Mehr Personal in Pflegeheimen tut not
Für die Pflege ist es unerlässlich, sowohl den quantitativen als auch den qualitativen Personalbedarf in Pflegeheimen fachlich begründet zu ermitteln. Die Studie "Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß § 113 c SGB XI1 - kurz PeBeM - lieferte dafür ein Instrument (siehe dazu auch neue caritas Heft 20/2019, S. 12). Die schrittweise Einführung des auf der Studie basierenden Verfahrens für vollstationäre Pflegeeinrichtungen soll einer Roadmap folgen. Diese hat ab dem 1. Januar 2021 bundesweit die Einstellung von 20.000 zusätzlichen Pflegehilfskräften vorgesehen. Trotz großer Anstrengung konnten die Pflegeeinrichtungen bis dato nur circa 25 Prozent der Stellen besetzen. In weiteren Schritten soll im Rahmen eines Modellprogramms die Entwicklung und Erprobung der Konzepte in vollstationären Pflegeeinrichtungen kalkuliert werden. Zugrunde liegt eine am Algorithmus 1.0 orientierte Personalausstattung, anhand der die zweite Personalausbaustufe entwickelt wird (Algorithmus 2.0). Ab Mitte 2023 sollen begleitende, flächendeckende Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung in vollstationären Pflegeeinrichtungen auf Grundlage der ersten Ergebnisse des Modellprogramms implementiert werden. Abhängig von der Arbeits- und Ausbildungsmarktlage werden weitere Personalausbaustufen in Aussicht gestellt.2
Schwierigkeiten bei der Implementierung des Verfahrens sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege neben der Ausbildung der Pflegeassistenzkräfte in der aktuellen Intransparenz des Algorithmus 1.0. Seine hundertprozentige Umsetzung vor allem im anstehenden Modellprogramm (ab Sommer 2022) steht infrage; dieses Modellprogramm wiederum soll der Modifizierung und Berechnung des Algorithmus 2.0 dienen. Darüber hinaus sind die Fragen der Refinanzierung höherer Personalkosten (ohne dass die Bewohner:innen weiter belastet werden), die Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs insbesondere in der Langzeitpflege und die noch ausstehende Verzahnung von Ordnungsrecht auf Länderebene und Leistungsrecht auf Bundesebene relevant für die erfolgreiche Umsetzung.3
Die in der Folge des PeBeM-Projekts ermittelten Personalschlüssel wurden durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) bereits im § 113 c SGB XI verankert und gelten ab dem 1. Juli 2023. Tabelle 1 zeigt eine beispielhafte Gegenüberstellung der bisherigen Stellenberechnung für Baden-Württemberg und der ab dem 1. Juli 2023 gültigen Berechnung
der Pflegepersonalstellen für eine fiktive Beispieleinrichtung mit 60 Plätzen und einer Belegungsstruktur, die der prozentualen Verteilung der Pflegegrade vollstationär Pflegebedürftiger im Jahr 2019 entspricht. In Baden-Württemberg sind über diese pflegegradabhängige Personalberechnung hinaus Sonderstellen für Pflegedienstleitung (PDL) und Qualitätsmanagement (QMB) verhandelbar (siehe Tabelle 1, oben).
Vor allem die Einrichtungen mit bereits heute hohen Personalschlüsseln werden länderübergreifend von der geplanten ersten Umsetzungsstufe des PeBeM zum 1. Juli 2023nicht profitieren. Möglicherweise müssen sie sogar wegen der unklaren Besitzstandsregelungen mit einer Reduzierung der Personalstellen rechnen.
