Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan – zwischen Hoffen und Bangen
Am 17. Oktober 2022, etwas mehr als ein Jahr nach der Machtergreifung der radikal-islamistischen Taliban in Afghanistan, rief die Bundesregierung das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP AFG) ins Leben. Sie setzte damit ein bereits länger gehegtes Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Weil die Bundesregierung keine diplomatischen Strukturen vor Ort unterhält, hat sie die Zivilgesellschaft eingebunden, um mit ihrer Hilfe das Programm zu verwirklichen. Die Caritas war neben anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Konzeptionsphase des Programms intensiv in den Austausch mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) eingebunden.
Struktur und Verfahren des Aufnahmeprogramms
Laut Bundesregierung sollen mit dem BAP pro Monat circa 1000 besonders gefährdete Afghan:innen mit ihren Familienangehörigen in Deutschland aufgenommen werden. Gemäß der Aufnahmeanordnung des Bundes vom 19. Dezember 2022 sind Personen zur Aufnahme berechtigt, die sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind. Auch können Personen aufgenommen werden, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Religion vulnerabel sind. Dafür müssen aber besondere, einzelfallbegründete Umstände wie eine spezifische Verfolgung oder Gewalterfahrungen vorliegen.
Geeignete Personen sind von sogenannten meldeberechtigten Stellen vorzuschlagen, indem diese die für die Auswahl und Aufnahme erforderlichen Daten in die eigens dafür geschaffenen IT-Anwendungen eintragen. Meldeberechtigte Stellen sind solche, die von der Bundesregierung aufgrund ihrer spezifischen Kenntnisse der infrage kommenden Personen oder Verhältnisse in Afghanistan für dieses Vorschlagsrecht authentifiziert werden. Die teilnehmenden zivilgesellschaftlichen Organisationen werden durch eine vom BMI finanzierte zivilgesellschaftliche Koordinierungsstelle bei diesem Verfahren unterstützt. Die Organisationen erhalten keine finanzielle Unterstützung und sind nicht öffentlich bekannt. Nach den jüngsten Informationen der zivilgesellschaftlichen Koordinierungsstelle bilden derzeit mehrere Dutzend Organisationen die meldeberechtigten Stellen.
Im Fokus des Programms stehen zunächst sogenannte Bestandsfälle, also Personen, zu denen die teilnehmenden Stellen bereits über Informationen verfügen. Auf der Grundlage der vorgelegten Vorschläge und festgelegten Kriterien trifft die Bundesregierung dann die Auswahlentscheidung. Den ausgewählten Personen wird zunächst eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Bislang sind bereits drei Auswahlrunden erfolgt, in denen Personen ausgesucht wurden, die sich für die Aufnahme qualifizieren. Die Bundesregierung hat mehrfach darauf verwiesen, dass alle aufnahmeberechtigten Gruppen berücksichtigt werden und keine Benachteiligung stattfinden soll. Damit haben sowohl aufgrund ihrer früheren Tätigkeit gefährdete Personen als auch besonders vulnerable Personen grundsätzlich eine Chance. Konkrete Aufnahmezahlen wurden bislang noch nicht bekanntgegeben, mit der Begründung, dass erst nach Eruierung der familiär Mitbegünstigten genauer gesagt werden kann, wie viele Aufnahmezusagen es in der jeweiligen Runde letztlich geben wird.
Nach ihrer Einreise erfolgt die Verteilung der ausgewählten Personen auf die Länder unter Berücksichtigung familiärer sowie - nach Möglichkeit - sonstiger integrationsförderlicher Bindungen grundsätzlich nach Maßgabe des für die Verteilung von Asylbewerber:innen festgelegten Schlüssels. Dieser richtet sich nach dem Steueraufkommen und der Bevölkerungszahl des entsprechenden Bundeslandes.
Aufnahmen nur begrenzt möglich
Das BAP AFG ist so konzipiert, dass nur ein bestimmter Personenkreis die Aufnahmekriterien erfüllen kann - dies ist Anknüpfungspunkt der vielfachen Kritik aus der Zivilgesellschaft. Personen in Not haben aktuell keine Anlaufstelle, es sei denn, sie waren schon früher in Kontakt mit einer meldeberechtigten Organisation, der dadurch bereits Informationen über sie vorliegen. Alle anderen werden ohne Perspektive zurückgelassen und können aktuell nicht mit einer Teilnahme am BAP rechnen. Zwar schließt die Bundesregierung es nicht aus, das Programm in Zukunft noch zu öffnen. Ob und wann das sein wird, bleibt allerdings offen. Menschen, die um ihr Leben bangen, bleibt lediglich die Hoffnung auf eine baldige Öffnung.
