Strafe abgesessen - und wie geht´s weiter?
Über 50 Prozent der zurzeit etwa 75.000 Inhaftierten1 in Deutschland werden nach ihrer Entlassung voraussichtlich früher oder später wieder neue Straftaten begehen2. Ist die Tatsache, dass wahrscheinlich mehr als jeder zweite Haftentlassene rückfällig wird, ein Indiz für deren individuelles Versagen? Oder ist er vielmehr Ausdruck eines Strafvollzugs, der weit davon entfernt ist, seine Resozialisierungsaufgabe wirksam wahrnehmen zu können?
Bei der Verhängung einer Haftstrafe wird billigend in Kauf genommen, dass die sozialen Netzwerke der Betroffenen stark beeinträchtigt beziehungsweise zerstört werden. Das hat Auswirkungen auf den sozialen Nahraum (Familie, Freundes- und Bekanntenkreis), aber auch auf die Erwerbstätigkeit und andere Lebensbereiche.
Aufgabe des Strafvollzugs ist es, mit den Inhaftierten diese biografischen Brüche zu kompensieren. Er soll soziale Lernprozesse initiieren, soziale Netzwerke erhalten beziehungsweise neu erschließen und neue Straffälligkeit vermeiden. All dies sind Aufgaben, an denen der Strafvollzug in der überwiegenden Zahl der Fälle scheitert. Begründet liegt das nicht nur in den schwierigen Arbeitsbedingungen (knappe personelle Ressourcen, hohe psychische und körperliche Belastungen), sondern auch in einer Klientel, die mit multiplen sozialen und psychischen Problemen massiv belastet und deswegen in ihrer Mitwirkungsfähigkeit stark beeinträchtigt ist.
Eine Untersuchung in Bielefeld3 hat ergeben, dass deutlich mehr als 80 Prozent der Inhaftierten im geschlossenen Vollzug psychiatrisch relevant beeinträchtigt sind. Fast 60 Prozent sind akut behandlungsbedürftig. Neben Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen wurden Persönlichkeitsstörungen, posttraumatische Belas- tungsstörungen und anderes mehr diagnostiziert.
Der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung führt aus, dass Inhaftierte daneben eine Vielzahl von Merkmalen sozialer Benachteiligung aufweisen. Sie verfügen über deutlich schlechtere Bildungsvoraussetzungen, sind zu fast 70 Prozent überschuldet und lebten zum Zeitpunkt der Inhaftierung überproportional häufig in ungesicherten Wohnverhältnissen oder waren obdachlos.4 Solche Merkmale sind nicht nur in den Statistiken zu den Lebenslagen Inhaftierter wiederzufinden, sondern gelten in ähnlicher Weise für die Probanden der Bewährungshilfe5 und für die Klient(inn)en der Einrichtungen freier Straffälligenhilfe. Können unter diesen ungünstigen Voraussetzungen Unterstützungssysteme für Inhaftierte so gestaltet werden, dass für mehr Betroffene am Ende ein selbstbestimmtes, selbstverantwortetes und straffreies Leben dabei herauskommt? Welchen Beitrag kann die Straffälligenhilfe von Caritas und Diakonie dazu leisten?
In der sozialen Strafrechtspflege hat seit einiger Zeit der Begriff des Übergangsmanagements Konjunktur. Er findet in unterschiedlichsten sozialen Kontexten immer dann Anwendung, wenn Hilfen geeignet sein sollen, einen Übergang zwischen sozialen Leistungssystemen zu gestalten, zum Beispiel den Übergang zwischen Schule und Beruf, zwischen Krankenhaus und Rehabilitation oder, wie im vorliegenden Fall, zwischen Haft und Nachsorge- beziehungsweise Integrationseinrichtungen.
