Transparenzprüfung für die Pflege - eher ein Feldversuch?
Mit einem außergewöhnlichen Personaleinsatz haben die Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege an der Aufgabe mitgearbeitet, die Qualität der Leistungen von Pflegediensten und -einrichtungen darzustellen. Sie haben damit dem politischen Willen entsprochen, der mit der Reform der Pflegeversicherung durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (PfWG) vorgeschrieben wurde, das am 1. Juli 2008 in Kraft trat. Heute zeigt sich, dass das ein undankbarer Job ist. Denn Politiker(innen) und Medien unterstellen den Verbänden Verzögerungsabsicht und Transparenzverhinderung.
Im § 113 des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) werden zahlreiche Verbände als Akteure der Selbstverwaltung genannt, die Regelungen vereinbaren sollen, wie unter anderem der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe oder die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene. Damit sind die Wohlfahrtsverbände in ihrer Rolle als Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen Vereinbarungspartner und tragen eine wesentliche Verantwortung für die Ergebnisse dieser Aufgabe.
Doch der Gesetzgeber hat im PfWG Fristen festgelegt, die bei der Fülle an Vertragspartnern und Aufgaben nicht einzuhalten waren. Bis zum 31. März 2009 sollten die Vertragspartner unter anderem eine praxistaugliche, den Pflegeprozess unterstützende und die Pflegequalität fördernde Pflegedokumentation erarbeiten. Dabei sollte die Dokumentation nicht über ein für die Pflegeeinrichtungen vertretbares und wirtschaftliches Maß hinausgehen. Weitere Anforderungen an Sachverständige und Prüfinstitutionen nach § 114 Abs. 4 PfWG waren zu formulieren im Hinblick auf ihre Zuverlässigkeit, Unabhängigkeit und Qualifikation sowie auf die methodische Verlässlichkeit von Zertifizierungs- und Prüfverfahren nach § 114 Abs. 4 PfWG, die den jeweils geltenden Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität entsprechen müssen. In § 113a PfWG heißt es außerdem, dass die Vertragsparteien die Entwicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fundierter und fachlich abgestimmter Expertenstandards für die Qualität in der Pflege sicherstellen sollen. Bis zum 30. September 2008 sollten sie eine Schiedsstelle Qualitätssicherung einrichten (§ 113b PfWG) und Kriterien der Veröffentlichung einschließlich einer Bewertungssystematik (§ 115 PfWG) erstellen.
Der Druck war groß
Das Bundesministerium für Gesundheit hatte die dringliche Erwartung an die Verhandlungspartner, dass diese Aufgaben in der vorgesehenen Zeit erledigt werden. Damit wurde der Druck aus der Öffentlichkeit weitergegeben, der schon im Vorfeld der Verhandlungen auch von Politiker(inne)n bewusst genutzt wurde.
In § 114 PfWG „Qualitätsprüfungen“ heißt es „(2) Die Landesverbände der Pflegekassen veranlassen in zugelassenen Pflegeeinrichtungen bis zum 31. Dezember 2010 mindestens einmal und ab dem Jahre 2011 regelmäßig im Abstand von höchstens einem Jahr eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder durch von ihnen bestellte Sachverständige (Regelprüfung) ... Die Regelprüfung erfasst insbesondere wesentliche Aspekte des Pflegezustandes und die Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen (Ergebnisqualität)…“
Die Aufgaben konnten nicht angemessen erfüllt werden
In der Zeit vom 1. Juli bis Mitte September 2009 waren schon in ganz Deutschland die ersten 1057 Pflegeheime nach den Regeln des bis dahin vereinbarten Verfahrens auf ihre Qualität hin geprüft worden. Obwohl im Gesetz zwar nicht die bekannten sozialwissenschaftlichen Gütekriterien für die Verfahren genannt werden, die zu vereinbaren waren und die ab Sommer 2009 genutzt wurden, wird in § 113 PfWG „Zuverlässigkeit“, „Unabhängigkeit“ und „methodische Verlässlichkeit von Zertifizierungs- und Prüfverfahren“ gefordert. Diese Vorgaben meinen das Gleiche wie die sozialwissenschaftlichen Gütekriterien „Objektivität“ und „Reliabilität“. Dass die Prüfverfahren auch das messen sollen, was sie zu messen vorgeben (Validität), wird nicht ausdrücklich genannt, erklärt sich aber von selbst. Ein Hinweis, dass nicht nur die Struktur- und Prozessqualität im Mittelpunkt stehen soll, wird im bereits genannten § 114 PfWG ebenfalls gegeben („Ergebnisqualität“). Dennoch war schon zu Beginn der Verhandlungen klar, dass das Prüfinstrumentarium, das ab Sommer 2009 angewendet wurde, und die Gesamtbewertung, die im Herbst 2009 im Internet veröffentlicht werden sollte, in keiner Weise den sozialwissenschaftlichen Gütekriterien entsprechen.