Kritik schon zu Beginn
Bereits als der Abschlussbericht PeBeM4 veröffentlicht wurde, wurden kritische Stimmen laut. Für die Gewerkschaft Verdi bleibt das Verfahren weit hinter dem benötigten Personalbedarf zurück. Sie bewertet die schleppende Umsetzung der Roadmap als "absolut falsches Signal an die Beschäftigten"5. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) fordert mehr Ehrgeiz und eine zügige verbindliche Zusage über die Endausbaustufe.6 Der Deutsche Pflegerat moniert eine Verschiebung der bewohnernahen Pflegeleistungen hin zu Assistenzkräften, deren Anteil deutlich ansteigen soll. Er weist darauf hin, dass allein mit einer quantitativen Erhöhung des Pflegepersonals keine bessere Pflege sicherzustellen sei. Vor diesem Hintergrund wird auch bemängelt, dass spezialisierte oder akademisch qualifizierte Pflegende nicht berücksichtigt wurden.7
Methodische Kritik an der Vorgehensweise zur Entwicklung des Personalbemessungssystems PeBeM äußert unter anderem die Pflegewissenschaftlerin SabineBartholomeyczik. Sie führt an, dass bei der Datenerfassung für die PeBeM-Studie die Bewohnerperspektive nicht berücksichtigt und die Leistungen hochschulisch qualifizierter Pflegender nicht erfasst worden sind. Außerdem seien wesentliche Tätigkeiten und Leistungszeiten, wie zum Beispiel laufende Pflegediagnostik, Einzug neuer Bewohner:innen, Advanced Care Planning, Sterbebegleitung, Nachtdienste oder spezielle Pflegekonzepte (zum Beispiel Kinästhetik) nicht erhoben worden.8
Die methodische Kritik des Pflegewissenschaftlers Albert Brühl zielt darauf ab, dass das Forschungsdesign des PeBeM-Projekts die mögliche Varianz von Leistungszeiten unterschätzt, weil keine Vollerhebungen aller Bewohner:innen eines Wohnbereichs stattgefunden haben und keine inhaltlich voneinander unabhängigen Variablen als erklärende und unabhängige Variablen verwendet wurden.9 Daraus ergebe sich eine Funktionalität der Pflegegrade, die als methodisches Artefakt einer strengeren wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalte, so Brühl. Empirisch entwickelte Personalbemessungsinstrumente, denen nicht valide Pflegebedürftigkeitsassessments10 zugrunde lägen, eigneten sich ebenso wenig für ein Personalbemessungsverfahren wie Instrumente, die auf der Summierung von Einzelleistungszeiten basierten, so Brühl. Die dabei verwendeten Mittelwerte seien aufgrund der nicht gegebenen Normalverteilung der gemessenen Zeitwerte nicht verallgemeinerbar und die Summierung dieser Zeiten überschätzten den tatsächlichen Pflegeaufwand.11 Dieses Problem ergab sich bereits in der Testphase des Verfahrens "PLAISIR".12
Diese Kritik bestätigt die bereits im Jahr 2016 geäußerten Befürchtungen, dass das im Projekt PeBeM als Personalbemessungsinstrument entwickelte Verfahren aufgrund der bereits in der Projektausschreibung sichtbaren fachlichen und methodischen Fallstricke "das Risiko […] [berge], dass unzulängliche Instrumente die prekäre (Personal)Situation der Langzeitpflege weiter verschärfen werden"13.
Wichtige Themen der Pflege haben keine wissenschaftliche Lobby
Nach wie vor haben die zentralen Themen der Pflege wie Pflegepersonalbemessung, Pflegequalität und Pflegebedürftigkeit keine Lobby in der Wissenschaftsförderung, wie erneut auch die aktuelle Ausschreibung zum PeBeM-Modellprogramm zeigt. Alleine aufgrund der Gewichtung der vorgegebenen Kriterienim Ausschreibungsprozess können auch im Modellprogramm nur schwerlich inhaltskritische Ergebnisse produziert werden.