Tatsächlich ist der Übergang aus der Haft ein neuralgischer Zeitpunkt im Resozialisierungsprozess. Die durchstrukturierten, "korsettierenden" Rahmenbedingungen des vollzuglichen Alltags entfallen und die Betroffenen sind, falls keine soziale Unterstützung bereitsteht, auf sich allein gestellt. Besonders Betroffene mit multiplen Problemen sind in dieser Situation schnell überfordert, resignieren trotz guter Vorsätze und orientieren sich zum Teil zurück in gefährdende Submilieus. Das Rückfallrisiko steigt. Für die soziale Hilfe des Vollzugs sind sie dann nicht mehr, für Nachsorgeeinrichtungen noch nicht zu erreichen.
Die Straffälligenhilfe von Caritas und Diakonie hat aus dem Wissen um diese Dynamik wiederholt für ganzheitliche und durchgängig angelegte Hilfeprozesse plädiert.6 Sie hat darauf hingewiesen, wie notwendig eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Straffälligenhilfe vor, während und nach der Haft ist - unabhängig von Verfahrens- und Vollstreckungsschritten.
Dieser lebenslagenorientierte Ansatz findet sich nun in den Grundlagen der verschiedenen Konzepte des Übergangsmanagements wieder.7 Resozialisierung wird dort nicht mehr als zeitlich befristete und zuständigkeitsabhängige Aufgabe eines Fachdienstes einer Institution begriffen, sondern als komplexe Aufgabe kooperierender Dienste. Ziel ist es, im gemeinsamen Planen und Handeln für eine nachhaltige Integration Haftentlassener zu sorgen. Die Integrationsplanung beginnt frühzeitig vor der Entlassung. Sie endet nicht an der Gefängnistür, sondern wirkt darüber hinaus. Sie bindet die ambulanten Dienste der Justiz genauso ein wie Einrichtungen der Straffälligenhilfe oder Dritte. Die Integrationsplanung endet idealerweise erst dann, wenn der Integrationsprozess erfolgreich abgeschlossen ist.
Im Netzwerk funktioniert es
Übergangsmanagement ist kein bloßes Fall-, sondern ein umfängliches Feld- und Netzwerkmanagement. So ist beispielsweise die Vermittlung Strafentlassener in Arbeit aufgrund verbreiteter Vorbehalte gegen diese Gruppe erfahrungsgemäß schwierig. Managementaufgabe ist es daher, Arbeitgeber für eine Kooperation zu gewinnen, zu betreuen und bei Problemen für eine Konfliktregulierung zur Verfügung zu stehen. In ähnlicher Weise sind die Schnittstellen zum sozialen Arbeitsmarkt, zu Arbeitsagenturen, den Argen und zu kooperierenden Bildungs- und Qualifizierungsträgern zu gestalten.
Einrichtungen der Straffälligenhilfe können in solche Hilfenetze als flankierende Einrichtungen genauso eingebunden sein, wie zum Beispiel Sucht- oder Schuldnerberatungsstellen. Sie können aber auch als Nachsorgestellen fungieren und im Einzelfall, betraut mit der zentralen Fallverantwortung, den Integrationsprozess steuern.
Eine wichtige Aufgabe der Straffälligenhilfe kann über das arbeitsmarktbezogene Feldmanagement hinaus darin bestehen, die Entwicklung örtlicher oder regionaler Hilfenetzwerke zu initiieren. Staatliche und freie Hilfesysteme sind vielerorts nicht auf die besonderen Belange Straffälliger und Haftentlassener eingestellt. Auch in Regionen mit hoher Haftplatzdichte existieren zum Teil noch immer keine ausreichend spezialisierten Hilfestrukturen. Besonders die Schnittstelle zu den örtlichen Argen scheint wenig entwickelt. Aber auch komplementäre soziale und sozialpsychiatrische Versorgungssysteme werden erst nach und nach auf Inhaftierte und Haftentlassene aufmerksam und stellen sich auf deren besondere Lebenslagen ein. Einrichtungen der Straffälligenhilfe können hier eine wichtige Schnittstellen- und Clearingfunktion übernehmen.
