz geführt werden, weil sie Patienten stark verunsichern kann.
Investitionen in Bildungsgerechtigkeit sind eine Investition auch in die Finanzierungssysteme des Gesundheitswesens. Dies gilt auch für den Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Gesundheit. Diese Zusammenhänge zeigen ebenfalls, dass das Thema Gesundheit nicht allein aus der Perspektive des Gesundheitswesens und der Gesundheitspolitik gesehen werden kann. Das Gesundheitswesen könnte noch so gut mit Ressourcen ausgestattet werden. Es wird diese Zusammenhänge zwischen Armut - Bildung - Gesundheit - Benachteiligung nur begrenzt verändern. Im Gegenteil - das Gesundheitswesen und seine Akteure sind häufig Auffangbecken für soziale Nöte von Menschen - sei es Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, fehlende Beheimatung oder das Risiko, abgeschoben zu werden. Da hilft keine Medizin. Sie kann höchstens Symptome lindern. Es besteht im Gegenteil sogar die Gefahr, dass solche Nöte medikalisiert werden. Deswegen plädiere ich für eine Demedikalisierung von Lebenslagen. Wir brauchen hingegen einen übergreifenden Ansatz im Sinne der Verhältnisprävention, also der Verbesserung der Lebensbedingungen. Das Konzept der sozialen Gesundheit greift genau diesen Ansatz auf.
Im Vordergrund steht dabei die Stiftung von Solidarität im Nahraum zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Dies kann die nachbarschaftliche Unterstützung von pflegenden Angehörigen sein, die Organisation einer Kinderfreizeit mit vielen Bewegungsangeboten oder auch die Förderung des ehrenamtlichen Engagements im Stadtteil mit dem Ziel der Sinn- und Solidaritätsstiftung. Initiatoren können Vereine, Bürgerbüros, soziale Einrichtungen, Bildungseinrichtungen, Pfarrgemeinden, Migrantenselbstorganisationen und viele Akteure mehr sein. Gesundheitseinrichtungen können sich in solche Netzwerke einbringen und Räume zur Verfügung stellen sowie Fachkompetenz und Ansprechpartner. Eine solche Initiative für soziale Gesundheit kann gesundheitliche Problemlagen und Versorgungslücken aufdecken und niederschwellige Angebote schaffen.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Ein wichtiger Schlüssel für einen solchen Perspektivwechsel ist die sozialmedizinische und psychosoziale Qualifizierung der Ärztinnen und Ärzte bereits im Medizinstudium. Durch die starke Dominanz der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung sind viele Mediziner überfordert, solche Fragen adäquat aufzugreifen und Patienten entsprechend an soziale Dienste oder andere Unterstützungsformen weiterzuleiten. Patientinnen und Patienten wie Frau M. mit ihren psychosomatischen Beschwerden durchlaufen häufig viele somatische Diagnoseverfahren und Therapien, die ihre eigentlichen psychosozialen Probleme nicht erkennen und aufgreifen. Als Privatpatientin ist sie eine lukrative Kundin und einem hohen Risiko ausgesetzt, falsch behandelt zu werden. Wünschenswert wären eine bessere Honorierung der "sprechenden Medizin" und eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten mit Sozialarbeitern und sozialen Diensten.
Eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe könnte auch schneller die Suchtprobleme von Herrn H. aufgreifen und mit ihm nach Lösungen suchen. Sicherlich gibt es in manchen Bereichen eine solche Zusammenarbeit schon, aber sie ist längst nicht flächendeckend. Sie könnte auch Versorgungslücken schließen, die sich durch eine frühzeitige Entlassung aus dem Krankenhaus von pflegebedürftigen Patienten ergeben. Allerdings müssen dafür auch entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen, die durch ein effizientes interdisziplinäres Patienten-Casemanagement freiwerden könnten. Sie erfordert aber auch ein Umdenken der Professionen. Warum sollten der Orthopäde und die Physiotherapeutin nicht gemeinsam die Patientin Frau K. anschauen und mit ihr ein Vorgehen vereinbaren? Durch die starken berufsständischen Grenzen und die ärztliche Indikationshoheit wird diese interdisziplinäre Zusammenarbeit erschwert und werden die Kompetenzen der verschiedenen Berufsgruppen nicht ausreichend genutzt. Dadurch entstehen häufig lange und unnötige "Patientenkarrieren".
