Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssen gut versorgt werden
In Deutschland leben derzeit rund 29.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF1), für die das Jugendhilfesystem zuständig ist. Rund 8150 von ihnen sind über 18 Jahre alt. Allein seit Februar 2022 sind rund 11.300 umF hinzugekommen, rund 4500 davon sind vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen.2 Neben der Ukraine sind Hauptherkunftsländer Afghanistan, Syrien und die Türkei. Die große Zahl an neuen umF, die in Deutschland ankommen, macht deutlich, vor welchen enormen Herausforderungen zum einen die Kommunen und Landkreise mit der Versorgung und Verteilung dieser jungen Menschen stehen und zum anderen die Kinder- und Jugendhilfeträger, die für Unterbringung und Betreuung zuständig sind.
Wo liegen die Probleme?
Die hohe Zahl an Neuzugängen ins Kinder- und Jugendhilfesystem trifft aktuell auf eine Situation in den Behörden und Einrichtungen, die immer noch von den Auswirkungen der Coronapandemie, einem hohen Krankenstand und einem eklatanten Fachkräftemangel gezeichnet ist.
Viele Jugendämter sind mit der Vielzahl an Fällen überfordert, die sie in kürzester Zeit bearbeiten müssen. Den Einrichtungen, die angefragt sind, möglichst viele neue Plätze für die Unterbringung von umF zu schaffen, fehlten schon vor dieser Herausforderung Fachpersonal und der notwendige Wohnraum. Der Fachkräftemangel, der öffentliche und freie Jugendhilfeträger gleichermaßen trifft, lässt sich nicht einfach "abstellen", sondern es braucht mittel- und langfristige Strategien und Konzepte, um neue Mitarbeitende zu gewinnen und längerfristig zu halten. Das heißt auch, dass für die aktuelle akute Situation kurzfristig (Übergangs-)Lösungen gefunden werden müssen.
Die Wohnungsknappheit in vielen Regionen Deutschlands führt dazu, dass mancherorts junge Menschen, die aus der stationären Jugendhilfe in die Selbstständigkeit entlassen werden (sollen), nur schwer eine Wohnung finden. Somit werden Plätze in stationären Einrichtungen verzögert frei. Das eingeschränkte Wohnungsangebot erschwert auch den Kinder- und Jugendhilfeträgern die Arbeit. Wenn sie neue Plätze schaffen und damit für eine Entspannung der Lage sorgen wollen, haben sie große Schwierigkeiten, neue Immobilien zu finden und anzumieten.
Gesetzlich vorgeschriebene Frist nicht immer einzuhalten
Der große Zuzug in grenznahe Gegenden und in Ballungsräume führt zu Verteilungsproblemen in andere Jugendamtszuständigkeiten sowohl im jeweiligen Bundesland als auch in andere Bundesländer. Die Anwendung des Königsteiner Schlüssels ist dadurch schwierig. In diesen Hotspots muss eine Vielzahl an Fällen in kürzester Zeit entschieden werden. Dies gelingt derzeit oft nicht immer in der gesetzlich vorgegebenen Frist von 14 Werktagen. Wartezeiten bis zur Beendigung des vorgeschriebenen Clearingverfahrens (Altersfeststellung, Gesundheit, rechtliche Vertretung, Hilfeplanung, Planung Anschlussmaßnahmen) fallen an, verbunden mit Unterbringungen, die nicht immer den Standards der Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick auf Betreuung und Begleitung entsprechen. Dennoch kommt diesem Verfahren eine hohe Bedeutung zu und es muss sorgfältig durchgeführt werden. Beschulung und weiterführende Hilfen sind in der Regel erst nach Abschluss des Clearingverfahrens möglich.
Durch die hohe Auslastung der stationären Plätze von Kinder- und Jugendhilfeträgern und die Belegung von freien Plätzen mit umF kann nicht mehr überall gewährleistet werden, dass angefragte Belegungen von anderen Kindern und Jugendlichen erfolgen. Es gibt zum einen die Notwendigkeit, umF im Jugendhilfesystem unterzubringen, um die gesetzlich festgelegten Vorgaben zu erfüllen. Und es fehlen zum anderen derzeit real Plätze zur Unterbringung. Aus dieser Misere entstehen vorübergehend Übergangslösungen oder Brückenangebote mit anderen Formen der Betreuung und Unterbringung vor allem für ältere umF. Aus Sicht der freien Wohlfahrtspflege sind hier zwei Entwicklungen kritisch zu betrachten:
Fachkräfte- und Betreuungsstandards werden abgesenkt
Der enorme Fachkräftemangel und die Notwendigkeit, gerade jetzt mehr Arbeitskräfte rekrutieren zu müssen, führen in der Konsequenz dazu, dass nun teilweise Fachkräftestandards abgesenkt werden (müssen), um überhaupt Personal zur Betreuung der umF zu haben. Dabei werden neben durch die Landesjugendämter grundsätzlich genehmigten Berufsgruppen auch Personen angeworben, die pädagogiknahe Qualifikationen mitbringen, und auch Personen, die fachfremd(er) sind. Zu bedenken ist dabei, dass diese Menschen nicht zwangsläufig einfacher zu finden sind. Mit unklaren Zukunftsaussichten und befristeten Vertragsangeboten sind auch sie nicht lange zu halten. Durch Weiterqualifizierung (zum Beispiel Training on the Job) könnten sie aber eine Perspektive eröffnet bekommen.
