Caritas: Zu kurz gesprungen
Am 16. November war es endlich so weit: Nachdem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr das Jahr 2011 zum "Jahr der Pflege" erklärt hatte, legte die Bundesregierung ihre "Eckpunkte zur Umsetzung des Koalitionsvertrags für die Pflegereform" vor. Die lange Verzögerung ist auf die anhaltenden Streitigkeiten der Koalition über die künftige Finanzierung der Pflegeversicherung zurückzuführen. Hier die wichtigsten Ergebnisse:
- Die Pflegeversicherung erhält 1,1 Milliarden Euro mehr. Dafür soll der Beitragssatz ab 1. Januar 2013 um 0,1 Prozent angehoben werden.
- Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird noch nicht umgesetzt. Stattdessen soll es kurzfristige Verbesserungen für Demenzkranke geben. Um den Pflegebedürftigkeitsbegriff auf den Weg zu bringen, soll der Beirat wieder eingesetzt werden und seine Arbeiten noch in dieser Legislaturperiode abschließen.
- Die Bundesregierung will die private Vorsorge durch Einführung einer Art "Pflege-Riester" fördern.
Insgesamt fällt die Bilanz mager aus. Caritaspräsident Peter Neher bezeichnete die Reform als "zu kurz gesprungen". Er forderte, den Pflegebedürftigkeitsbegriff noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen. Eine auf freiwilliger Vorsorge basierende Versicherungslösung bewertete er kritisch, weil diese sich Menschen mit niedrigem Einkommen oder im Hartz-IV-Bezug einfach nicht leisten könnten.
Zunächst plant die Bundesregierung Leistungsverbesserungen für Demenzkranke. Daniel Bahr betonte, dass vor allem die Demenzkranken in den Pflegestufen 0 und 1 Leistungserhöhungen erhalten sollen. Es bleibt aber offen, ob die zusätzlichen Leistungen nur häuslich versorgten Demenzkranken zukommen sollen oder auch den stationär betreuten. Wichtig ist es aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes (DCV), nicht nur die Leistungssätze anzuheben, sondern vor allem ein entsprechendes flächendeckendes Angebot von niedrigschwelligen Leistungen zur Verfügung zu stellen, die Pflegepersonen entlasten. So sollten die niedrigschwelligen Betreuungsleistungen der Modellprojekte nach §§ 45c und 45d SGB XI in die Regelförderung überführt werden. Hierfür sollte ein definierter Betrag pro Versicherten zur Verfügung stehen.
Ambulante Wohngruppen werden gestärkt
Die Bundesregierung plant, ambulante Wohngruppen für Demenzkranke zu stärken. Neue Wohnformen sollen gefördert werden durch die Gewährung einer zweckgebundenen Pauschale für die Beschäftigung einer Kraft, die für die Organisation und Sicherstellung der Pflege in der Wohngruppe sorgt. In der Praxis ambulanter Wohngruppen stellt die Refinanzierung der Betreuungskräfte häufig ein Problem dar. Die Pauschale sollte für die Beschäftigung der Betreuungskräfte, nicht der Pflegekräfte zur Verfügung stehen.
Um den Grundsatz "ambulant vor stationär" umzusetzen, muss aus Sicht des DCV die Infrastruktur zur Entlastung von pflegenden Angehörigen und anderer Pflegepersonen ausgebaut werden. In den Eckpunkten steht dazu, dass die Möglichkeiten zwischenzeitlicher Unterbrechungen der Pflege eines Angehörigen zu Hause zu stärken seien, damit sich Pflegende leichter als bisher eine "Auszeit" nehmen können. Möglichkeiten für eine solche "Auszeit" bieten Ersatz- und Kurzzeitpflege. Hier ist das gesetzgeberische Instrumentarium noch längst nicht ausgeschöpft, um diese Entlastungsmöglichkeiten zu flexibilisieren. Schon bei der letzten Pflegereform 2007 hat der DCV gefordert, die Hürde der Vorpflegezeit von sechs Monaten bei der Ersatzpflege zu streichen. Um eine unbürokratische Inanspruchnahme dieser Leistungsform zu gewährleisten, sollten die Versicherten nicht jede einzelne Leistung separat beantragen müssen. Die Pflegekassen sollten ein einheitliches, verständliches und unbürokratisches Formular zum Nachweis der notwendigen Aufwendungen entwickeln.
