Es geht: weniger Psychopharmaka in der Altenpflege!
Das Problem ist bekannt: Psychopharmaka werden überdurchschnittlich häufig und - entgegen den ärztlichen Leitlinien - oft viel zu lange bei alten Menschen eingesetzt. Dies betrifft auch Pflegebedürftige in Altenpflegeheimen und überwiegend Menschen mit Demenz. Das zeigen Studien ebenso wie Hinweise aus der Praxis, zum Beispiel von Angehörigen und dem Medizinischen Dienst. Dabei haben diese Medikamente bei Demenzkranken in aller Regel nicht einmal einen Nutzen. Sie stellen die Menschen ruhig, führen im schlimmsten Fall zu Stürzen und bergen andere Risiken. Natürlich gibt es Zustände, bei denen Psychopharmaka wirksam und hilfreich sind, zum Beispiel in psychotischen Phasen. Am häufigsten werden sie aber bei sogenannten Verhaltensauffälligkeiten verschrieben. Warum das so ist und wie man das möglichst ändern kann, wurde im Projekt "OPESA - Optimierung des Psychopharmaka-Einsatzes in der stationären Altenpflege" untersucht. An dem Gemeinschaftsprojekt der Diözesan-Caritasverbände Köln und Paderborn beteiligten sich 16 Altenpflegeheime. Auf der Basis einer Erhebung des Ist-Zustands wurde in mehreren, zeitversetzten Workshops in jeder Einrichtung analysiert, was bisher schon gut organisiert beziehungsweise umgesetzt worden ist. Vorhandene Probleme wurden besprochen. Es wurde untersucht, warum sie bestehen, und überlegt, was konkret verbessert werden kann.
Dabei hat sich gezeigt, dass die Prozesse, die zum Psychopharmaka-Einsatz führen, komplex und vielschichtig sind. Sehr gut dargestellt ist das in den Handlungsebenen des Geriaters und Gerontologen Johannes Pantel.1 Deutlich wird: Natürlich sind die Haus- und Fachärzte und -ärztinnen grundsätzlich für die Verordnung von Medikamenten verantwortlich. Aber bevor der Arzt beziehungsweise die Ärztin wegen einer möglichen Psychopharmaka-Gabe angesprochen wird, sind die Pflegenden gefordert.
Um die eigene Arbeitsweise zu reflektieren, kann es hilfreich sein, die nachfolgenden Fragen zu beantworten. Diese konzentrieren sich auf Aspekte, die im Verantwortungsbereich der Altenpflegeheime liegen. Weitere Erkenntnisse und Empfehlungen, vor allem auch zur Zusammenarbeit mit Ärzt:innen und Apotheken finden sich im Abschlussbericht zum Projekt.2
Der Blick auf das eigene Tun
Wird eine wertneutrale und personzentrierte Sprache im Umgang mit Menschen mit Demenz verwendet?
Schon mit der Sprache fängt es an. Beispielsweise wurden im Projekt zunehmend statt gängiger Begriffe wie "Verhaltensauffälligkeiten" und "herausforderndes Verhalten" andere Begriffe verwendet, nämlich "besonderes Verhalten" beziehungsweise "besonderes Ausdrucksverhalten". Dahinter steckt der Gedanke, dass sich Menschen mit Demenz oft nicht mehr so ausdrücken können wie Menschen ohne Demenz und sich daher anderer, besonderer Ausdrucksweisen bedienen müssen. Angeregt werden soll, die in der Einrichtung verwendete Sprache zu reflektieren.
Haben alle Mitarbeitenden mindestens ein Basiswissen zu Demenzerkrankungen und zur angemessenen Kommunikation mit Menschen mit Demenz? Wenden sie das Wissen tatsächlich im Arbeitsalltag an?
Das klingt banal, ist es aber nicht. Nur mit fachgerechtem Wissen und einer entsprechenden Haltung kann man Menschen mit Demenz adäquat begegnen und beispielsweise unnötige Konflikte vermeiden. Das betrifft Pflegende genauso wie Mitarbeitende von Sozialem Dienst, Hauswirtschaft, Haustechnik und Verwaltung. Bewährt hat sich, dieses Wissen fachlich durch Konzepte wie Selbsterhaltungstherapie, Mäeutik (eine besondere Gesprächstechnik), das psychografische Pflegemodell nach Erwin Böhm oder das Pflegekonzept von Tom Kitwood zu fundieren. Wichtig ist auch die Anwendung des Expertenstandards "Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz".3
Festgelegte Abläufe hintanstellen
Werden die tagesaktuellen Bedarfe und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz im Ablauf angemessen berücksichtigt?
Wenn Pflegeinterventionen zu einem Zeitpunkt, in einer Art und Weise oder von Personen durchgeführt werden, die für den Menschen mit Demenz gerade nicht angenehm sind, können diese eine negative Reaktion beim Betroffenen auslösen. Dann wird häufig unreflektiert von "Verweigerung" oder "herausforderndem Verhalten" gesprochen. Daher ist es wichtig, die aktuellen Befindlichkeiten von Menschen mit Demenz wahrzunehmen und ihnen Vorrang vor funktionalen Vorgaben und festgelegten Schichtabläufen und -aufgaben zu gewähren.
Werden die möglichen Ursachen für das besondere Verhalten konsequent, umfassend sowie strukturiert und fachlich fundiert analysiert?
