Mehr Europa wagen!
Derzeit wird auf Ebene der Europäischen Union darüber verhandelt, wie das System aus gemeinsamen Regeln und Politiken zum Umgang mit Asylsuchenden künftig aussehen soll. Das bisher geltende System weist zahlreiche Schwächen auf, die weder den Bedürfnissen der Schutzsuchenden noch den Interessen der EU-Mitgliedstaaten gerecht werden.
Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen fühlen sich unzureichend unterstützt und fordern eine gerechtere Aufgabenteilung. Unzureichende Standards bei Aufnahme und bei Schutzgewährung in einzelnen Mitgliedstaaten führen zu unregulierten Weiterwanderungen von Schutzsuchenden innerhalb der Europäischen Union.
Bislang ist unklar, ob das von der EU-Kommission im September 2020 vorgelegte EU-Asyl- und Migrationspaket noch vor der Europawahl 2024 verabschiedet wird, denn viele Elemente sind zwischen Europaparlament und Rat der EU umstritten. Die Dringlichkeit zur Umgestaltung des Systems hat in den Augen vieler jedoch zugenommen, denn die Sorge, dass es bei einem Scheitern der Verhandlungen zu einer weiteren Renationalisierung und Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik kommen könnte, ist groß.
Die bisherigen Verhandlungsergebnisse lassen allerdings nicht darauf hoffen, dass es zu nachhaltigen Problemlösungen kommen könnte, in denen ein operativer Mehrwert der Reform zu erblicken wäre. Vielmehr scheint eine stärkere Vereinheitlichung der Schutzgewährung in der EU an nationalen Egoismen zu scheitern. Lediglich in der Fokussierung auf die Abwehr von Schutzsuchenden scheint noch Einigkeit zu bestehen.
Mehr und mehr entsteht der Eindruck, dass nun angesichts des zunehmenden Zeitdrucks Ergebnisse um jeden Preis erzwungen werden sollen. Dabei wird offenbar hingenommen, dass die bestehenden gemeinsamen Regeln zu Aufnahme und Schutz immer weiter aufgeweicht oder gar missachtet werden.
Non-Paper skizziert praktikables, gemeinsames Asylsystem
Vor diesem Hintergrund haben das Kommissariat der deutschen Bischöfe - Katholisches Büro in Berlin, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland und der Deutsche Caritasverband ein "Non-Paper" verfasst, in dem ein praktikables, gemeinsames System der Schutzgewährung für Verfolgte skizziert wird.1 Es handelt sich dabei nicht um eine abschließende Position oder Stellungnahme, sondern um einen Vorschlag, der den politischen Diskurs um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) neu anregen und weiterentwickeln soll. Am Ende des Prozesses sollten praktikable Lösungen für tatsächliche Probleme stehen.
Im Hinblick auf die vielfältigen Herausforderungen regt das Non-Paper dazu an, das GEAS neu zu denken und eine stärkere Europäisierung in den Blick zu nehmen. Es skizziert ein System, das darauf abzielt, sowohl den unterschiedlichen Auffassungen der EU-Mitgliedstaaten als auch den Bedürfnissen und Interessen der Schutzsuchenden gleichermaßen gerecht zu werden. Es enthält insbesondere Vorschläge zur Verantwortungsteilung und Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten, dem Herzstück des GEAS.
Nachfolgend wird in einer kurzen Zusammenfassung des Non-Papers umrissen, wie ein solches System aussehen kann.
Das zukünftige System
Kern der Vorschläge ist die stärkere Europäisierung des GEAS.2 Diese spiegelt sich in der erweiterten Verantwortung der EU-Asylagentur, größeren Kontrollrechten der EU-Kommission und des EU-Parlaments sowie der erweiterten Zuständigkeit des Europäischen Gerichts wider.
Das Asylverfahren wird zukünftig von der EU-Asylagentur verantwortet und durchgeführt. Diese muss dazu Außenstellen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten betreiben. Um die zuständige Außenstelle zu bestimmen, ist ein Mitgliedstaat zu ermitteln, zu dem eine persönliche Verbindung des Schutzsuchenden besteht (familiäre Beziehungen, frühere legale Aufenthalte, Sprachkenntnisse, berufliche Verbindungen, besondere kulturelle oder soziale Beziehungen, Mangelberuf) oder der aus drei nach einem Verteilungsschlüssel vorgeschlagenen Mitgliedstaaten ausgewählt wird.
Die Schutzsuchenden werden dazu aktiv nach Verbindungen zu einem EU-Mitgliedstaat befragt und in die Auswahl des Staates miteinbezogen. Dadurch wird die Akzeptanz der Verteilungsentscheidung bei den Schutzsuchenden erhöht und einer unkontrollierten Weiterwanderung entgegengewirkt. Es erfolgt vielmehr eine kontrollierte Weiterreise in den Mitgliedstaat, in dem das Asylverfahren durchzuführen ist.
Die EU-Asylagentur stellt über ihre Außenstellen eine angemessene und menschenwürdige Unterbringung während der laufenden Asylverfahren sicher. Damit sorgt sie für eine stärkere Harmonisierung der Aufnahmestandards in den EU-Mitgliedstaaten.