Hinzu kommt, dass sich nur Menschen für das Programm qualifizieren können, die sich noch in Afghanistan aufhalten. All jene, die bereits in die Nachbarländer, beispielsweise in den Iran oder nach Pakistan, geflohen sind, kommen beim BAP nicht zum Zuge. Dies wiegt deshalb schwer, da die Lebensbedingungen für diese Geflüchteten meist prekär sind. Visa für diese Nachbarländer sind kaum zu beschaffen; viele halten sich mit abgelaufenen Dokumenten dort auf, sind stets von Abschiebung bedroht, aber auch der staatlichen Willkür schutzlos ausgeliefert.
Oft werden in Afghanistan auch die zurückgelassenen Familien von Personen, die bereits ins Ausland geflohen sind, massiv bedroht. Sie können für das BAP nicht berücksichtigt werden, da die Bundesregierung eine sogenannte abgeleitete Gefährdung für das Programm nicht anerkennt.
Auch die Kriterien für vulnerable Personen wurden vielfach kritisiert. Die Tatsache, dass Gewalterfahrungen und/oder Verfolgung vorliegen müssen, schränkt den Kreis stark ein. Gerade für LSBTIQ-Personen endet die erste Begegnung mit den Taliban nicht selten tödlich.
Auch für diejenigen, die in die Datenbank der Bundesregierung eingetragen wurden, ist es keineswegs sicher, dass sie tatsächlich eine Aufnahmezusage erhalten. Aufgrund der begrenzten Aufnahmezahl von derzeit maximal 1000 Personen pro Monat ist nicht gewährleistet, dass alle zum Zuge kommen. Mit der steigenden Zahl der Eintragungen in die Datenbank dürften die individuellen Chancen künftig weiter schwinden.
Weitere Zugangswege nutzen und ausweiten
Zeit ist allerdings angesichts der desolaten und sich zunehmend verschlechternden Situation in Afghanistan ein kritischer Faktor. Je länger die Menschen dort ausharren müssen, umso lebensgefährlicher und aussichtsloser wird es für sie. Deshalb ist es wichtig, dass auch andere Zugangswege in die Europäische Union für Afghan:innen weiterhin offengehalten oder ausgeweitet werden.
In Deutschland gibt es zwar grundsätzlich noch andere Zugangsmöglichkeiten. Allerdings stehen auch diese Wege nur einem begrenzten Personenkreis zur Verfügung, da sie ebenfalls mit strengen Kriterien verknüpft sind. Nach § 22 AufenthG kann beispielsweise aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen sowie zur Wahrung politischer Interessen Deutschlands eine Aufnahme erfolgen. Bei diesen Möglichkeiten handelt es sich allerdings um Einzelfallaufnahmen, die seitens der Bundesregierung in der Regel mit sehr hohen Auflagen belegt sind. Auch der Familiennachzug zu bereits in Deutschland lebenden Angehörigen stellt eine Aufnahmemöglichkeit dar,
die allerdings dringend verbessert werden muss. Problematisch in diesem Zusammenhang ist, dass es in Afghanistan keine deutschen Auslandsvertretungen mehr gibt und dass die Verfahren sehr kompliziert und sehr schleppend verlaufen.
Zusätzlich zum BAP AFG haben sich mehrere Bundesländer, darunter Thüringen, Berlin, Hessen, Bremen und Nordrhein-Westfalen, entschlossen, eigene Landesaufnahmeprogramme für Afghan:innen aufzulegen. Für diese zusätzlichen Programme ist aus Gründen der Bundeseinheitlichkeit das Einvernehmen des Bundes notwendig, damit sie starten können. Es ist daher dringend erforderlich, dass der Bund dort, wo es noch nicht erfolgt ist, schnellstmöglich sein Einvernehmen erteilt, um weiteren bedrohten Menschen helfen zu können.
Auf europäischer Ebene ist das Engagement der EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf Aufnahmeprogramme für Menschen aus Afghanistan noch recht verhalten. Auch wenn einige Mitgliedstaaten, wie Schweden, Finnland oder Belgien, eigene Programme auflegen, so gibt es doch noch eine Vielzahl von Mitgliedstaaten, bei denen ein stärkeres Engagement mit Blick auf Aufnahmen aus Afghanistan wünschenswert wäre.
Angesichts der zeitlichen Dringlichkeit im Hinblick auf die Gefährdungs- und Bedrohungssituation zahlreicher Menschen, die in Afghanistan um ihr Leben bangen, ist es dringend notwendig, dass die Prozesse beschleunigt werden.
Auch wenn das deutsche Bundesaufnahmeprogramm weltweit eine Vorreiterrolle einnimmt, weist es doch noch deutliches Verbesserungspotenzial auf. Entscheidend ist, dass es durch bestehende alternative Zugangswege flankiert wird und diese aufrechterhalten und ausgebaut werden. Wichtig ist außerdem, dass
trotz der hohen Aufnahmezahlen aus der Ukraine
Afghanistan nicht vergessen werden darf. Weitere EU-Mitgliedstaaten sollten sich verstärkt engagieren, um sich auch bei der Aufnahme von Menschen aus Afghanistan solidarisch zu zeigen. Denn vielen bleibt nur die Hoffnung auf eine Ausreise, um zu überleben.
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