Dies ist eine Kernfrage, um unnötige Psychopharmaka-Verordnungen zu vermeiden. Viele Ursachen für besonderes Verhalten können relativ leicht behoben werden, sowohl durch ärztliche Maßnahmen als auch durch geeignete Pflege- und Betreuungsinterventionen. Leider sind wissenschaftlich basierte Instrumente für diese Analyse in Deutschland noch wenig bekannt. Neben unbefriedigten emotionalen Bedürfnissen können auch körperliche Ursachen und negative Umgebungsfaktoren ursächlich für besonderes Verhalten sein. Aus internationalen Studien ist zum Beispiel bekannt, dass Schmerzen sehr häufig besonderes Verhalten auslösen können. Konzepte mit einem umfassenden Analyse-Ansatz sind beispielsweise die Serial Trial Intervention (STI), eine Methode, um unbefriedigte Bedürfnisse bei Menschen mit Demenz zu erkennen. Hilfreich ist auch das bedürfnisorientierte Verhaltensmodell bei Demenz (NDB-Modell). Um alle notwendigen Informationen zusammenzutragen und zu bewerten, hat es sich bewährt, konsequent Fallbesprechungen beziehungsweise -konferenzen durchzuführen.
Werden geeignete, vor allem nicht medikamentöse Interventionen angewendet, bevor eine Psychopharmaka-Verordnung in Erwägung gezogen wird?
Auf viele Ursachen für besonderes Verhalten kann mit nicht medikamentösen Pflege- und Betreuungsinterventionen reagiert werden. Dafür müssen die Mitarbeitenden über entsprechendes Wissen verfügen und geeignete Materialien vorhanden sein. Außerdem ist es wichtig, dass die einzelnen Bereiche der Einrichtung gut zusammenarbeiten, zum Beispiel Pflege und Sozialer Dienst. Liegen medizinische Gründe wie Schmerzen, Infektionen, kardiale oder hormonelle Störungen oder andere Erkrankungen vor, ist der Arzt:die Ärztin mit Diagnostik wie Blutabnahme und entsprechender Therapie gefragt.
Wenn diese Interventionen das besondere Verhalten nicht ausschalten oder reduzieren können, kann die Psychopharmaka-Verordnung in Erwägung gezogen werden. Damit der Arzt oder die Ärztin sachgerecht darüber entscheiden kann, benötigt er:sie verlässliche und "nicht eingefärbte" Informationen. Wenn Pflegende mit dem besonderen Verhalten beziehungsweise dessen Beurteilung überfordert sind, besteht die Gefahr, dass der Arzt oder die Ärztin nicht die richtigen Informationen erhält und die Situation nicht richtig einschätzen kann.
Medikamentenbeauftragte
Ist der angemessene Umgang mit Psychopharmaka in der Einrichtung klar geregelt und auf Nachhaltigkeit ausgelegt?
Ein besonderer Baustein im Projekt war die Qualifizierung sogenannter Medikamentenbeauftragter. Eine Pflegefachkraft pro Einrichtung konnte in einer Schulung ihr Wissen über Psychopharmaka und andere Medikamente auffrischen und erweitern. Die Medikamentenbeauftragten sollen in ihrer Einrichtung die anderen Fachkräfte unterstützen und beraten, insbesondere auch in der Kommunikation mit den Ärzten und Ärztinnen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass dieses Expertenwissen hilfreich für die verlässliche und fachlich gute Umsetzung von Prozessen ist. Und das Festlegen von Verantwortlichkeit kann Nachhaltigkeit erzeugen. Das bedarf aber auch der klaren Regelung und Unterstützung durch die Pflegeleitung.
Ängste sind ernst zu nehmen
Die abschließende Projektevaluation hat ergeben, dass die Ärzt:innen in allen Projekteinrichtungen gebeten wurden, die Medikation zu überprüfen. So konnten bereits in vielen Fällen Psychopharmaka reduziert und auch Neuverordnungen verhindert werden. Eine Projekteinrichtung, die schon länger gute Konzepte im Umgang mit den dort lebenden Menschen mit Demenz umsetzt, kommt derzeit sogar schon komplett ohne Psychopharmaka aus.
Mitarbeitende haben oft Angst davor, dass beim Reduzieren beziehungsweise Absetzen von Psychopharmaka ein Verhalten auftritt oder wieder auftritt, das den Menschen mit Demenz selbst oder andere gefährdet, insbesondere auch Mitarbeitende. Dies ist zum Teil unbegründet, da bei der ursprünglichen Verordnung von Psychopharmaka keine Ursachenforschung betrieben wurde. Wären die Ursachen bekannt gewesen, hätte es die Medikation vielleicht gar nicht gebraucht. Dennoch sollten solche Ängste des Pflegepersonals sehr ernst genommen werden. Die Pflegedienstleitungen sollten mit den Mitarbeitenden mögliche entspannende Konstellationen und Reaktionen auf kritische Situationen besprechen und sie in einer solchen Phase eng begleiten. Im Übrigen können Verbesserungen nur gelingen, wenn alle am Prozess Beteiligten ihre spezifische Verantwortung wahrnehmen.
1. Pantel, J.; Bockenheimer-Lucius, G; Ebsen, I., Müller, R., Hustedt, P., Diehm, A.: Psychopharmaka-Versorgung im Altenpflegeheim. Frankfurter Schriften zur Gesundheitspolitik und zum Gesundheitsrecht. Frankfurt a. M.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, Band 3., 2006.
2. Weitere Informationen zu Aspekten, die ebenfalls im Projekt bearbeitet wurden, finden sich im Projektbericht unter:
www.caritasnet.de/themen/alter-pflege/stationaere-pflege;
www.caritas-paderborn.de/opesa
3. Kurzlink: https://tinyurl.com/nc20-24-standard