Wie lassen sich stark belastete Familien besser erreichen?
Das System der "Frühen Hilfen" hat sich in Deutschland seit 2007 als Reaktion auf schwerwiegende Fälle der Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern entwickelt. Von Beginn an waren die Caritas und der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) am Aufbau dieser neuen präventiven Infrastruktur beteiligt und brachten ihre jahrzehntelange Erfahrung in diesem Arbeitsfeld ein. Frühe Hilfen stehen grundsätzlich allen werdenden und jungen Familien mit Kindern bis drei Jahren kostenfrei und niedrigschwellig zur Verfügung; besonders richten sie sich an Familien in hohen Belastungslagen. Sie umfassen verschiedene Hilfeformen, Leistungsträger und rechtliche Grundlagen.1 Zu den Angeboten von Caritas und SkF zählen Maßnahmen zur Förderung von Bindung, Erziehung, Spracherwerb, Entwicklung und Gesundheit sowie Familienhebammendienste, Elterncafés, Familienpatenschaften, Willkommensbesuche, Lotsendienste in Geburtskliniken und Arztpraxen und vieles mehr.2 Sie entlasten und stärken Eltern und Kinder und fördern ihre Resilienz nicht nur in Krisenzeiten.3
In vielerlei Hinsicht ist die Entwicklung der Frühen Hilfen eine Erfolgsgeschichte: 2020 verfügten 99,5 Prozent aller Kommunen über Netzwerke Früher Hilfen4, die gesetzlich vorgeschriebene, systemübergreifende Kooperation in einem lokalen Netzwerk gilt auch für andere soziale Handlungsfelder als beispielgebend. Doch gibt es weiterhin Entwicklungsbedarfe: An erster Stelle steht (noch immer) die zu optimierende Zusammenarbeit mit dem Gesundheitswesen.5 Herausfordernd ist weiterhin die Überwindung des auch aus anderen präventiven Handlungsfeldern bekannten sogenannten Präventionsdilemmas: Auch durch Frühe Hilfen werden gerade Familien in hoch belasteten Lebenslagen, die besonders von Unterstützung profitieren könnten, zu wenig erreicht. Im Fokus stehen vor allem Familien mit Migrations- beziehungsweise Fluchthintergrund, mit Verständigungsproblemen, junge alleinerziehende Mütter, isoliert lebende und bildungsferne Familien sowie Familien, die bislang in keinem Hilfesystem sind. Schwierig ist der Zugang auch zu Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil, mit ungewollter Schwangerschaft oder mit Kindern mit Entwicklungsproblemen.6 Ein hoher Bedarf bei kindlichen oder elterlichen Problemen erzeugt keine gesteigerte Nachfrage. Gerade Eltern mit Problemen kommen nicht von selbst.
Wo liegen die Ursachen für die Kluft zwischen hohem Bedarf an Hilfen auf der einen und vergleichsweise geringer Nutzung auf der anderen Seite? Die Erfahrungen von Praktiker:innen und die wissenschaftliche Forschung stimmen hier weitgehend überein, wie ein Fachtag von Deutschem Caritasverband (DCV) und SkF im Mai 2023 unter Beteiligung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) zeigte. Zentral sind individuelle Einstellungen, Werthaltungen und symbolische Barrieren aufseiten belasteter Familien.7 Da gibt es die "Symbolik der Behörde als Bedrohungsinstanz": Viele Familien in besonders gravierenden Belastungslagen befürchten, dass sie durch die Nutzung Früher Hilfen familiäre Defizite offenbaren und so auf den "Radar" des Jugendamtes als potenzieller "Kinderwegnahme-Behörde" gelangen. Eine zweite Barriere bildet die "Symbolik guter Elternschaft": Belastete Eltern befürchten, dass sie (vermeintlich herrschenden) Standards guter Kindererziehung nicht entsprechen. Dies löst Schamgefühle aus und nährt die Sorge, sich durch Annahme von Unterstützung als ungenügend kompetente Eltern zu outen, stigmatisiert zu werden und Kontrolle sowie Fremdbestimmung ausgesetzt zu sein. Beide Barrieren tragen zur Unterversorgung stärker belasteter Familien mit Frühen Hilfen bei. Hinzu kommt die Überforderung mit der Vielfalt an Informationen und einer individuellen Auswahl der Hilfeangebote.