Wissenschaftliches Vorgehen zeichnet sich durch Methodenvielfalt und durch eigenständiges und begründetes Erkenntnisinteresse aus. Für Themen und Fragen der Pflegeforschung wird dies - vor allem bei kostenintensiven - Pflegethemen dadurch erschwert, dass sich die Wissenschaftler:innen in Konsensprozessen mit politischen Vertreter:innen zum Vorgehen in den "pflegewissenschaftlichen" Forschungsprojekten abstimmen müssen.14 Damit entsteht der Eindruck, dass es politisch gar nicht gewollt ist, alternative Herangehensweisen zu entwickeln, zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren. Das Potenzial veröffentlichter Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Pflegebedürftigkeit, Pflegequalität und Personalaustattung15 wird in weiteren Studien nicht genutzt und weiterentwickelt, weil der (politische) Geldgeber auf einen einzigen Lösungsansatz setzt, den er inhaltlich mitgestalten kann. Die damit verletzte Freiheit der Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 (3) GG) fügt sich damit nahtlos in die bereits seit langem bestehende internationale Kritik an den Zuständen der deutschen Langzeitpflege ein.
UN-Menschenrechtskommission kritisiert deutsche Pflegeheime
So hat die UN-Menschenrechtskommission bereits zum dritten Mal in Folge Missbrauch, einschließlich Vernachlässigung, sowie den körperlichen, psychischen und sexuellen Missbrauch von älteren Menschen in deutschen Pflegeheimen kritisiert.16 Vor vier Jahren forderte die Kommission eine Verbesserung der Personalausstattung in deutschen Heimen.17 Im Jahr 2021 zeigt sich die Kommission neben den genannten Vorwürfen zudem besorgt über "die Anwendung der mechanischen und chemischen Fixierung bei Menschen mit psychosozialen Behinderungen und älteren Menschen in Einrichtungen der stationären Pflege".18
Die Ergebnisse der PiBaWü-Studie der Pflegewissenschaftler:innen Brühl und Planer belegen die vergleichsweise geringe Personalausstattung in Deutschland (BW) im Vergleich zu den USA19 Deutlich wird, dass die um 20 bis 50 Prozent bessere amerikanische Personalausstattung durch das PeBeM nicht einmal ansatzweise wird kompensiert werden können (siehe Tabelle 2, oben).
Fazit: Abwägen, was Vorrang hat
Bereits vor der Coronapandemie war die stationäre Langzeitpflege maximal belastet. Die Pandemie förderte die Überlastung weit über die Schmerzgrenzen aller Beteiligten hinaus mit einer häufig in der Öffentlichkeit totgeschwiegenen Dramatik zutage.20 Das geplante Modellprogramm zur Umsetzung des Personalbemessungsinstruments PeBeM konnte bislang nicht starten. Die Auswirkungen der Pandemie sowie zeit- und personalintensive Verhandlungen über Details und Auslegungsfragen verzögern diesen Prozess. In der Abwägung zwischen Aufwand und Effekt wäre es Pflegenden und Pflegebedürftigen zu wünschen, dass Verantwortliche darüber nachdenken, ob sie das Instrument tatsächlich für geeignet halten, die Personal- und Menschenrechtsproblematik der Langzeitpflege zu lösen. Vielmehr sollte die Politik aufgefordert werden, endlich eine spürbare Verbesserung der personellen Ausstattung unbürokratisch durch die normative Vorgabe deutlich höherer Personalanhaltszahlen auf den Weg zu bringen. Der (Pflege-)Wissenschaft kann es dann überlassen werden, empirisch zu untersuchen, welche Pflegequalität sich mit welcher Personalausstattung unter welchen Organisationsbedingungen erzielen lässt.
