Die Möglichkeiten ausschöpfen
Das Thema "Psychische Erkrankungen" ist aktueller denn je: Der 2019 veröffentlichte Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) zeigt, dass in Deutschland im Jahr 2018 jede(r) 18. Arbeitnehmer(in) wegen einer psychischen Erkrankung im Job fehlte.1 Ausgehend von den Daten der DAK-Gesundheit waren damit hochgerechnet 2,2 Millionen Menschen betroffen. Aufgrund der Coronapandemie und deren Auswirkungen ist mit einem Anstieg psychischer Erkrankungen zu rechnen.
Seit etwa 15 Jahren nehmen psychische Erkrankungen als Ursache von Arbeitsunfähigkeit zu. Laut Psychreport 2021 der DAK nahm zwischen 2010 und 2020 die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 56 Prozent zu.2 Depressionen, Angsterkrankungen und andere psychische Störungen sind inzwischen die vierthäufigste Diagnose bei Krankmeldungen.
Im Sektor Arbeitsleben verursachen psychische Erkrankungen inzwischen etwa 15 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage und sind mittlerweile der häufigste Grund für eine Frühverrentung. Seit Jahren liegen die Fälle verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen unverändert hoch - aktuell bei 43 Prozent. Bemerkenswert ist, dass etwa 50 Prozent der Menschen, die deshalb aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind, in den letzten fünf Jahren vor ihrem Ausscheiden eine rehabilitative Maßnahme absolviert haben.
Nicht nur für die betroffenen Menschen selbst sind auch aus unternehmerischer sowie volkswirtschaftlicher Sicht die Konsequenzen erheblich: Nach der vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Krankheitskostenrechnung vom 29. September 2017 verursachten psychische Krankheiten und Verhaltensstörungen Kosten in Höhe von 44,4 Milliarden Euro.3 Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes belaufen sich die Krankheitskosten wegen psychischer Erkrankung auf fast 30 Milliarden Euro.
Dabei stellen viele Untersuchungen und Studien, die sich mit psychischen Erkrankungen und deren Entwicklungen befassen, auch Fragen wie: "Sind wir heute anders krank? Nehmen psychische Beeinträchtigungen zu? Sind wir nicht mehr so belastbar? Macht uns die Arbeit krank?" Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass zwar im Vergleich zu früher psychische Beeinträchtigungen heute wesentlich häufiger diagnostiziert und erfasst werden. Hieraus allerdings abzuleiten, dass psychische Beeinträchtigungen zunehmen, wäre zu kurz gegriffen. Genauso voreilig wäre es, sich wandelnde Arbeitsbedingungen verantwortlich zu machen. Bei arbeitslosen Menschen treten psychische Auffälligkeiten mit Krankheitswert mit 34 Prozent fast doppelt so häufig auf wie bei Erwerbstätigen. Für die seelische Stabilität haben Arbeit und Beschäftigung eine zentrale Bedeutung: psychologisch über die Wertschätzung persönlicher Leistungen, sozial durch Kontakte und Status, materiell durch finanzielle Anerkennung.
Betriebe sind aufgefordert, hinzuschauen
Psychisch erkrankte Beschäftigte haben es deutlich schwerer, sich zu behaupten. Wenn der Verlust des Arbeitsplatzes erst einmal eingetreten ist, sinken mit zunehmender Arbeitslosigkeit die Chancen auf Wiedereingliederung. Was können Betriebe tun? Wie können Betriebe unterstützt werden? Welchen Beitrag kann unser soziales Sicherungssystem leisten?
◆ Hinschauen und der eigenen Wahrnehmung vertrauen;
◆ handeln, wenn es nötig erscheint;
◆ sich nicht überfordern;
◆ fachliche Unterstützung hinzuziehen
Diese vier Kernbotschaften richten sich an Arbeitgeber, Vorgesetzte, Kolleg(inn)en und das betriebliche Integrationsteam. Doch vielfach reicht das Engagement der Betriebe allein nicht aus, um psychischen Erkrankungen und deren Auswirkungen entgegenzusteuern. Professionelle Unterstützung, frühzeitige ambulante psychotherapeutische Behandlungsangebote sowie beruflich orientierte Rehabilitation wirken der Entstehung und Chronifizierung psychischer Erkrankungen und der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben entgegen. In der Praxis erschweren allerdings fehlende Angebote und demzufolge oft lange Wartezeiten einen frühzeitigen und schnellen Zugang zu den Hilfen.
Und mit den zur Verfügung stehenden Leistungen zur Teilhabe kann für Menschen mit psychischer Erkrankung die Wiedereingliederung gelingen.
Das Netz an Hilfen bekannter machen und einsetzen
Das gegliederte Sozialleistungssystem bietet ein Netz an Hilfemöglichkeiten. In der Verantwortung stehen und sehen sich hier auch die Rehabilitationsträger, die ihnen zur Verfügung stehenden Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation einzusetzen, sie in Betrieben noch stärker bekanntzumachen, Betriebe bei der Umsetzung zu unterstützen.
Um arbeiten zu können, benötigen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen und Unterstützungsangebote. Fehlen diese, haben sie schlimmstenfalls keine Möglichkeit, erwerbstätig zu sein, zu bleiben oder es wieder zu werden. Dann sind viele auf Arbeitsplätze außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes, vorrangig auf Werkstätten für behinderte Menschen, angewiesen.
Für die Teilhabe am Arbeitsleben beziehungsweise die Wiedereingliederung stehen an Unterstützungsmöglichkeiten zum Beispiel zur Verfügung:
◆ das betriebliche Eingliederungsmanagement,
◆ Hilfen zur Krankheits-/Behinderungsbewältigung,
◆ Trainings-, Integrationsmaßnahmen,
◆ berufliche Anpassung,
◆ Weiterbildung,
◆ Umschulung,
◆ Beschäftigung in einem Inklusionsbetrieb,
◆ Unterstützte Beschäftigung,
◆ das Budget für Arbeit.