Bessere Erreichbarkeit durch neue Wege
Welche Ansprachen, Zugangswege oder Kooperationen sollten ausgebaut werden, um den Zugang zu Frühen Hilfen zu verbessern? Grundsätzlich positiv wirkt sich aus, wenn Personen oder Institutionen einbezogen sind, die einen hohen Vertrauensvorschuss genießen und nicht mit kontrollierenden Funktionen assoziiert werden. Hier spielt der Gesundheitssektor eine wichtige Rolle. Die Teilnehmenden des oben genannten Fachtags nennen niedergelassene Gynäkologen und Kinderärzte, den öffentlichen Gesundheitsdienst, Hebammen und Gesundheitsfachkräfte, die Schwangerschaftsberatung, aufsuchende Angebote, Lotsendienste, offene Treffs im Stadtteil und die Nutzung von Sprachmittlern/Dolmetschern. Die Erreichbarkeitsstudie des NZFH betont darüber hinaus, wie wichtig es ist, die subjektiven Lebensrealitäten der Familien zu verstehen. Die Familien müssen spüren, dass sie nicht bevormundet, dass sie einbezogen, in ihren Elternkompetenzen und Bemühungen wertgeschätzt werden. Förderlich ist es darüber hinaus, wenn bei Hilfeangeboten Begegnung auf Augenhöhe stattfindet und aktivierende und positive Aspekte im Sinne von Lebensfreude, Chancen und Entlastung im Vordergrund stehen.8
Am Beispiel der Gruppenangebote lässt sich aber auch ein konzeptionelles Dilemma aufzeigen: Einerseits sollen Gruppenangebote allen Familien offenstehen. Doch sozial benachteiligte, alleinerziehende Mütter beispielsweise fühlen sich wohler in Gruppen, die hinsichtlich der sozialen Lebenslage homogen sind. Denn sie haben ganz andere Probleme in ihrem Alltag zu bewältigen als gut situierte Zwei-Eltern-Familien. Eine "soziale Mischung" hält sie eher davon ab, an Mütter-Gruppen teilzunehmen.9
Freie Träger wie Caritas und SkF verwirklichen bereits viele der dargestellten Empfehlungen. Sie arbeiten überwiegend präventiv und haben keinen Kontrollauftrag. Mit ihren aufsuchenden Angeboten (zum Beispiel videogestützte Bindungsförderung, längerfristige Begleitung durch Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende) erreichen sie sehr gut auch hoch belastete Familien. Der bei beiden Verbänden weit verbreitete fachlich begleitete Einsatz von ehrenamtlichen Familienpatenschaften ermöglicht Unterstützung der Familien fast auf Augenhöhe und wird gerne in Anspruch genommen.10
Die Arztpraxis als Türöffner
Viele Angebote finden unter dem Dach der Schwangerschaftsberatung statt, die ebenfalls hohes Vertrauen genießt - nicht nur, weil die Familien dort Anträge auf finanzielle Unterstützung stellen können. Handlungsbedarf gibt es mit Blick auf eine intensivere Zusammenarbeit vor allem mit gynäkologischen Arztpraxen, weil dort bereits in der Schwangerschaft Ansprache und Hilfevermittlung möglich sind. Hier können Lotsendienste eine Brücke in die Frühen Hilfen bilden und das medizinische Personal entlasten, wie es sich in vielen Geburtskliniken bereits etabliert hat.11 Trotzdem fehlt es in Geburtskliniken noch immer an gesicherten Finanzierungsgrundlagen. Um Familien mit Migrationshintergrund besser zu erreichen, bieten außerdem Modelle vergleichbar den Stadtteilmüttern ein großes Potenzial. Es ist noch einiges zu tun, um die Angebote Früher Hilfen im Sinne einer stärkeren Ausrichtung auf die Bedürfnisse besonders belasteter Familien zu optimieren. Die Forschungsergebnisse des NZFH bieten dazu wertvolle Hinweise.
1. Vgl. Nationales Zentrum Frühe Hilfen: Leitbild Frühe Hilfen - Beitrag des NZFH-Beirats Nr. 1. Köln: NZFH, 2014, Kurzlink: https://t.ly/RLmvw (Abruf: 31.8.2023).
2. Vgl. Kleinz, P.; Kaesehagen-Schwehn, G.: Ein etabliertes Angebot, das immer noch nach Geldgebern suchen muss. In: neue caritas Heft 10/2019, S. 31-33.
3. Vgl. Kleinz; P.: Kompetente Eltern, starke Kinder- Frühe Hilfen fördern Resilienz. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ), 1/2023, S. 3-7.
4. Vgl. Entwicklung der Frühen Hilfen in Deutschland. Ergebnisse der NZFH-Kommunalbefragungen. NZFH (Hrsg.), 2022.
5. Ebd., S. 127.
6. So die Ergebnisse einer Online-Befragung im Rahmen des Fachtags "Frühe Hilfen - Starke Familien" von DCV und SkF am 25.5.2023 (unveröffentlicht).
7. Die symbolischen Barrieren der Inanspruchnahme von Hilfen wurden seitens des NZFH, ebenfalls anlässlich des Fachtags, vorgestellt und diskutiert. Siehe auch Staa, Juliane van; Renner, Ilona: "Man will das einfach selber schaffen" - Symbolische Barrieren der Inanspruchnahme Früher Hilfen. Ausgewählte Ergebnisse aus der Erreichbarkeitsstudie des NZFH. Kompakt. Herausgegeben vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Köln, 2020, Kurzlink: t.ly/HhonK (Abruf: 31.8.2023).
8. Ebd.
9. Ebd.
10. Kleinz, P.: Patenschaftskoordination in den Frühen Hilfen - eine anspruchsvolle Aufgabe für Fachkräfte. In: frühe Kindheit 3/2020, S. 56-62.
11. In Geburtskliniken am stärksten verbreitet - aktuell in 96 Kliniken - sind Lotsendienste nach dem Modell Babylotse. Seit 2013 setzen sich der Deutsche Caritasverband, der Katholische Krankenhausverband Deutschlands (kkvd) und die Stiftung SeeYou für die Ausweitung des Programms ein. Gefördert werden sie dabei von der Auridis-Stiftung.
Kirche muss nah am Menschen sein
Global denken, lokal handeln
Chancen auf Teilhabe und Bildung sichern
EU-Kindergarantie will Kinderarmut bis 2030 bekämpfen
„Pflege begeistert“ – wenn der Rahmen stimmt
Mehr Europa wagen!
Aus Skepsis wird Begeisterung
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}