Nicht jedes Teetrinken mit Muslimen ist bereits Dialog
In einer religiös und kulturell vielfältigen Gesellschaft führt kein Weg an einem Dialog vorbei. Diese Auffassung trifft in der Gesellschaft auf Zustimmung und Widerspruch. Die katholische Kirche hat sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf den Weg des Dialoges begeben, zu dem sie keine vernünftige Alternative sieht. Wer innerhalb einer pluralen Gesellschaft den Frieden fördern möchte, muss den Dialog der Religionen und Kulturen stärken.
Die Gegner des Dialogs in der Gesellschaft und innerhalb der Kirche variieren immer wieder die eine Aussage: Der Dialog schwächt die eigene Position, er verrät die eigene Überzeugung und stärkt den „Feind“. Wer den Dialog führt, verrate die Wahrheit und ebne den Weg zu einem zerstörerischen Relativismus oder beschädige gar die demokratische Grundordnung.1 Besonders der Dialog mit Muslimen wird angefeindet. Innerkirchlich argumentieren die Gegner eines interreligiösen Dialogs, die Kirche habe den Auftrag zur Mission, nicht zum Dialog. Nach ihrer Ansicht benötigt derjenige, der in der Wahrheit steht, keinen Dialog. Wer den interreligiösen Dialog betreibt, habe die Wahrheit bereits aufgegeben oder relativiert.
Jeder, der sich auf den Weg des Dialogs begibt, muss mit Kritik, ja auch mit Diffamierung rechnen. Der interreligiöse und der interkulturelle Dialog erfordern auch einen Dialog über den Dialog, über seine Bedeutung, seine Grundlagen und seine Methoden.
Begegnung, die verlässlich und kontinuierlich ist
Nicht jedes Teetrinken mit Muslim(inn)en und nicht jeder Besuch einer Synagoge ist bereits Dialog. Interreligiöser Dialog ist die von Verlässlichkeit und Kontinuität getragene Begegnung und der Austausch von Menschen unterschiedlicher religiöser Beheimatung. Interkultureller Dialog ist der Austausch und die Begegnung von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft und Verwurzelung. Mit Blick auf die christlich-islamischen Beziehungen in Deutschland erweist sich, dass oftmals der religiös andere auch der kulturell andere ist. Auch wenn eine Grenze zwischen Kultur und Religion nicht eindeutig zu bestimmen ist, dürfen Religion und Kultur nicht gleichgesetzt werden. Viele öffentliche Debatten über interkulturelle und interreligiöse Themen leiden darunter, dass Identität, Kulturalität und Religion nicht unterschieden werden, die Bezeichnungen „Türke“ und „Muslim“ werden folglich austauschbar.
Der Dialog selbst ist ein vielschichtiges Geschehen, das auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist. Das vatikanische Dokument „Dialog und Verkündigung“ unterscheidet vier Arten und Ebenen des Dialoges: den Dialog des Lebens, den Dialog des Handelns, den Dialog des theologischen Austauschs, den Dialog der religiösen Erfahrung.2
Die Zukunft der Städte ist multiethnisch
Deutschland hat sich zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft entwickelt. Dieser Einsicht kann sich niemand mehr verschließen, ob er diese Entwicklung begrüßt oder bedauert. Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft und religiöser Beheimatung leben in Deutschland Tür an Tür. Zwar gibt es Orte und Landstriche in Deutschland, die weniger von der Multikulturalität und Multireligiosität betroffen sind als andere, doch es besteht kein Zweifel, die Gegenwart und Zukunft der Städte ist multiethnisch und interkulturell. Wer einen Blick in viele Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser wirft, wird mit der veränderten Situation und ihren Herausforderungen konfrontiert. Jeder, der mit dieser Situation verantwortlich umgehen will, benötigt hierzu Kompetenzen. Menschen mit interreligiöser und interkultureller Kompetenz werden Schritte auf dem Weg der Integration initiieren, begleiten und fördern können.
