Wie wir Armut bekämpfen müssten
Ist die Armut in Deutschland heute auf einem Höchststand?
Sie wissen, was Armut bedeutet: Viele Alleinerziehende müssen mit wenig Geld auskommen. DCV/ Margit Wild
Nein, diese Behauptung widerspricht der Lebenserfahrung aller, die sich zum Beispiel an die materielle Situation der Menschen nach dem Krieg oder in den 1970er Jahren erinnern. Gestiegen ist in den vergangenen Jahren das Armutsrisiko. Das bemisst sich daran, ob jemand mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss. Diese Menschen aber alle pauschal als arm zu bezeichnen, ist aus meiner Sicht falsch. In dieser Gruppe sind beispielsweise auch Studierende und Auszubildende. Überzogene Skandalisierung schürt Abstiegsängste in der Mittelschicht. Das ist Gift für den sozialen Zusammenhalt. Problematisch ist allerdings, dass die Einkommen heute deutlich ungleicher verteilt sind als in den 1990er Jahren.
Gibt es also gar keine richtige Armut in Deutschland?
Caritas-Generalsekretär Georg Cremer im Interview über Armut in Deutschland
Doch, es gibt in Deutschland viele Menschen, die wegen ihrer schlechten finanziellen Situation große Probleme haben, am sozialen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. So ist beispielsweise die Höhe der Grundsicherung zu niedrig. Nach Berechnungen der Caritas müsste der Regelbedarf für Alleinstehende um 63 Euro im Monat angehoben werden. Schwer planbare Mehrausgaben wie zum Beispiel für den Ersatz der kaputten Waschmaschine sind für viele nicht zu stemmen. Auf dieses Problem hat auch das Bundesverfassungsgericht hingewiesen.
Hinzu kommt, dass vielen Menschen immer noch der soziale Aufstieg verwehrt ist. So wird – statistisch gesehen – jedes dritte Kind eines ungelernten Arbeiters ebenfalls ein ungelernter Arbeiter. Da dies häufig mit einer durchbrochenen Berufsbiographie verbunden ist, bedeutet das oft, dass Armut vererbt wird.
Versagt der Sozialstaat bei der Armutsbekämpfung?
Langzeitarbeitslose besser fördern: Caritas-Generalsekretär Georg Cremer (links) beim Abschluss der Aktion "Stell mich an, nicht ab!" vor dem Reichstag. Benjamin Mohrich
Ich halte nichts davon, den Sozialstaat in Deutschland schlecht zu reden. Wir haben ein Grundsicherungssystem, das wir weiterentwickeln müssen. Der Sozialstaat bietet Hilfe, aber es gelingt bisher nicht ausreichend zu verhindern, dass Notlagen entstehen. Das kann die Sozialpolitik nur gemeinsam mit anderen Politikfeldern wie der Arbeitsmarkt- und der Bildungspolitik.
Sozialverbände in Deutschland tun sich schwer, Erfolge auch mal anzuerkennen.
Die Arbeitslosigkeit ist seit 2006 unter anderem durch eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik stark zurückgegangen. Auch die verdeckte Armut wurde reduziert, da seit 2003 ältere Menschen Grundsicherung beantragen können, ohne dass die Kinder mit ihrem Einkommen einspringen müssen. Die Forschung geht davon aus, dass ein Teil der bedürftigen älteren Menschen dadurch erstmals Grundsicherung bezogen haben.
Es gibt trotzdem noch viel zu tun: Das Bildungssystem darf sich nicht damit abfinden, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus abgehängt werden, Langzeitarbeitslose müssen mehr Chancen bekommen, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen und in der Kinder- und Jugendhilfe muss stärker auf Prävention gesetzt werden. Auch hoffe ich, dass die Gewerkschaften in den expandierenden Dienstleistungssektoren stärker Fuß fassen, um einer weiteren Lohnungleichheit entgegenzuwirken.
Caritas-Generalsekretär Prof. Dr. Georg Cremer veröffentlichte zu diesem Thema einen Meinungsartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 27. April 2015: Die tief zerklüftete Republik
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