Der Aufbau und die Arbeitsweise der EU-Asylagentur stellen eine größtmögliche Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit und eine engmaschige Kontrolle durch die EU-Kommission und das Europäische Parlament sicher.
Gegen eine ablehnende Asylentscheidung werden durch eine Änderung des EU-Primärrechts Rechtsschutzmöglichkeiten beim Europäischen Gericht (EuG) begründet, das ebenfalls Außenstellen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterhält. So wird sichergestellt, dass die Asylrechtsprechung zu Gewährung oder Ablehnung von Schutz innerhalb der EU stärker vereinheitlicht wird.
Notwendige Abschiebungen werden ebenfalls europäisch organisiert und verantwortet. Sind diese nicht innerhalb einer bestimmten Frist möglich, nach deren Ablauf die Integration der Ausreisepflichtigen so weit fortgeschritten ist, dass eine zwangsweise Rückführung nicht mehr zumutbar ist, erhält die betroffene Person einen Aufenthaltsstatus und ihre weitere Integration wird durch die EU-Asylagentur gefördert.
Die Übergangslösung
Ein GEAS wie oben beschrieben kann nicht sofort erreicht werden. Deshalb wird in dem Non-Paper als Zwischenschritt auf dem Weg dorthin ein System entwickelt, das die tatsächliche Situation in der EU pragmatisch in den Blick nimmt. Wichtiger Grundsatz ist, dass ein solches System auf Freiwilligkeit und auf zusätzlichen Anreizen aufbaut.
Der Vorschlag sieht vor, dass jeder EU-Mitgliedstaat jedes Jahr der EU-Kommission mitteilt, wie viele Schutzsuchende er bereit und in der Lage ist aufzunehmen. Sehr geringe Aufnahmezahlen oder erhebliche Abweichungen zur Vorjahreskapazität müssen gegenüber der Kommission begründet werden. Die Mitgliedstaaten bestimmen dadurch selbst und verbindlich ihre eigenen Aufnahmekapazitäten. Eine Überlastung von nationalen Asylsystemen wird dadurch weitestgehend ausgeschlossen.
Sollten mehr Personen einen Antrag auf internationalen Schutz in der EU stellen als Kapazitäten bereitgestellt wurden, so greift ein zweistufiges Verfahren: In der ersten Stufe werden freiwillige zusätzliche Kapazitäten von den EU-Mitgliedstaaten benannt. In der zweiten Stufe wird die Anzahl an Personen, die dann noch nicht aufgenommen sind, prozentual, orientiert an den ursprünglich mitgeteilten Aufnahmekapazitäten, auf die Mitgliedstaaten verteilt. Dies soll einem "race to the bottom" hinsichtlich der jährlich zu nennenden Aufnahmekapazitäten entgegenwirken.
Auch in der Übergangsphase wird bereits für jeden Asylsuchenden ein EU-Mitgliedstaat ermittelt, zu dem eine persönliche Verbindung besteht oder der aus drei vorgeschlagenen Mitgliedstaaten ausgewählt wird. So wird auch hier durch die Mitwirkungsmöglichkeit die Akzeptanz für die Verteilentscheidung bei den Schutzsuchenden erhöht. Die Prüfung des Schutzbegehrens erfolgt durch die nationalen Behörden und Gerichte des jeweiligen aufnehmenden Mitgliedstaates. Parallel dazu werden die materiell- und verfahrensrechtlichen Grundlagen für die Entscheidungen über Schutzbegehren sowie die Standards der Aufnahmebedingungen stärker unionsweit vereinheitlicht.
Um EU-Mitgliedstaaten mit hohen Aufnahmekapazitäten zu unterstützen und um Anreize für diejenigen zu schaffen, die geringe Aufnahmekapazitäten melden, soll im EU-Haushalt ein Fonds eingerichtet werden, in den alle Mitgliedstaaten gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (BIP) einzahlen. Aus dem Fonds sollen die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer gemeldeten Aufnahmekapazitäten Zahlungen erhalten, um ihre Kosten auszugleichen. Außerdem dient der Fonds dazu, Maßnahmen zu finanzieren, die den Kapazitätsaufbau und den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken. Dies hätte eine gemeinsame EU-Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme zur Folge, unabhängig davon, in welchem EU-Mitgliedstaat die Menschen tatsächlich aufgenommen werden.
"Und doch darf man nie vergessen, dass die Migranten an
erster Stelle nicht Nummern, sondern Personen sind, Gesichter, Namen und Geschichten. Europa ist die Heimat der
Menschenrechte, und wer auch immer seinen Fuß auf
europäischen Boden setzt, müsste das spüren können;
so wird es ihm selbst deutlicher bewusst werden, dass er sie
respektieren und verteidigen muss."
Papst Franziskus auf Lesbos, April 2016
1. Kurzlink: https://t.ly/KZlZP
2. Für eine bessere Lesbarkeit steht die folgende Beschreibung im Indikativ statt im Konjunktiv, obwohl das von uns vorgeschlagene System noch nicht Realität ist.
Kirche muss nah am Menschen sein
Global denken, lokal handeln
Chancen auf Teilhabe und Bildung sichern
EU-Kindergarantie will Kinderarmut bis 2030 bekämpfen
„Pflege begeistert“ – wenn der Rahmen stimmt
Aus Skepsis wird Begeisterung
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