Kompetenz beinhaltet mehr als „Handwerkszeug“ im Umgang mit multireligiös und multikulturell zusammengesetzten Gruppen. Sie umfasst eine Haltungs-, Wissens- und Handlungskompetenz. Aus dem Zusammenspiel dieser Fähigkeiten speist sich die dialogische Kompetenz. Zur Wissenskompetenz gehören Grundkenntnisse über Religionen. Wer Menschen in ihren religiösen Bezügen verstehen möchte, wird sich mit dem, was ihnen heilig ist, befassen müssen. Was ist die Glaubensmitte der jeweiligen Religion? Welche zentralen Feste werden in den jeweiligen Religionen gefeiert? Welche Riten, Gebote und Verbote prägen den Alltag?
Die Handlungskompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Anwendung des Wissens auf konkrete Situationen und in konkreten Handlungsfeldern wie Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäuser, aber auch in der Arbeit mit Gruppen – zum Beispiel Frauenarbeit, Jugendarbeit, Arbeit mit Migrant(inn)en wie auch in der Beratung – zum Beispiel Erziehungs-, Ehe und Familienberatung, Schwangerschaftsberatung.
Bei der Haltungskompetenz steht die innere Einstellung und die eigene Haltung gegenüber anderen im Vordergrund, denn diese sind entscheidend für die Sichtweise und den Umgang mit ihnen. Eine Haltungskompetenz befähigt, die eigene Haltung gegenüber dem anderen zu überprüfen und zu reflektieren.
Klarheit über die eigene Glaubensidentität
Besonders ist interreligiöse Kompetenz gefragt in der Bildung der eigenen Identität im „Angesicht des anderen“, nicht in „Konfrontation mit dem anderen“, sondern in respektvoller Anerkennung der Differenz.
In Deutschland läuft seit einigen Jahren ein von den drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam initiiertes und getragenes interreligiöses Projekt mit dem Titel: „Weißt Du, wer ich bin?“3 Wer diese Frage im interkulturellen und interreligiösen Dialog provoziert, muss in der Lage sein, darauf eine Antwort zu geben. In religiös homogenen Gruppen wird die eigene Glaubensidentität meist nicht infrage gestellt, anders in interreligiösen Zusammenhängen. Dies gilt auch für die kulturelle Identität. Eine Muslima stellte einmal die Frage: „Wohin soll ich mich integrieren? Was macht die westliche Gesellschaft aus? Ist es die Bierzelt-Kultur? Ist es die Kultur von Sex and Drugs and Rock’n Roll? Ist es die Kultur der Richard-Wagner-Festspiele von Bayreuth?“ Im interkulturellen Dialog muss eine Antwort gegeben werden, was denn die „Kultur der Freiheit“4 ausmacht und wie sie gelebt wird.
Der Dialog muss verortet sein
Die Identität eines Menschen bildet sich aus unterschiedlichen Gegebenheiten, Vorgaben und Erfahrungen. Geschichte, Kultur, Religion, Erziehung, persönliche Biografie und Erfahrungen sind konstitutiv für die eigene Identität. Identität muss als eine komplexe, keineswegs statische Größe angesehen werden. In modernen Gesellschaften entwickelt sich die eigene Identität immer im Angesicht des anderen, und das sind heute die kulturell und religiös anderen. Die Begegnungen und der Dialog sind Orte, an denen sich eine Identität herausbildet und eine Selbstvergewisserung des Eigenen erfolgt. Was glaubst denn du? Was ist dir in deinem Leben heilig? Welche Werte möchtest du in der Erziehung weitergeben? Dies sind Fragen, die im interkulturellen und interreligiösen Dialog gestellt werden und eine Antwort verlangen.