Investition in ländliche und wohnortnahe Versorgung
In Deutschland zeigt sich, dass die wohnortnahe medizinische und pflegerische Versorgung schwieriger wird und der Unterschied der Zugangsmöglichkeiten von Patienten zu Fachärzten, Hausärzten und Krankenhäusern zwischen Stadt und Land wächst. Dies stellt ein Problem dar für Menschen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen, familiären oder finanziellen Situation nicht mobil sind. Zu begrüßen sind deshalb alle Initiativen, die ländliche Versorgung zu stärken zum Beispiel durch Gemeinschaftspraxen, medizinische Versorgungszentren und andere Versorgungsformen.3
In der Praxis wird es immer notwendig sein, dass es niederschwellige medizinische Anlaufstellen gibt, an die sich zum Beispiel wohnungslose Menschen wenden können, die aus irgendwelchen Gründen nicht versichert sind, sich in keine Arztpraxis trauen oder aus anderen Gründen keinen regulären Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Diese Dienste sind oftmals in einer sehr schwierigen finanziellen Lage. Hier wäre eine gesicherte Finanzierung wünschenswert. Problematisch wird es, wenn sich zeigt, dass diese Dienste immer mehr aufgesucht werden, weil Patienten Medikamente nicht mehr zahlen können oder in anderer Weise überfordert sind aufgrund der gesetzlichen Bedingungen. Denn diese Dienste können und sollen keine regulären Versorgungslücken schließen. Hier besteht eine zentrale Aufgabe der Wohlfahrtsverbände darin, auf solche Versorgungslücken politisch aufmerksam zu machen und dagegen zu wirken. Insofern haben die sozialen Dienste auch eine Seismographen-Funktion für das Gesundheitswesen.
Die Diagnose für das deutsche Gesundheitssystem aus sozialethischer Perspektive fällt nicht schlecht aus. Grundkriterien wie Solidarität und Zugangsgerechtigkeit sind weitestgehend gewährleistet. Eine reale Gefahr besteht, wenn eine Debatte über gerechte Ressourcenverteilung und Prioritätensetzung gesellschaftlich und politisch vermieden wird. Gesundheitspolitik ist nur sinnvoll in einem engen Zusammenhang zur Bildungs- und Sozialpolitik. Deshalb wird die Caritas ihr Engagement für "soziale Gesundheit" und mehr Gerechtigkeit im Gesundheitswesen intensivieren. Vor diesem Hintergrund stellt der Deutsche Caritasverband im nächsten Jahr im Rahmen seiner dreijährigen "Initiative für Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt" seine Jahreskampagne unter das Motto "Armut macht krank - jeder verdient Gesundheit". Dabei geht es zum einen um öffentliche Sensibilisierung. Zum anderen wird die Caritas ihr politisches Engagement auf allen Ebenen ausbauen und konkrete Schritte benennen, wie sie als ein starkes Stück Kirche Verantwortung für mehr Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung übernehmen kann.
Literatur
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten : Ansatz - Beispiele - Weiterführende Informationen. 4. Erweiterte und überarbeitete Auflage, Köln, 2010.
Kostka, Ulrike: Gerechtigkeit im Gesundheitswesen und in der Transplantationsmedizin : Mehrdimensionale Handlungsfelder als systematische und normative Herausforderung für die Bioethik und Theologische Ethik. Basel, 2008.
Robert-Koch-Institut: Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Berlin, 2010.
Anmerkungen
1. Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2010).
2. Vgl. Robert-Koch-Institut (2010).
3. Diesem Ziel dient der Entwurf eines Versorgungsgesetzes.