So ließen die ersten Prüfergebnisse deutlich systematische Fehler erkennen: In Hessen zum Beispiel haben fast alle Prüfungen das Ergebnis „sehr gut“ gebracht. In Nordrhein-Westfalen stellt eine Pflegekasse fest, dass die Ergebnisse nur mittelmäßig wären, man aber bei den durchschnittlich hohen Vergütungen eigentlich sehr gute Ergebnisse hätte erwarten können. Da ein Teil der Fragen nicht mit Indikatoren, die als empirisch feststellbare Merkmale einer Person oder als empirisch wahrnehmbare Merkmale der Situation operationalisiert sind, sondern als Eintragung in eine Dokumentation, wird häufig die Qualität der Dokumentation und nicht die Qualität der Pflegehandlung gemessen. Es wird also mit einigen Indikatoren nicht das gemessen, was man zu messen vorgibt.
Die Verhandlungspartner evaluierten die Ergebnisse
Die Verhandlungspartner haben schon frühzeitig eine Evaluation der ersten Ergebnisse vereinbart. Ende März 2010 wurde ein Auftrag an die Sozialwissenschaftlerinnen Martina Hasseler, Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg, und Karin Wolf-Ostermann, Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin, vergeben.
Doch bei einem Expertenworkshop am 22. März 2010 – kurz nach der Vergabe des Auftrags zur Evaluation – wurden zum Thema „Daten und erste Erfahrungen mit den Pflege-Transparenzvereinbarungen“ von Vertreter(inne)n des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) auf der Grundlage einer noch relativ kleinen Datensammlung sofortige Änderungen am Instrument vorgeschlagen. Nur wenige Tage später übernahm der Spitzenverband Bund der Pflegekassen diese Vorschläge und konfrontierte die anderen Verhandlungspartner mit der Forderung, das Instrumentarium zu verändern.
Politiker liefern sich Schlagabtausch
Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz hatte eine Qualitätsverbesserung und Transparenz der Pflegeleistungen vorgeschrieben. Der Deutsche Caritasverband (DCV) hatte schon bei der ersten Diskussion zu diesem Thema im Jahr 2006 darauf hingewiesen, dass man die Entwicklung der Verfahren für diese Aufgaben einem unabhängigen wissenschaftlichen Institut übertragen sollte. Nachdem sehr schnell erkennbar war, dass dafür in der Politik, aber auch in den anderen Verbänden keine Mehrheit zu finden war, wurde zumindest die Beteiligung der Wohlfahrtsverbände vorgeschlagen. Diesem Vorschlag ist der Gesetzgeber gefolgt. Der DCV war in der Pflicht, sich als Teil der Selbstverwaltung in diesen Prozess einzubringen.
Schon vor den und während der ersten Sitzungen der Verhandlung im Herbst 2008 war im DCV klar, dass die gestellte Aufgabe nicht in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen ist. Alle Versuche, das Prüfverfahren und -instrument an den sozialwissenschaftlichen Gütekriterien zu messen, scheiterten an den zeitlichen Vorgaben. Diese Vorgaben sind im Gesetz festgelegt und können nicht von einer Seite der Vereinbarungspartner verändert werden.
Auch die Begleitung der Entwicklung aus der Politik war nicht dazu geeignet, die Aufgaben mit größerer handwerklicher Sorgfalt und wissenschaftlich-methodischer Umsicht zu erledigen. Bei Interventionen aus der Politik wurden häufig die Wohlfahrtsverbände als bloße „Transparenzverhinderer“ in Misskredit gebracht.
Zuletzt wurde die Verhandlungslage mit einem politischen Schlagabtausch – in Form von Pressemeldungen – kommentiert: Die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer verlangte zum Beispiel den sofortigen Stopp des Bewertungssystems. Sie forderte Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler in der „Süddeutschen Zeitung“ auf, „dieses Trauerspiel zu beenden“. Die Trägerverbände und Pflegekassen hätten bei der Ausgestaltung des Pflege-TÜVs harte Prüfungen verhindert und ein Negativbeispiel für perfekte Lobbyarbeit geleistet.1 Der Bundesgesundheitsminister reagierte prompt: Er wies die Forderungen zurück.
