Menschen mit Behinderung nach ihrer Zufriedenheit gefragt
"Mittelfristig wäre auch eine direkte Befragung der Menschen mit Behinderung, mit einem angepassten Untersuchungsdesign, denkbar und sinnvoll." Mit diesem Ausblick endete mein Artikel in der neuen caritas Heft 8/2007, S. 22 ff., der über ein Projekt zur Angehörigenbefragung in der Behindertenhilfe berichtete. Im Jahr 2008 hat der Caritasverband Hochrhein diesen Gedanken, im Sinne der selbstbestimmten Teilhabe die Menschen mit Behinderung unmittelbar um ihre Meinung zu bitten, in ein konkretes Projekt überführt. Der Verband hatte schon bei der erwähnten Angehörigenbefragung 2004 das Pilotprojekt übernommen.
Aufgrund der speziellen Einrichtungsstrukturen dieses Trägers wurde der Kreis der zu Befragenden auch auf psychisch erkrankte Menschen ausgedehnt. Sowohl die Menschen mit Behinderung als auch diejenigen mit psychischer Erkrankung waren bislang typischerweise nicht selbst zu ihren Einschätzungen von Zufriedenheit und Lebensqualität befragt worden, sondern in der Regel wurden stellvertretend Meinungen von Angehörigen oder Betreuer(inne)n zur Beurteilung herangezogen.
Da das Projekt ein möglichst repräsentatives Bild über verschiedene Standorte und Einrichtungstypen liefern sollte, wurde eine Vollerhebung durchgeführt. Diese schloss Wohnheime, Werkstätten und ambulant betreute Wohnformen mit ein. Insgesamt waren über die Erhebung rund 600 Menschen angesprochen, von denen schließlich über 450 in einer Gesamtdauer von circa 130 Stunden interviewt wurden.
Interview als passende Erhebungsmethode
In den Vorbesprechungen zum Projekt zeigte sich, dass die in der Angehörigenbefragung angewandte Methode der schriftlichen Erhebung auf die aktuelle Zielgruppe nicht übertragbar war. Deshalb erhielt die aufwendigere, aber auch persönlichere Methode des Interviews den Vorzug. Insgesamt war zu Beginn noch unklar, in welchem Zeitumfang und mit welcher inhaltlichen Differenzierung eine persönliche Befragung möglich sein würde. Zur Klärung des Untersuchungsdesigns wurde daher eine interne Projektgruppe installiert, zusätzlich gab es Hospitationen in verschiedenen Einrichtungen und Bereichen, um eine erste Pilotserie an Interviews vorzubereiten.
Bezüglich der Auswahl der Interviewer(innen) war den Beteiligten der Projektgruppe wichtig, dass diese einerseits mit der Zielgruppe Erfahrung, andererseits aber auch eine professionelle Distanz zu den Einrichtungen und deren Nutzer(innen) hatten. Schließlich entstand ein Interviewerinnenteam aus drei Berufsakademiestudentinnen, die vor Ort ihre Praxisausbildung absolvierten, und einer ehrenamtlich tätigen ehemaligen Mitarbeiterin. Alle vier waren nahe genug an der Zielgruppe und den örtlichen Gegebenheiten, gleichzeitig aber auch ausreichend distanziert, um eine neutrale Haltung in der Interviewdurchführung und -bewertung einzunehmen.
Die Interviewleitfäden für die Bereiche Arbeiten/Werkstätten; Wohnen/Wohnheime und ambulant betreute Wohnformen wurden für das Projekt vollständig neu entwickelt und auf die Zielgruppen sowie die Erhebungsziele des Auftraggebers abgestimmt. Die wichtigsten Anforderungen an die Erhebung zeigt die folgende Auflistung.
a) Methodische Anforderungen
- Die Erhebung soll quantifizierbare Ergebnisse liefern, die auch interne Vergleiche ermöglichen.
- Sie soll Aspekte, die sich nur schwer in geschlossenen Fragen formulieren lassen, qualitativ abbilden können.
- Die Interviewdauer soll zwischen 15 und maximal 25 Minuten liegen.