Viele neue umF können derzeit nicht in "regulären" Jugendhilfesettings untergebracht werden. Standards der Kinder- und Jugendhilfe können in den Übergangslösungen oftmals nicht in Gänze aufrechterhalten werden. Es werden zum Beispiel Hotels, Gaststätten, Jugendherbergen oder Turnhallen angemietet, Betten auch in Jugendämtern oder Zelten bereitgestellt, um umF unterzubringen. Diese werden dort in der Regel durch Fachpersonal betreut; eingesetzt wird bei älteren umF zudem in Nacht- und Wochenendzeiten auch Security-Personal, teilweise ergänzt durch eine pädagogische Rufbereitschaft. Manche umF können erst einmal nur in regulären Gemeinschafts- oder Erstaufnahmeeinrichtungen aufgenommen werden oder werden erst nach einiger Zeit dort "entdeckt". Dies führt zu Abstrichen zum Beispiel bei der pädagogischen Betreuung und bei der Identifizierung von Traumata durch das Fluchtgeschehen.
Die Caritas und ihre Dienste und Einrichtungen arbeiten auf allen Ebenen dafür, dass pädagogisch sinnvolle Unterbringungs- und Betreuungsmöglichkeiten eingerichtet werden können, und kooperieren eng mit den Jugendämtern in den Kommunen und Landkreisen. Die konkreten Übergangslösungen für jede örtliche Situation müssen dabei zwischen den Akteuren auf der Ortsebene gefunden werden, passend für die jeweils spezifischen Rahmenbedingungen.
Wichtig aus der Sicht der Caritas:
◆ Besonders vulnerable Gruppen wie jüngere Kinder und Jugendliche (unter 16-Jährige), Mädchen (die nur einen sehr geringen Anteil der umF ausmachen), umF mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Behinderungen müssen in jedem Fall in "regulären" (Jugend-)Hilfeeinrichtungen und mit den entsprechenden Standards untergebracht werden.
◆ Es muss verhindert werden, dass gerade 18 Jahre alt gewordene umF automatisch wieder aus der Jugendhilfe herausgenommen und zum Beispiel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Dies kann den begonnenen Hilfeprozess konterkarieren.
◆ Nachfolgende Hilfen für umF müssen verstärkt in den Blick genommen werden. Sie brauchen in vielen Fällen psychosoziale Hilfen, Schulplätze, Wohnraum, um selbstständig zu werden, Sprachkurse etc. Dies ist eine weitere Herausforderung, da diese Anschlusssysteme ebenfalls sehr ausgelastet sind.
◆ Die Caritas ist sich der Dringlichkeit der Situation und der Notwendigkeit, Übergangslösungen zu finden sehr bewusst. Gleichzeitig ist es für sie wie für viele anderen Akteure schwierig, zusätzliches Personal und zusätzlichen Wohnraum zu akquirieren. Unterstützend wirkt dabei, dass die Finanzierung von Übergangslösungen durch die Kostenträger kurz- und mittelfristig gesichert sowie die Schaffung von Lösungen in Bezug auf Betriebserlaubnis und eingesetztes Personal rechtssicher geklärt sind. Somit
werden die Risiken für die Träger minimiert und es können neues Personal gewonnen und neue Mietverträge abgeschlossen werden.
◆ Die Caritas spricht sich wie schon im Nachgang der hohen Zuwanderung von umF in den Jahren 2015/2016 für eine Art "Vorhaltesystem" (Plätze und Personal) in der Kinder- und Jugendhilfe aus, um zukünftige Spitzen in der Zuwanderung von umF besser auffangen zu können. Ein kompletter Rückbau der nun mühsam wiederaufgebauten Strukturen ist aus Caritas-Sicht kontraindiziert. Einzelne Kommunen und Länder zeigen sich offen für diese Diskussion. Ob die Umsetzung, die auch an finanziellen Ressourcen hängt, jedoch gelingen kann, bleibt abzuwarten.
Die aktuell sehr herausfordernden Entwicklungen lassen nicht überall optimale, adäquate Lösungen für die unterzubringenden geflüchteten Kinder und Jugendlichen zu. Dennoch sollten Lösungen unterhalb der üblichen Standards immer mit Maß geschaffen werden und nur so lange Bestand haben wie unbedingt notwendig. Es darf keine Jugendhilfe zweiter Klasse entstehen, die umF grundsätzlich benachteiligt. Die Standards von Unterbringung und Einsatz von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe sind die wichtigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zur Erfüllung des durch das SGB VIII vorgegebenen Auftrags des Kindeswohls.3
Anmerkungen
1. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind Personen unter 18 Jahren, die ohne einen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland eingereist sind. In diesem Artikel wird der Begriff unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) genutzt; in der Presse, in den Ministerien und der allgemeinen Öffentlichkeit wird zudem der Begriff unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA)/unbegleitete minderjährige Geflüchtete verwendet.
2. Alle Zahlen: Quelle Bundesverwaltungsamt, tagesaktuell am 24.4.2023; vorgestellt durch das Bundesfamilienministerium in einem Gespräch am 25.4.2023.
3. Siehe auch Köck, T.: Jetzt nachhaltige Lösungen schaffen. In: neue caritas Heft 4/2023, S. 5.
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