Am 21. April 2010 wurde die Bundestagsdrucksache 17/1427 bekannt, in der der Antrag der Bundestagsfraktion der SPD unter der Überschrift „Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln – Pflege-Transparenzkriterien optimieren“ veröffentlicht wurde. Nach Abschnitt II soll der Bundestag der Auffassung sein, „dass die Pflegetransparenzvereinbarungen im Grundsatz geeignet sind, um Qualität und Qualitätsunterschiede abzubilden und Leistungen der Pflegeeinrichtungen darzustellen“. Zudem soll der Bundestag die Bundesregierung auffordern, „darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarungspartner möglichst zeitnah Änderungen in den Pflege-Transparenzvereinbarungen treffen und umsetzen, …“ Dazu gehöre „eine Modifikation der Stichproben, damit nachvollziehbare personenbezogene Kriterien geprüft und abgebildet werden können … Mängel bei den personenbezogenen Kriterien müssen im Bewertungssystem eindeutig gewichtet werden, damit sie klar in der Endnote erkennbar werden.“ In dieser Forderung an die Bundesregierung wird erkennbar, dass die SPD-Bundestagsfraktion ohne Abstriche die Auffassung eines der Verhandlungspartner nach § 113 PfWG übernimmt, nämlich die des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen. Leider hat sich damit eine Bundestagsfraktion offensichtlich ohne umfassende vorherige Information auf die Seite eines Vereinbarungspartners gestellt. Aktuell kann man jedoch behaupten, dass die Anfrage im Bundestag keine Auswirkungen auf die weiteren Verhandlungen hatte.
Die Evaluation muss abgewartet werden
Mit den 82 Prüffragen für die stationäre und 49 für die ambulante Leistungserbringung sowie den Anleitungen liegt zum ersten Mal ein Instrumentarium vor, mit dem fachlich begründet eine umfassende Messung der Pflegequalität möglich wird. Es steht die Voraussetzung für ein Verfahren zur Verfügung, durch das Transparenz und Vergleichbarkeit im Sinne der Verbraucherinformation zu erwarten ist. Wie bei jeder Konstruktion eines Prüfinstruments können jedoch die sozialwissenschaftlichen Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität) erst nach einer praktischen Durchführung und nach einer ersten Erfassung ausreichender Datensätze getestet werden.
So gesehen sind die derzeitigen Prüfungsergebnisse im empirisch-wissenschaftlichen Sinn die Ergebnisse eines Feldversuches: Wenn die Ergebnisse den Vorurteilen und Erwartungen entsprechen, wird ihr Zustandekommen als objektiv betrachtet und das Verfahren und das Instrument werden akzeptiert. Sind die Ergebnisse – je nach Interessenlage – zu gut oder zu schlecht, werden die hier ausführlich erläuterten Mängel in den Vordergrund gestellt.2 Erst eine statistisch gesicherte Auswertungen der jetzt vor- handenen Datensätze und eine sogenannte Itemanalyse werden die Erkenntnisse bringen, die für eine Korrektur erforderlich sind. Einer Änderung des Verfahrens aufgrund politisch motivierter Interessenlage und ohne wissenschaftliche Basis kann der DCV nicht zustimmen.
Eine sozialwissenschaftliche Evaluation ist in Auftrag gegeben. Leider sind aber auch hier die zeitlichen Vorgaben zu eng: Das eingereichte Angebot, das den Zuschlag bekommen hat, und ein erstes Gespräch mit den Sozialwissenschaftlerinnen zeigen, dass eine sogenannte Itemanalyse mit randomisierten Wiederholungsmessungen innerhalb von vier Monaten nicht möglich sein wird. Falls sich diese Prognose bestätigt, müssen die Wohlfahrtsverbände über ihre Rolle als Teil der Selbstverwaltung hinaus tätig werden. Sie sollten sich nicht weiterhin in die Verantwortung nehmen lassen für eine Entwicklung, die weder die Transparenz für die Verbraucher(innen) erhöht noch den Diensten und Einrichtungen hilft, ihre Qualität im Sinn einer Lebensqualität für den pflegebedürftigen Menschen zu erhöhen.
Um konkret tätig zu werden, muss man die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation abwarten. Abhängig davon ist politisch dafür zu sorgen, dass zumindest das Prüfverfahren, mit dem Transparenz für den Verbraucher hergestellt werden soll, für mindestens ein halbes Jahr ausgesetzt wird. In dieser Zeit muss zur qualifizierten Überprüfung und Weiterentwicklung ein renommiertes sozialwissen- schaftliches Institut beauftragt werden. Nur so kann die Güte der Prüfergebnisse geprüft und verbessert sowie das Vertrauen in das Verfahren hergestellt werden.
Anmerkungen
1. www.sueddeutsche.de/politik/gesundheitspolitik-csu-pflege-tuev-ist-totgeburt-1.72677
2. Vgl. Frank, Charlotte: Groteske Ergebnisse beim Pflege-TÜV – Noten für Heime. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Oktober 2009.