Sprachentwicklung und Elternkompetenz im "Rucksack"
Die Studie "Ungenutzte Potenziale - Zur Lage der Integration in Deutschland", vom Berlin-Institut in Auftrag gegeben, beschäftigt sich auch mit der Integrationsbedeutung ausreichender Sprachkenntnisse. Sie plädiert dafür, "dass sich Migranten und Einheimische schon im Kindergartenalter auf gleicher Augenhöhe begegnen"1. Dieses Anliegen greift die Caritas Bodensee-Oberschwaben seit sechs Jahren mit Erfolg in ihrem regionalen Rucksack-Projekt auf. Die Idee des "Rucksacks voller Spracherwerbs-Möglichkeiten" stammt aus den Niederlanden. Als Elternbildungs- und Sprachförderprogramm für Familien mit Migrationshintergrund wird sie dort seit vielen Jahren erfolgreich umgesetzt.
Die Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA)2 in Nordrhein-Westfalen hat das Programm für die hiesigen Bedingungen im Elementarbereich weiterentwickelt.
Das bereits in 79 Kommunen3 geförderte Rucksackprogramm wird geeigneten Trägern zur Verfügung gestellt, die sich vertraglich zur Einhaltung der von der RAA festgelegten Qualitätsstandards verpflichten, so auch die Caritas Bodensee-Oberschwaben: Seit 2003 sind in ihrem Rucksackprojekt 13 Müttergruppen in der Region entstanden.
Aktivierendes Projekt
Die Kinder werden zu Hause von ihren Eltern mit Hilfe vorgegebenen muttersprachlichen Materials in ihrer Familiensprache gefördert. Dasselbe Material wird dem Kindergarten auf Deutsch zur Verfügung gestellt. Es werden Themen wie "Der Körper", "Frühling" oder "Im Kindergarten" mit den Kindern erarbeitet. Durch die gleichzeitige Behandlung eines Themas im Kindergarten und zu Hause wird der sprachfördernde Aspekt enorm verstärkt. Die Eltern lernen durch das Projekt, dass sie für die Entwicklung ihres Kindes mitverantwortlich sind. Als Migrant(inn)en nehmen sie am Kindergartenleben aktiver teil und bringen sich durch Dolmetscherdienste und Vorlesestunden ein.
Ein wesentlicher Teil des Rucksack-Projekts sind die Müttergruppen, in denen sich die Mütter mit gleicher Muttersprache wöchentlich treffen.4 Dort werden sie als Expertinnen für das Erlernen der Erstsprache angesprochen und in ihren Erziehungskompetenzen weiter geschult. Jede Gruppe wird von einer dafür ausgebildeten "Stadtteilmutter" begleitet, die sowohl gut Deutsch als auch die jeweilige Muttersprache der Gruppe spricht. Durch die wöchentliche Anleitung und mit Hilfe von Arbeitsmaterialien werden die Mütter auf die Förderung der Muttersprache (Erstsprache ihrer Kinder) vorbereitet. In den Treffen erhalten die beteiligten Mütter das Material zum Wochenthema und legen gemeinsam Aktivitäten fest, die sie in der Woche zusammen mit ihren Kindern durchführen wollen. Während dieser Treffen lernen sie den Wert von Literatur, Bilderbüchern, Liedern, den Wert des Spielens und Malens sowie der Verbindung von Sprache und Handeln für die Entwicklung ihres Kindes in der täglichen Beschäftigung kennen.
Thematische Vertiefung bringt Anknüpfungspunkte
Themenfelder - die immer auch Erziehungsthemen beinhalten - werden über drei Wochen behandelt. So bietet die Übungseinheit "Bewegung" Anlass, über die wichtige Funktion von Bewegungsaktivitäten - wie Klettern, Rollerfahren, Hüpfen, Schwimmen - für den Reifungs- und Entwicklungsprozess des Kindes zu informieren. Ebenso lässt sich über den Zusammenhang von Bewegung und Sprache reden, oder Angebote von Sportvereinen sind zu vermitteln. Wegen dieser Vielfältigkeit sind die Müttertreffen bei den beteiligten Müttern besonders geschätzt und werden als Bereicherung erlebt.
Stadtteilmütter und Rucksackmütter betonen, dass sich in den Gruppen im Lauf der Zeit ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Vertrauens entwickelt. Dies macht es möglich, zunehmend persönliche Fragen und Schwierigkeiten zu besprechen, zum Beispiel Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, Erziehungsprobleme in der Familie oder Unsicherheiten gegenüber Behörden. Die Stadtteilmütter können die Probleme aufgreifen, mit der Gruppe nach Lösungsmöglichkeiten suchen oder an die Fachdienste der Caritas verweisen. Gerade auch in diesen Situationen zeigt sich, dass es wichtig ist, die Stadtteilmütter kontinuierlich zu begleiten und zu schulen. So werden sie zu wichtigen Multiplikatorinnen.
