Annäherungen an den Einsatz von Robotik
Eigentlich wollte Frau Fischer sich heute ein bisschen mehr Zeit für Frau Schuster nehmen. Gestern war deren großer Tag: Sie ist 90 geworden, die Familie war da. Und doch ist wieder nichts draus geworden außer ein paar schnell gesprochenen Sätzen, während Frau Fischer sie im Bett gewendet und die Wunde versorgt hat. Und wieder war keine Gelegenheit, eine vernünftige Technik beim Heben von Frau Schuster anzuwenden. "Chronisches Rückenleiden" lautet Frau Fischers individuelle, "chronischer Pflegekräftemangel" die systemische Diagnose. Noch ringt Frau Fischer um eine Antwort für sich auf diesen Zustand, denn sie ist Pflegekraft aus Überzeugung und möchte es auch gerne bleiben. Aber lange wird sie es wohl nicht mehr durchhalten: Viel zu viele Patient:innen wollen versorgt werden. Etliche Kolleg:innen sind schon gegangen …
Eine Situation, die Ihnen bekannt vorkommt? Hoffentlich nicht – und es handelt sich nur um ein mögliches Zukunftsszenario. Was jedoch könnte Abhilfe schaffen und die Pflegekräfte bei ihrer Arbeit entlasten und unterstützen? Vielleicht Robotik für die Pflege(kräfte)? Das Wort "Robotik" löst in der Pflege häufig erst einmal Ablehnung aus: Maschinen in einem Bereich, in dem es doch um Menschen geht, um Zuwendung und Fürsorge? Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Roboter dann allerdings nicht als Maschine, die wie ein Terminator durchs Haus spaziert, sondern etwa als robotischer Arm, der am Patientenbett befestigt wird und beim Wenden von Personen hilft.
Wer den Einsatz live erlebt, ist in der Regel begeistert
Pflegekräfte werden nicht eingespart, wohl aber bei ihrer Tätigkeit sinnvoll unterstützt und entlastet. Wer dies einmal live erleben durfte, ist in der Regel begeistert! Weitere mögliche Einsatzgebiete robotischer Systeme in der Pflege sind die Mobilisation von Intensivpatient:innen (etwa durch intelligente Pflegebetten) oder die Unterstützung des Pflegepersonals bei Hol- und Bringdiensten.
Auch wenn die meisten dieser robotischen Systeme die Marktreife derzeit noch nicht erlangt haben1, lohnt es sich, darüber nachzudenken, was es bräuchte, um Robotik im eigenen Dienst, in der eigenen Einrichtung oder im Krankenhaus einzusetzen. Denn es bedarf einer nicht zu unterschätzenden Vorbereitungszeit sowohl im Team als auch in der Einrichtung, um sich für den Einsatz von Robotik fit zu machen.
Moderierter Workshop soll Entscheidung erleichtern
Hierfür wurde durch das wissenschaftliche Begleitprojekt "Begründungs- und Bewertungsmaßstäbe für Robotik in der Pflege" (BeBeRobot)2 der BMBF-Förderlinie "Robotische Systeme für die Pflege"
im Zeitraum 2019-2023 das Bewertungstool "READY?" entwickelt, welches es Diensten und Einrichtungen in der Alten- und Behindertenhilfe sowie dem Krankenhaus erlaubt, herauszufinden, ob und unter welchen Voraussetzungen der Einsatz von Robotik möglich wäre.
Das Instrumentarium wurde entwickelt auf einer empirischen Datenbasis von 57 Experteninterviews sowie 16 Fokusgruppen und konsentiert im Rahmen von sechs Workshops sowie vier Feldtests, unter Beteiligung von circa 200 Expert:innen aus den Bereichen Pflegepraxis, Pflegewissenschaft, den Berufsverbänden der Pflege, den Selbsthilfeverbänden (Angehörigenvertretung), der Ethik, dem Recht, der Ökonomie, den Wohlfahrtsverbänden sowie der Arbeitnehmervertretung (Verdi). Es ist konzipiert als moderierter Workshop, welcher durch ein digitales Umfragetool (Webumgebung) unterstützt wird. Durchgeführt wird er von einer externen Moderation vor Ort. Teilnehmer:innen des Workshops sind (je nach Zielgruppe) sechs bis zwölf Personen aus festgelegten Bereichen, welche einen Querschnitt durch die gesamte Einrichtung beziehungsweise den Dienst darstellen. Im Idealfall entsteht so ein repräsentatives Meinungsbild der gesamten Mitarbeiterschaft. Insgesamt dauert der Workshop vier Stunden. Behandelt werden in sechs Themenfeldern (Pflege, ethische Aspekte, institutionelle und gesellschaftliche Einbettung, Ökonomie, Technik und Infrastruktur sowie Datenschutz und Recht) jeweils acht Fragen (nach Themenfeld und Zielgruppe unterschiedlich). Anhand dieser können die Dienste und Einrichtungen überprüfen, welcher Voraussetzungen es zum Einsatz von Robotik in der Pflege in ihrer konkreten Situation bedarf. Gegebenenfalls hilft das Instrumentarium dabei, einen bereits vorhandenen Diskurs in der Einrichtung oder dem Dienst zu strukturieren. Die Fragen werden in der Gruppe diskutiert und ein gemeinsames Ergebnis konsentiert. Dieses wird schließlich nach einer "Ampellogik" den Farben Rot, Gelb und Grün zugeordnet. Rot bedeutet hierbei: Eine weitere Auseinandersetzung mit der Fragestellung ist zwingend geboten, Gelb bedeutet: eine Zustimmung im Sinne der Fragestellung unter gewissen Bedingungen ist gegeben, und Grün bedeutet: Es gibt keinen weiteren Diskussionsbedarf im Sinne der Fragestellung. Nach Bearbeitung und Zuordnung aller 48 Fragen zu einer Ampelfarbe erhält der Dienst oder die Einrichtung eine Ergebnisübersicht in Form eines Netzdiagramms sowie einer tabellarischen Auflistung. Falls der Dienst/die Einrichtung zu dem Ergebnis kommt, langfristig robotische Systeme nutzen zu wollen, können diese mit Hilfe der Ergebnisse an den Voraussetzungen für den Einsatz weiterarbeiten. Bei Bedarf kann der Workshop nach einiger Zeit wiederholt werden.