Anmerkungen
1. Rothgang, H.; Cordes, J.; Fünfstück, M.; Heinze, F.; Kalwitzki, T.; Stolle, C.; Becke, G.: Abschlussbericht im Projekt Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß § 113 c SGB XI (PeBeM), 2020. Kurzlink: https://bit.ly/3HWrLEa
2. Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Roadmap zur Verbesserung der Personalsituation in der Pflege und zur schrittweisen Einführung eines Personalbemessungsverfahrens für vollstationäre Pflegeeinrichtungen. Berlin, 2021. Kurzlink: https://bit.ly/3OICtQU
3. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW): Positionen der BAGFW zur Umsetzung der Personalbemessung nach § 113 c SGB XI. Berlin, 2022. Kurzlink: https://bit.ly/3a11uYT
4. Rothgang et al.: Abschlussbericht, a. a. O.; siehe auch Rothgang, H.; Görres, S.; Darman-Finck, I.; Wolf-Ostermann, K.; Becke, G.; Brannath, W.: Zweiter Zwischenbericht. Bremen, 2020. Kurzlink: https://bit.ly/3npdOFi
5. Verdi: Langsam, unkonkret, unverbindlich. Berlin, 2021. Siehe PM unter Kurzlink: https://bit.ly/3xXsfW1
6. Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK): Personalausbau entschlossener angehen. Gesundheitsministerium veröffentlicht Roadmap zur Personalbemessung. Berlin, 2021. Kurzlink: https://bit.ly/3noEJkQ
7. Deutscher Pflegerat (DPR): Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege. DPR kritisiert Neuverteilung zwischen Pflegefachpersonen und Assistenz. In: Heilberufe, 4 (72) 2020, S. 64-65.
8. Bartholomeyczik, S.; Höhmann, U.; Weidner, F.: Pflegepersonalbemessung in der stationären Altenpflege. Kritische Anmerkungen zum Projekt PeBeM. In: Die Schwester/Der Pfleger, 60 (2) 2021, S. 56 f.
9. Brühl, A.; Rothgang, H.: Einheitliches Personalbemessungsverfahren in der stationären Langzeitpflege: Schlagabtausch um das PeBeM. In: Carekonkret 23 (43) 2, 2020.
10. Brühl, A.; Planer, K.: PiBaWü - Zur Interaktion von Pflegebedürftigkeit, Pflegequalität und Personalbedarf. Freiburg: Lambertus, 2019.
11. Brühl, A.; Planer, K.: Avis de la Cellule d’expertise médical: analyse et propositions relatives à la modernisation de la nomenclature des actes et services des infirmiers. Vallendar, 2014, S. 31 ff. Kurzlink: https://bit.ly/3A9LgY0
12. Gennrich, R.; Bösel, S.: Qualitative und quantitative Erfassung des erforderlichen Pflegezeit- und Personalbedarfs in deutschen Altenpflegeheimen. Erprobung des Verfahrens PLAISIR in elf Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt. Abschlussbericht der KDA Beratungs- und Forschungsgesellschaft für Altenhilfe mbH, Band 225 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart: Kohlhammer, 2002.
13. Planer, K.; Brühl A.: Pflegewissenschaft muss Position beziehen. Stellungnahme zu den Ausschreibungen zur Instrumentenentwicklung in den Bereichen Personalbemessung und Pflegequalität des Qualitätsausschuss Pflege e. V. In: Pflege & Gesellschaft. Zeitschrift für Pflegewissenschaft 22 (2) 2017, S. 183.
14. Ebd., S. 182; Rothgang, H. et al., 2020, S. 200, a. a. O.
15. Brühl et al., 2014 und 2019, a. a .O.
16. UN Human Rights Committee: Concluding observations on the seventh periodic report of Germany vom 30. November 2021, S. 7. Az. CPR_C_DEU_CO_7. (Kurzlink: https://bit.ly/3QWXrxh)
17. UN Human Rights Committee: Concluding observations on the sixth periodic report of Germany vom 27. November 2018, S. 7. Az. E/C.12/DEU/CO/6. Kurzlink: https://bit.ly/3bPxakn
18. UN Human Rights Committee, 2021, a. a. O., S. 7.
19. Brühl et al., 2019, S.113.
20. Moll, C.: Nicht schon wieder Besuchsverbote in Pflegeeinrichtungen! Pressemitteilung der Bevollmächtigten der Bundesregierung für Pflege. Berlin, 2022 (www.pflegebevollmaechtigte.de).
Vorreiter werden alleingelassen
Jeder sollte seine Stärken einbringen
Den verschiedenen Interessen gerecht werden
Viel Bürokratie, aber weiterhin steuerbefreit
Caritaspanel 2022: Wie attraktiv sind Arbeitsplätze in Zeiten von Corona?
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