Wie Resozialisierung in NRW gelingt
Integrierte Ansätze der Resozialisierung finden sich inzwischen in einer Reihe von Bundesländern, unter anderem in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) konnten bisher die fundiertesten praktischen Erfahrungen gesammelt werden.8
Als Schlüssel für eine erfolgreiche Reintegration werden dort "marktgerechte" Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen angesehen, die die Insassen während der Haft absolvieren. Denn das Rückfallrisiko sinkt deutlich, wenn die Menschen eine Arbeit haben. Flankiert werden diese Maßnahmen unter anderem durch Bewerbungstrainings, das Training sozialer Kompetenzen und weitere soziale Hilfen.
Nach der Haftentlassung setzen Nachsorgestellen die bereits während der Haft begonnene Vorbereitungs- und Vermittlungsarbeit fort. "Marktgerecht" zu agieren bedeutet, die Qualifizierung und Vermittlungsbemühungen so zu gestalten, dass die Inhaftierten mit ihren zum Teil mangelhaften Bildungsvoraussetzungen deutlich verbesserte Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt erwerben. Diesen gilt es, für eine problematische Zielgruppe zu sensibilisieren und zu aktivieren.
In NRW gelingt das Übergangsmanagement im Netzwerk. Im Verlauf der unterschiedlichen Projektphasen konnten die jährlichen Teilnehmerzahlen seit 1998 kontinuierlich gesteigert werden. Sie beliefen sich im Jahr 2008 auf über 6600 Teilnehmende. Die Vermittlungsrate in Ausbildung, Arbeit und Beschäftigung liegt kumuliert kontinuierlich zwischen 45 und 50 Prozent. Vermittlungen in gemeinsamer Verantwortung von Netzwerkpartnern sind gegenüber einseitig veranlassten deutlich erfolgreicher. Auch die Qualität der Nachsorge durch miteinander vernetzte externe Partner ist in ihrer Wirkung nachweisbar besser als durch Einzelmaßnahmen. Entsteht mit dem integrierten Übergangsmanagement ein neuer Königsweg zu einer erfolgreicheren Reintegration Inhaftierter? Die in NRW gemachten Erfahrungen sprechen dafür. Die Rahmenbedingungen, unter denen die Arbeit gestaltet wird, sind allerdings verbesserungsbedürftig.
Einstweilen macht es Mut, dass die Initiative für das Übergangsmanagement aus den Justizverwaltungen der Länder und aus dem Vollzug selber kommt. Vorausgegangen ist der offenbare Erkenntnisgewinn, dass die Phase der Haft isoliert betrachtet wohl die geringsten Chancen für die Initiierung und Umsetzung wirksamer Hilfe- und Integrationsprozesse bietet. Die begrenzten Ressourcen des Vollzugs verhindern ein Übriges und machen eine konsequente Verzahnung mit den Hilfesystemen "draußen" absolut notwendig.
Diese Verzahnung strukturell abzusichern und auszustatten, stellt die Justiz und ihre Partner allerdings vor einige Probleme. Der Vollzug ist zunächst für alle Belange der sozialen Versorgung der Inhaftierten zuständig. Sozialgesetzliche Ansprüche können von den Gefangenen (von Ausnahmen abgesehen) erst wieder nach der Haftentlassung geltend gemacht werden. Leistungen - auch die Dritter - müssen also über Mittel der Justiz finanziert oder kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.
Es braucht bessere Rahmenbedingungen
Gelöst wird dieses Problem in einigen Ländern dadurch, dass haftbegleitende und nachsorgende externe Hilfen im Rahmen freiwilliger Leistungen bezuschusst werden. Diese Zuschüsse sind in Zeiten wirtschaftlicher Sparzwänge aber immer wieder von Deckelung bedroht. Mehr Planungssicherheit für die Straffälligenhilfe zu erlangen oder strategische Wachstumspotenziale zu erschließen, ist unter diesen Bedingungen aufwendig und zu häufig nicht realisierbar.
Im unter Integrationsgesichtspunkten strategisch interessanten Bereich der Nutzbarmachung der öffentlichen Arbeits- und Beschäftigungsförderung für Inhaftierte ist eine sozialgesetzliche Bezuschussung zudem weitgehend ausgeschlossen.
Auch wenn der Bedarf der Zielgruppe auf der Hand liegt und die hohe Wirksamkeit des Übergangsmanagements unstrittig ist, werden die Arbeitsverwaltungen eine Kostenübernahme für einen Inhaftierten zu Recht verweigern, weil eine gesetzliche Leistungsverpflichtung fehlt.
