Auf die Strukturen schauen
Begriffe haben Konjunkturen. Während der Große Brockhaus (die gedruckte "deutsche Wikipedia" des 20. Jahrhunderts) 1957 keinen selbstständigen Eintrag zum Stichwort Solidarität kannte, verzeichnete Google zu Beginn der Corona-Pandemie einen dramatischen Aufwuchs der Suchanfragen unter diesem Begriff. Spätestens seither ist "Solidarität" zu einem fast inflationär genutzten Appell-Wort geworden – der Deutsche Ethikrat hat sich aus gutem Grund auf Spurensuche begeben und den Begriff auf seiner Jahrestagung aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet.
Wirkmächtig, ja ein regelrechtes Heilmittel gegen Ohnmachtsgefühle im Angesicht von weltweiten Krisen, von Unterdrückung und Gewalt ist Solidarität, wenn sie vom (kämpferischen) Selbsthilfeverständnis herkommt. In der katholischen Soziallehre musste sich dieses Verständnis gegen schwer zu überwindende Hindernisse durchsetzen, wie Oswald von Nell-Breuning vor 70 Jahren schrieb: Die "organisierte Liebestätigkeit" der Caritas schaut(e) auf den einzelnen Menschen in Not; die Not als solche und ihre strukturellen Ursachen ebenso wie die Gruppe der von ihr betroffenen Menschen gerieten nur verzögert in den Blick. Gerade die Gruppe aber ist es, die den Solidaritätsbegriff mit Leben füllt. Bei der Solidarität geht es um ein mit symmetrischen und wechselseitigen Beziehungen in Verbindung stehendes Eintreten füreinander. Sie braucht und stärkt das Zusammengehörigkeits-, nicht unbedingt das Mitgefühl!
Die jüngere Sozialethik bezeichnet Solidarität in diesem Sinne als Con-Solidarität. Auch wenn sie im ersten Schritt offenkundig (nur) strukturell begrenzte "Gruppen-Solidarität" herausbildet, kann sie genau deshalb starker Motor globaler Solidarität sein, wo Ungerechtigkeiten, Verteilungs- und Übernutzungsprobleme sich mit "Gemeingütern" (commons, Allmenden) in Verbindung bringen lassen. Für die Nutzung der Atmosphäre, der Weltmeere und weiterer Allmenden solidarisch Spielregeln zu verabreden und diese gemeinsam in überschaubaren Gruppen durchzusetzen, bewahrt begründete Hoffnung, wo globale Lösungen an der Selbstherrlichkeit der Putins und Trumps dieser Welt scheitern.
Caritas fördert (Con-)Solidarität: Durch Parteinahme stärken wir mit unserem Lokalisierungsansatz erfolgreich lokale Gruppen und deren Solidarität, die auf gemeinsamer Betroffenheit gründet.