Geschulte Moderation von Vorteil
Der Quellcode des Tools kann durch jede interessierte Person unter https://github.com/BeBeRobot/Bewertungstool heruntergeladen und das Instrumentarium mit entsprechenden IT-Kenntnissen zum Leben erweckt werden. Das Forschungskonsortium empfiehlt, für die Workshops eine speziell ausgebildete Moderation einzuladen, um zu objektiveren Ergebnissen zu gelangen. Hinsichtlich der Moderatorenausbildung kann es sich anbieten, eine Person bei einem DiCV, Fachverband, großem Träger oder einer Akademie zu schulen, welche durch die Dienste und Einrichtungen dann entsprechend angefragt werden kann. Zum besseren Verständnis des Tools oder zur Selbstschulung von Moderator:innen dient eine Handreichung für die Moderation, die unter www.pflege-und-robotik.de/ready-software-und-handbuch verfügbar ist. Falls noch nicht über den Einsatz eines konkreten robotischen Systems diskutiert werden soll, empfiehlt es sich, mögliche Modelle als erste Idee, welcher Nutzen von den Systemen ausgehen kann, zu zeigen. Passende Videos finden sich unter: www.pflege-und-robotik.de/simulationen-robotischer-systeme
Einsatz robotischer Systeme steht noch am Anfang
Bislang sind robotische Systeme erst in wenigen Einrichtungen und Diensten im Einsatz und unterstützen die Pflegekräfte beispielsweise beim Heben von Pflegebedürftigen, in der Bewegungstherapie oder auch bei Gedächtnisübungen mit demenziell Erkrankten. Im Sinne des Ziels, Pflegekräfte sinnvoll zu unterstützen und zu entlasten, bleibt zu hoffen, dass es noch zahlreiche weitere bereits entwickelte Technologien zeitnah in die konkrete Anwendung schaffen werden und das Tool "READY?" der ambulanten wie stationären Alten- und Behindertenhilfe sowie Krankenhäusern dabei hilft, sich für oder gegen Robotik beziehungsweise für oder gegen ein konkretes robotisches System zu entscheiden.
1. Beispiele robotischer Systeme, welche die Marktreife bereits erlangt haben, sind der mobile Assistenzroboter Lio, der mit einem funktionalen Greifarm ausgestattet ist (www.fp-robotics.com/de/lio), oder ein Lieferroboter fürs Krankenhaus: https://relayrobotics.com/relay-delivery-robots-for-hospitals.
Darüber hinaus wird bedarfsorientiert daran geforscht, bereits entwickelte Robotik für bestehende Versorgungsarrangements nutzbar zu machen.
2. Das wissenschaftliche Begleitprojekt wurde als interdisziplinäres Verbundprojekt von der Universität Osnabrück (Fachgebiet Pflegewissenschaft, Konsortialführung), dem
SIBIS-Institut für Sozialforschung (Berlin), der Universität Siegen (Wirtschaftsinformatik, IT für die alternde Gesellschaft), dem OFFIS-Institut für Informatik (Oldenburg) und dem Deutschen Caritasverband (Freiburg) durchgeführt.
"Wollen wir Robotik bei uns einsetzen?" Was zu diskutieren ist
Die sechs Themenfelder und ihre Fragestellungen Pflege
Anforderungen und Kriterien für den möglichen Einsatz robotischer Systeme für die Pflege aus pflegefachlicher und pflegewissenschaftlicher Perspektive:
- potenzielle Auswirkungen auf pflegerische Arbeitsprozesse
- Vereinbarkeit mit dem institutionellen Verständnis von "guter Pflege"
Ethische Aspekte
Der mögliche Einsatz robotischer Systeme in der Pflege aus ethischer Perspektive. Zentrale Aspekte:
- Menschenwürde
- Wert der menschlichen Beziehungsarbeit in der Pflege
- Schutz der Privatsphäre
Institutionelle und gesellschaftliche Einbettung
Mögliche Auswirkungen eines Einsatzes robotischer Systeme auf die jeweilige Institution und ihre Außenwahrnehmung:
- Möglichkeiten der Reflexion des Einsatzes robotischer Systeme in der Institution
- Kommunikation der Vor- und Nachteile von Robotik
- Veränderungen der Außenwahrnehmung durch den Einsatz robotischer Systeme
- Einbettung/Vernetzung in den Sozialraum
Ökonomie
Wirtschaftliche Faktoren eines möglichen Einsatzes robotischer Systeme:
- Anschaffungs- und Refinanzierungsaspekte
- marktwirtschaftliche Gesichtspunkte wie das Kosten-Nutzen-Verhältnis
Technik und Infrastruktur
- vorhandene bauliche und technische Voraussetzungen der Institution
- Anforderungen, die mit einem Einsatz von Robotik für die Pflege einhergehen
Datenschutz und Rechtliches
- technische Datenverarbeitung
- Wahrung der Persönlichkeitsrechte
- Verantwortung und Haftung im Schadensfall
- Sozial- und Arbeitsschutzrecht