IN NRW ist es mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) gelungen, diese Versorgungslücke zu kompensieren, eine bedarfsgerechtere Infrastruktur auszubauen und deren Nutzen nachzuweisen. Diese Förderungen sind allerdings regelmäßig zeitlich befristet. Das Land fördert nach Ablauf der Projektphase glücklicherweise freiwillig weiter und hat die Angebotsstruktur sogar erweitert.
Ein flächendeckender Ausbau des Übergangsmanagements ist aber davon abhängig, ob die beteiligten politischen Ressorts, die Justizverwaltungen und ihre wohlfahrtsverbandlichen Partner in den Ländern einen gemeinsamen Gestaltungswillen entwickeln. Gefördert werden kann dies unter anderem durch die Bereitschaft der Verbände, in Hilfenetzwerken im Sinne eines integrierten Übergangsmanagements mitzuwirken und hierfür personelle Ressourcen bereitzustellen. Die Justiz muss ihrerseits die strukturellen Voraussetzungen schaffen und sich verlässlich an der Refinanzierung beteiligen. Eine entsprechende politische Willensbildung ist natürlich Grundvoraussetzung.
Zu prüfen ist zudem, wie das sozialgesetzliche Leistungsspektrum (SGB II und III) auf eine zeitlich umrissene Phase der Entlassungsvorbereitung während der Haft ausgedehnt werden kann. So könnte der Übergang aus der Haft in die Freiheit auch strukturell durchgängig gestaltet und abgesichert werden. Hier ist die Bundespolitik gefordert.
Die Straffälligenhilfe von Caritas und Diakonie ist gewohnt, ihre Angebote unter schwierigen Rahmenbedingungen zu gestalten. Sie geht in ihrem anwaltlichen Engagement für straffällige Menschen und deren Angehörige davon aus, dass es besonders die Übergänge zwischen Lebens- und strafrechtlichen Verfahrensphasen sind, die risikobehaftet sind und flankiert werden müssen. Das von der Justiz initiierte Übergangsmanagement basiert auf einer vergleichbaren Grundidee. Caritas und Diakonie wollen umfassende Teilhabe verwirklichen, die Justiz soll resozialisieren und kriminalpräventiv wirken. Diese Motive stehen in keinem grundlegenden Widerspruch. Sie fordern heraus, im Sinne der Betroffenen gemeinsam zu gestalten.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt: Justiz auf einen Blick. Wiesbaden, 2008.
2. Jehle, Jörn-Martin u.a.: Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Berlin, 2003.
3. von Schönfeld, Carl-Ernst: Mitgefangen - Mitgehangen : Psychisch Kranke im Strafvollzug. Dokumentation des Fachtages "Zwischen Teufel und tiefem Meer" der Ev. Konferenz für Straffälligenhilfe. Hannover, 2008.
4. Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
5. Engels, Dietrich; Martin, Miriam: Typische Lebenslagen und typischer Unterstützungsbedarf von Klientinnen und Klienten der Bewährungshilfe. Berlin, 2002.
6. Ev. Konferenz für Straffälligenhilfe, Kath. Bundes-Arbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe: Orientierungsrahmen zur Zusammenarbeit mit dem Justizvollzug. Stuttgart, Düsseldorf, 1998.
7. Grosser, Rudolf: InStar - Integrale Straffälligenarbeit. Durchgehende Interventionsgestaltung des Justizvollzuges mit den sozialen Diensten der Justiz in Mecklenburg-Vorpommern. Frankfurt am Main, 2008. Matt, Eduard: Integrationsplanung und Übergangsmanagement. In: Forum Strafvollzug, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Heft 1/2007, Bremen.
8. Wirth, Wolfgang: Übergangsmanagement - Elemente und Erfolgsbedingungen. Unveröffentlichte Präsentation im Rahmen des Fachtages "Früh genug ist nie zu spät" der Ev. Konferenz für Straffälligenhilfe. Kassel, 2009.