Dialoge finden immer in konkreten Kontexten statt. Aktuelle Entwicklungen bestimmen den Dialog mit, wie der Streit um die Mohammed-Karikaturen oder die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. zeigen. Dialoge sind nicht zeitlos. Doch nicht nur die geschichtlichen und politischen Kontexte sind für den Dialog wichtig, sondern auch seine Einbindung und Implementierung vor Ort. Die Dialoge, die in Akademien stattfinden, sind sicherlich hilfreich und wichtig. Sie fassen Themen meist grundsätzlich an, reflektieren sie auf akademisch-wissenschaftlicher Ebene und können wichtige Impulse geben. Aber entscheidend für ein friedliches Zusammenleben wird sein, ob ein Transfer dieser Diskurse für die Basis fruchtbar wird. Wichtig sind die Dialoge, die im Stadtviertel, im Kontext von Kindergärten und Schulen stattfinden oder eben auch nicht stattfinden.5 Eine wichtige Aufgabe für die Zukunft wird es sein, Pädagog(inn)en auszubilden, die bereits Kindergärten und Schulen zu Orten interkulturellen und interreligiösen Lernens gestalten können.
Ein weiterer wichtiger Ort interkulturellen und interreligiösen Lernens wird der Bereich der sozialen Arbeit sein. Hier sind Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft und religiöser Beheimatung aufgefordert, sich zu engagieren und ihren Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft einzubringen. Diese gemeinsame Übernahme von Verantwortung wird als „Dialog des Handelns“ verstanden. Wenn Integration Partizipation bedeutet, wird es zukünftig eine Aufgabe sein, im caritativen und diakonischen Bereich Projekte zu initiieren, in denen Partizipation eingeübt und Gesellschaft gestaltet wird.
Ein Ziel sollte es sein, Menschen mit Migrationsgeschichte, die vielleicht selbst Besucher von Integrationskursen waren, zur Mitarbeit zu gewinnen. An den Orten, an denen Migrant(inn)en in die soziale Arbeit eingebunden sind, wurden ermutigende Erfahrungen gemacht.
Eine Streitkultur einüben
Ohne Zweifel ist der Dialog ein wichtiges Lernfeld. Zu diesem Lernen gehört auch das Einüben einer Streitkultur. Interreligiöse und interkulturelle Dialoge können auch Orte des Streitens und der Auseinandersetzung sein. Eine gute dialogische Beziehung erweist sich darin, dass sie Streit verträgt. Nicht der Streit ist im Dialog das Problem, sondern die Diffamierung und Entwürdigung des anderen. Streit gehört zum Dialog, Diffamierung und Verhetzung zerstören beziehungsweise verhindern den Dialog!
Menschen, die sich in dialogische Beziehungen begeben, lernen nicht nur etwas über den anderen und vom anderen, sondern ebenso etwas über sich selbst. Der Dialog verändert den Menschen. Das ist das Risiko, aber vielmehr noch die Chance des Dialogs.
Anmerkungen
1. Aussagen von Necla Kelek sind beispielsweise von einer solchen Haltung geprägt. Die Internetplattform „Politically Incorrect“ erhebt die Ablehnung des Islams und eines Dialogs mit Muslimen zum Prinzip und möchte bewusst die Grenzen der „politischen Korrektheit“ überschreiten.
2. Vgl. Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog/Kongregation für die Evangelisierung der Völker: Dialog und Verkündigung. Überlegungen und Orientierungen zum Interreligiösen Dialog und zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi, 19. Mai 1991, Verlautbarung des Heiligen Stuhls Nr. 102, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 1991.
3. Informationen: www.weisstduwerichbin.de
4. Vgl. Fabio, Udo di: Kultur der Freiheit. München, 2005. In diesem Buch greift di Fabio die Frage nach den Grundlagen des westlichen Wertesystems in einer pluralen Gesellschaft und einer kulturellen Identität der Freiheit auf.
5. Vgl. hierzu die Dokumentation eines gelungenen Beispiels aus Köln-Chorweiler in der Publikation: Georges-Anawati-Stiftung (Hrsg.): Dialog im Leben. Pax-Bank-Preis 2009, Düsseldorf, 2010.