Mehr Flexibilität ist nötig
Ersatzpflege und Kurzzeitpflege sollen künftig flexibler miteinander kombinierbar sein. Ist zum Beispiel das Budget für Ersatzpflege ausgeschöpft und besteht ein weiterer Bedarf an Entlastung, sollen die Leistungen für Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI auch innerhalb der Häuslichkeit und nicht nur in vollstationären Einrichtungen in Anspruch genommen werden können. Die Leistungssätze der Kurzzeitpflege sollen so gestaffelt werden, dass auch Schwerstpflegebedürftige der Pflegestufe III diese künftig besser ausschöpfen können. Bisher ist das Budget unabhängig von den Pflegestufen einheitlich bemessen. Das bedeutet, dass bei höherer Pflegestufe weniger Leistungen abgerufen werden können als in den niedrigeren Pflegestufen. Außerdem sollte die starre Begrenzung der Leistungen in der Kurzzeitpflege auf vier Wochen aufgehoben werden, wenn im Einzelfall die häusliche Pflege weiterhin nicht gesichert ist.
Darüber hinaus soll Kurzzeitpflege auch für die Krankenhausnachsorge genutzt werden können, wenn Menschen nach einem Krankenhausaufenthalt noch einen pflegerischen Bedarf haben, aber nicht pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind. Zur Finanzierung dieser Leistung soll nach Meinung des DCV die Krankenkasse der Pflegekasse einen Ausgleichsbetrag zahlen. Generell ist zu fordern, dass die Pflegekassen den Versicherten regelhaft Informationen über den Grad der Ausschöpfung der Leistungen geben, auf die sie im Kalenderjahr Anspruch haben. Das betrifft vor allem die zusätzlichen Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI, aber auch die Ersatz- und Kurzzeitpflege. Insgesamt sollen die Leistungen die pflegenden Angehörigen entlasten. Die zusätzlichen niedrigschwelligen Betreuungsleistungen sollen flexibilisiert und kombinierbar werden. Vorstellbar ist es, ein jährliches Budget zu bilden, aus dem die einzelnen Leistungen den Bedarfen entsprechend passgenau abgerufen werden können. Nicht aufgebrauchte Geldbeträge könnten ins Folgejahr übertragen werden.
DCV fordert Verbesserung bei der Rehabilitation
Die Bundesregierung sieht auch eine Verbesserung der Begutachtung vor. Schon mit der letzten Pflegereform wurden Fristen eingeführt, innerhalb derer die Pflegekassen dem Versicherten ihre Begutachtungsentscheidung mitzuteilen haben. Neu ist, dass der Versicherte nun Anspruch auf ein gesondertes Gutachten über seinen individuellen Rehabilitationsbedarf erhalten soll. Dies ist zu begrüßen. Darüber hinaus sollte die Pflegekasse jedoch auch verpflichtet werden, mit Zustimmung des Versicherten die Pflegeeinrichtung über den festgestellten Bedarf an medizinischer Rehabilitation zu informieren. Aus Sicht des DCV sollte der Versicherte nicht nur den Leistungsbescheid, sondern regelhaft auch das Gutachten des Medizinischen Dienstes (MDK) unaufgefordert erhalten. Voraussetzung für eine bessere medizinische Rehabilitation älterer und pflegebedürftiger Menschen ist die Verbesserung der Rahmenbedingungen. So ist das Fach Geriatrie in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung zu wenig etabliert. Die Eckpunkte der Bundesregierung sehen auch vor, die Beratung von Pflegebedürftigen zu verbessern. Beratung wird häufig nicht oder viel zu spät in Anspruch genommen. Daher sollte die Pflegeberatung nach § 7a SGB XI Versicherten bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung zur Verfügung stehen und nicht an den Erhalt von Leistungen aus der Pflegeversicherung gebunden sein. Die Aufklärung muss alltagsnah und niedrigschwellig erfolgen. Daher sollten auch die Gesundheitseinrichtungen verpflichtet werden, die Pflegekassen über beginnende Pflegebedürftigkeit zu unterrichten. Neben der Beratung ist auch das Schulungsangebot der Pflegepersonen verbesserungsbedürftig. Bisher gibt es keinen Rechtsanspruch auf einen Pflegekurs. Die Pflegekassen sollten künftig verpflichtet werden, Versicherte auf Beratungs- und Unterstützungsangebote hinzuweisen, sobald Leistungen aus der Pflegeversicherung bezogen werden. Die Schulungskurse sollten auch Angehörigen von Personen zur Verfügung stehen, die nach § 45a SGB XI in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkt sind, aber keine Pflegestufe haben. Nicht zuletzt strebt die Bundesregierung einen Bürokratieabbau an. Dies ist zu begrüßen. Nun ist abzuwarten, wie die Eckpunkte im Referentenentwurf umgesetzt werden.