- Über eine flexible Interviewgestaltung soll Raum für die Individualität der Interviewten und der Interviewsituation gegeben sein.
b) Inhaltliche Schwerpunkte
- Arbeitsinhalte und -umfang des/der Beschäftigten mit Behinderung oder psychischer Erkrankung;
- Zusammenarbeit mit Kolleg(inn)en;
- Achtung von Privatsphäre und Selbstbestimmung;
- Wohnsituation des/der Befragten;
- Kontakt und Betreuung durch das Betreuungspersonal und den Sozialdienst;
- arbeitsbegleitende Angebote;
- Elemente der Lebensqualität und Unterstützungsmöglichkeiten durch den Träger.
Das Erhebungsinstrument wurde schließlich als Kombination aus vordefinierten Aussagen mit Antwortmöglichkeiten sowie aus offenen Rückmeldemöglichkeiten konstruiert. Dabei galt es, ein monotones Abarbeiten der einzelnen Punkte durch den/die Interviewpartner(in) zu vermeiden.
Einschätzungen mittels Schulnoten-Skala
Die Bewertung der von den Befragten abgegebenen Aussagen wurde während des Interviews teils durch die Interviewerinnen vorgenommen, teils durch die Interviewten selbst. Hierbei kam durchgängig das Schulnotenprinzip zur Anwendung, welches sich sehr gut vermitteln ließ: Die anfängliche Skepsis, ob durch die Interviewten durchgängig eine Bewertung auf der Schulnotenskala von 1 bis 6 möglich sei, wurde bereits in den Testinterviews widerlegt, in denen einige Interviewte auf der Schulnotenskala sogar Zwischennoten verteilten ("Ich gebe eine 2-3").
Für die Interviewführung gab es einen eigenen Leitfaden, der die Rahmenbedingungen und die "flexible Regie" beschrieb: Als Einzelinterviews sollten die Fragegespräche nach Möglichkeit an einem vertraulichen Ort stattfinden, zum Beispiel im Personal- oder Speiseraum. In Ausnahmefällen und auf ausdrücklichen Wunsch konnten Gespräche auch mit zwei Mitarbeiter(inne)n/Bewohner(inne)n gleichzeitig ablaufen. Die Teilnahme war in jedem Fall freiwillig.
Durchschnittsnote: 2
Ein zentrales Ergebnis vorweg: Direkte Befragungen von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen sind möglich, sinnvoll und notwendig. Es geht nicht zuletzt darum, bei durch klassische Befragungsmethoden nur schwer erreichbaren Zielgruppen den paternalistischen Fürsorgegedanken zu durchbrechen ("Wir wissen, was gut für euch ist") und die in der Behindertenhilfe und Gemeindepsychiatrie zu Recht postulierten Ansprüche an Selbstbestimmung und damit auch Selbstbewertung in die Tat umzusetzen. Die hohe Fähigkeit und Bereitschaft zur Teilnahme an den Interviews, die je nach Dienstleistungsbereich zwischen 54 Prozent und 84 Prozent lag, zeigt indirekt die Bedeutung der Befragung.
Die Ergebnisse der Befragung liefern ein aus Sicht des Trägers sehr positives, über Einrichtungen und Standorte hinweg homogenes Bild auf hohem Zufriedenheitsniveau, das sich auf der Schulnotenskala in Durchschnittsnoten von 2,0 bis 2,5 ausdrückt. Im Bereich der Werkstätten zeigt sich die Tendenz, dass die Klient(inn)en der Gemeindepsychiatrie die befragten Aspekte leicht kritischer bewerten. Eine These hierzu könnte sein, dass sie die Situation etwas besser reflektieren (können) und gegebenenfalls auch eher einen Vergleich mit anderen Arbeitsstätten und Arbeitgebern haben.
Menschliche Ebene ist entscheidend
In die Befragung integriert wurde die Methode der kritischen Ereignisse. Diese geht davon aus, dass besonders positive oder negative Ereignisse im Dienstleistungsprozess die Einschätzung der Dienstleistung nachhaltig prägen. Als positive kritische Ereignisse wurden in den Interviews überwiegend die angebotenen Freizeiten angegeben und - mit Abstand - die guten Arbeitsbedingungen sowie positive menschliche Erfahrungen mit Kolleg(inn)en oder Betreuer(inne)n.