Das Krankheitsbild ist vielschichtig - deshalb gibt es eine Vielfalt an Unterstützungsangeboten. Die zeigt sich auch an den Einrichtungen, die Leistungen für psychisch Kranke erbringen. Hierzu zählen:
◆ Reha-Kliniken,
◆ Berufsbildungswerke,
◆ Berufsförderungswerke,
◆ Berufsförderzentren,
◆ Berufstrainingszentren,
◆ Integrationsfachdienste,
◆ Einrichtungen für die Rehabilitation psychisch Kranker (RPK-Einrichtungen),
◆ Werkstätten für behinderte Menschen,
◆ Tagesstätten.
Im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen sind die Verläufe bei psychischen Erkrankungen meist langwieriger und häufig nicht linear, sondern zyklisch. Ebenso sind die Grenzen fließend: Zwischen einer psychischen Erkrankung und psychischen Problemen, die (noch) keinen Krankheitswert haben, ist die Grenze nicht einfach und nicht exakt zu ziehen. So können sich schon psychische Probleme ohne Krankheitswert auf die Motivation, die sozialen Beziehungen und auf das Leistungsvermögen negativ auswirken.
Was Wiedereingliederung fördert
Dem betrieblichen Umfeld kommt eine besonders wichtige Rolle im Umgang mit seelischen Erkrankungen und Krisen zu: Vorgesetzte, Kolleg(inn)en, Betriebs- und Personalräte und Schwerbehindertenvertretungen zählen vielfach zu den Ersten, die auffallende Veränderungen wahrnehmen. Dem Bemühen, angemessen zu reagieren und die Betroffenen zu unterstützen, stehen noch oft genug Hemmungen, Unsicherheiten im Umgang und auch Ängste entgegen. Hier geht es um die Angst der Arbeitgeber, dass Mitarbeiter(innen) Ausfalltage anhäufen. Um die Angst der Beschäftigten, die Arbeit ihres psychisch kranken Kollegen mitübernehmen zu müssen. Um die Angst der Betroffenen selbst, den Anforderungen eines Arbeitsplatzes nicht oder nicht mehr genügen zu können.
Mehr Öffentlichkeitsarbeit nötig
Für den Erfolg braucht es passgenaue und abgestimmte Interventions- und Unterstützungsansätze. Es gilt, die Schwere der seelischen Erkrankung, die individuellen Ressourcen des Menschen, die Anforderungen am Arbeitsplatz und in der Lebenswelt, die Lebensumstände im Sinne von Personenzentrierung in ein positives Passungsverhältnis bringen.
Viele Barrieren bestehen immer noch aus Unkenntnis der rechtlichen und der betrieblichen Unterstützungsmöglichkeiten, um Beschäftigte mit psychischen Problemen vor einer Verschlimmerung, vor Arbeitsplatzverlust zu schützen oder ihnen nach längerer Arbeitsunfähigkeit die Rückkehr in den Betrieb zu ermöglichen.
Wichtig wird sein, mehr Handlungssicherheit in den Unternehmen und in der öffentlichen Verwaltung beim Umgang mit psychischer Belastung zu erzeugen. Dazu zählen gezielte Öffentlichkeitsarbeit über die Möglichkeiten des Sozialleistungssystems, Netzwerke zwischen Sozialleistungsträgern und Unternehmen und ebenso einschlägige Fortbildungen für Vorgesetzte in den Unternehmen.
Besser geht immer
"Der Feind des Besseren ist das Gute." Damit Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ins Arbeitsleben gelingt, ist immer auch die Frage nach Verbesserungsbedarfen zu stellen. Einschlägige Untersuchungen und Erfahrungsberichte zeigen dafür ganz konkrete Ansatzpunkte:
◆ den Bedarf frühzeitig erkennen,
◆ den Zugang zu den Maßnahmen erleichtern,
◆ das Personal im psychosozialen Bereich ausbilden,
◆ Versorgungsangebote ausbauen,
◆ Wartezeiten verkürzen,
◆ passgenaue Zugangssteuerung in die Maßnahmen verbessern,
◆ die Übergänge im Reha-Prozess durch professionelle Teilhabeplanung gestalten,
◆ den Erfolg von Reha sichern: nachhaltige Nachsorgeangebote ausbauen.
Auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des damit verbundenen Fachkräftemagels, aber auch mit den ganz aktuellen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Sars-CoV-2-Pandemie braucht es weiterhin Anstrengungen, die Teilhabe am Arbeitsleben zu verbessern.
Anmerkungen
1. Marschall, J.; Hildebrandt, S.; Nolting, H.: DAK-Gesundheitsreport 2019. Kurzlink: https://bit.ly/31lyvdK
2. DAK Gesundheit: Psychreport 2021. Entwicklungen der psychischen Erkrankungen im Job: 2010-2020. 2021. Kurzlink: https://bit.ly/31kNi8d
3. Destatis, PM vom 29. September 2017, Kurzlink: https://bit.ly/3pvDe4Z
Literatur
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (Hrsg.): Arbeitshilfe Rehabilitation und Teilhabe psychisch erkrankter und beeinträchtigter Menschen. Frankfurt a.M., 2020, www.bar-frankfurt.de DGPPN (Hrsg.): Psychische Erkrankungen in Deutschland: Trialogische Perspektiven. Berlin, 2020
Zu wenig für die Armen
Zukunftsmut und Zukunftskunst
Allein erziehen bedeutet oft alleingelassen
Wir sind und bleiben da
Bye, bye – oder darf es ein bisschen mehr sein?
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}