Positive Rückwirkungen auf die Kita-Arbeit
In der Kindertagesstätte werden die Themenfelder - parallel zur familiären Beschäftigung damit in der Erstsprache - mit den Kindern auf Deutsch erarbeitet; dadurch entsteht ein mehrfacher Synergieeffekt. Die Kinder können am Geschehen im Kindergarten aktiv teilnehmen, weil sie durch die Beschäftigung zu Hause schon wissen, um was es geht. So fällt es ihnen leichter, den deutschen Wortschatz zu erweitern und abzuspeichern.
Die Eltern sind informiert darüber, was in der Kindertagesstätte gerade zum Thema gemacht wird. Sie können ihre Kinder aktiv begleiten und unterstützen. Die Eltern werden dadurch immer mehr mit der Arbeitsweise der Kita vertraut, und die Beziehung zu den Erzieherinnen verbessert sich.
Gelingende Zweisprachigkeit fördern
Die Kita profitiert daneben von der Arbeit der Stadtteilmutter. Kann diese doch beim Elternabend oder beim Elterngespräch als Übersetzerin hilfreich sein und oft auch Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, die auf rein kulturellen Unterschieden beruhen. Sie unterstützt die Elternarbeit der Kita und verhilft zu einem besseren Vertrauensverhältnis.
Gerade deshalb wollen die bisher beteiligten Einrichtungen trotz zusätzlichen Arbeitsaufwands das Programm auch weiterhin nutzen. Es stärkt nicht nur die Sprachentwicklung der Kinder, sondern erleichtert die Zusammenarbeit mit den Eltern, da es ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung fördert und eine interkulturelle Öffnung der Kita bewirkt.
Nach wie vor sind viele Eltern unsicher, in welcher Sprache sie zu Hause mit dem Kind kommunizieren sollen. Viele geben statt ihrer Muttersprache einem fehlerhaften Deutsch den Vorzug, weil sie fälschlich davon ausgehen, dies fördere die Deutschkenntnisse des Kindes. Andere haben die Vorstellung, dass allein der Kindergarten für den Zweitsprachenerwerb sorgen müsse, während sie selbst nichts zur Sprachentwicklung beitragen könnten. Die Rucksackmütter sind erleichtert über die Klarstellung, dass sie zu Hause die Muttersprache pflegen sollten. Es erfüllt sie mit Stolz, dass ihre muttersprachlichen Fähigkeiten als Kompetenz gesehen werden und dass sie aktiv etwas für die Sprachentwicklung der Kinder tun können. Durch das Rucksackprojekt lernen sie, dass Zweisprachigkeit kein Defizit ist, sondern eine besondere Chance und Bereicherung für die Kinder sein kann.
Bessere Chancen vom Schuleintritt an
Das Projekt fördert bei den Kindern gezielt Fähigkeiten, die für die Schule hilfreich sind. Mit Hilfe der Aufgaben zu Hause wird der sichere Umgang mit der Schere, mit Stiften und Klebstoff geübt. Die Übungen bieten Gelegenheit, die Konzentrationsfähigkeit der Kinder zu schulen und die Mütter darüber aufzuklären, wie entscheidend solche Aktivitäten - und das Vorlesen als festes Alltagsritual - zu einem gelingenden Start in der Schule beitragen. Die Kinder machen die Aufgaben gern und genießen die Extra-Zeit mit der Mutter.
Dabei ist die Wichtigkeit der pädagogischen Themen nicht zu unterschätzen, die in den Gruppen besprochen werden. Führt beispielsweise eine anhaltende Diskussion und Aufklärung über die Gefahren übertriebener Mediennutzung dazu, dass Eltern die Fernsehzeiten ihrer Kinder reflektieren und einschränken, haben sie vorsorgend viel zu einer gelingenden Schullaufbahn beigetragen.
Durch das Rucksackprojekt machen viele Migranten-Mütter die Erfahrung, dass sie willkommen bei uns sind - egal ob mit oder ohne Kopftuch, egal ob mit oder ohne sicheres Deutsch. Mit dem Vertrauen wächst das Interesse, und nicht wenige Mütter haben selbst einen Sprachkurs in Deutsch begonnen. So trägt dieses Projekt auf vielen Ebenen zu gelingender Integration bei.
Anmerkungen
1. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.): Ungenutzte Potenziale : Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin, Januar 2009, S. 85. Download der Studie: www.berlin-institut.org/studien/ungenutzte-potenziale.html
2. www.raa.de
3. Diese Zahl aus dem Jahr 2oo7 nennt der RAA-Bericht "Rucksack und Griffbereit werden bundesweit disseminiert", Download: www.rucksack-griffbereit.raa.de
4. Väter nehmen bislang aus Berufsgründen nicht an den meist vormittäglichen Treffen der Gruppen teil. Diese organisieren aber zum Teil Väteraktionen an Wochenenden