Die menschliche/persönliche Ebene ist allerdings auch Hauptpunkt der negativen kritischen Ereignisse, die sich auf Konflikte beziehen. Sie reicht von scheinbaren Banalitäten ("Einer will das Fenster auf, der andere will es zu") bis zu ernsteren Konfliktpunkten ("Betreuer sind ungerecht; nehmen mich nicht ernst"). Wichtig ist hier, dass unabhängig davon, ob die Kritikpunkte in jedem Einzelfall objektiv gerechtfertigt sind, sie die subjektive Realität der Befragten widerspiegeln und damit ernst genommen werden sollten.
Die Arbeit in den Werkstätten wurde überwiegend positiv bewertet, das heißt eher als abwechslungsreich und interessant sowie mit entspannter Arbeitsatmosphäre. Die Erhebung konnte zeigen, dass - sofern Kritik in Bezug auf die Arbeit in den Werkstätten geübt wurde - diese sich meist auf die konkreten Arbeitsbedingungen bezog ("zu eng, Stühle nicht verstellbar, zu laut") oder auf den Arbeitsumfang und die Arbeitsinhalte ("unterfordert; langweilig; zu hoher Druck"). Eine wichtige Rolle in Bezug auf die Zufriedenheit spielen ganz offensichtlich die arbeitsbegleitenden Angebote. Hier wurden an erster Stelle Sport und Freizeitaktivitäten genannt.
Ganz normale Vorstellungen von Lebensqualität
Einem ganzheitlichen Qualitätsverständnis folgend und die Tatsache berücksichtigend, dass viele Interviewte neben der Arbeit in der Werkstatt auch die Dienstleistungen des (betreuten) Wohnens in Anspruch nehmen, war ein Teilziel der Erhebung auch, Elemente der persönlichen Lebensqualität zu erfahren. Hier sei die These erlaubt - ohne Anspruch auf einen fundierten empirischen Nachweis zu haben -, dass Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen keine "besondere" Definition von Lebensqualität haben, sondern sich hier allgemeingültige Elemente wiederfinden, wie Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, positive soziale Kontakte, erfüllende Arbeit, finanzielles Auskommen/Sicherheit sowie Gesundheit beziehungsweise Akzeptanz der jeweiligen Behinderung oder Krankheit. Ein Beleg mehr, um diese Zielgruppe trotz eines erhöhten Betreuungsbedarfs als "normal" ein- und wertzuschätzen.
Basis für Öffentlichkeitsarbeit
Der Aufwand für eine Vollerhebung in Interviewform in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Gemeindepsychiatrie ist groß, aber gerechtfertigt: Dem in der wissenschaftlichen Betrachtung des Sozialbereichs zu Recht eingeforderten Nachweis der Wirkung Sozialer Arbeit lässt sich am besten durch die Einschätzung der Klient(inn)en selbst gerecht werden. Sie ergänzt die professionelle Beobachtung durch die Betreuer(innen) um systematisch erfasste und quantifizierbare Qualitätsinformationen der Klient(inn)en. Die Befragung zeigt damit auch, wie das Prinzip der Personalität der katholischen Soziallehre verstärkt in die organisatorische Praxis überführt werden kann. Wer, wenn nicht die Mitarbeiter(innen) von Werkstätten und die Bewohner(innen) von Wohnheimen selbst, soll ihre Dienstleistungs- und Lebensqualität einschätzen? Eventuellen Vorbehalten und methodischen Schwierigkeiten lässt sich mit einem angepassten Untersuchungsdesign begegnen.
Unabhängig von der sozial-intrinsischen Motivation eines Trägers, die Notwendigkeit und Qualität seines Handelns ständig zu hinterfragen und sich wandelnden Umweltbedingungen anzupassen, gibt es auch pragmatische Gründe für die Durchführung der Befragung. Sie liefert für die interne und externe Öffentlichkeitsarbeit wichtige Aussagen, die in einem verschärften Wettbewerbsumfeld und sich ändernden finanzierungstechnischen Rahmenbedingungen (Stichwort: persönliches Budget) entscheidende Vorteile bringen können.