Armut bleibt in der Familie
Später als erwartet wurde der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorgelegt. Grund für die Verzögerung ist die Pandemie. Es ist der Regierung hoch anzurechnen, dass sie schnell durch erste Sondergutachten die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der Coronakrise wissenschaftlich untersuchen ließ. Der Bericht gibt so einen sehr umfassenden Einblick in die Entwicklung von Armut und Reichtum vor und während der Pandemie. Er zeichnet dabei ein schillerndes Bild zur Lage in Deutschland.
Es findet sich eine Reihe positiver Befunde. Beschrieben wird eine Phase wirtschaftlichen Wachstums bis Ende 2020, die mit einer sehr günstigen Beschäftigungsentwicklung sowie dem Rückgang von Arbeitslosigkeit, befristeter Beschäftigung und unfreiwilliger Teilzeit einherging.1 Die Zahl der Personen, die von Mindestsicherungen leben, liegt auf einem Tiefstand. Auch die Quote der erheblichen materiellen Deprivation (Verzicht auf drei von neun wichtigen Gütern und Aktivitäten aus Geldmangel) ist seit 2013 kontinuierlich gesunken.2
Dennoch liegen die Armutsquoten je nach Datenquelle seit 2015 relativ stabil zwischen 15 und 16,5 Prozent. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit ist in etwa konstant geblieben.3 Die Vermögensungleichheit stagniert dabei auf hohem Niveau.4 Die gute wirtschaftliche und konjunkturelle Entwicklung hat also nicht zu einem Sinken der sozialen Ungleichheit geführt.5
Prognose für Armutsverfestigung hat sich erhöht
Sozialpolitisch sehr bedenklich ist der Befund des Berichts, dass eine Verfestigung von Armut im Lebensverlauf festzustellen ist. Seit den 1980er-Jahren hat der Anteil der Personen, die sich in der untersten sozialen Lage "Armut", und derer, die sich in der obersten Lage "Wohlhabenheit" befinden, jeweils kontinuierlich von acht Prozent der Bevölkerung Mitte der 1980er-Jahre auf heute 20 Prozent zugenommen. Die jeweils angrenzenden Lagen bleiben über die Zeit in der Größe erstaunlich stabil.6 Dies führt insgesamt zu einer Polarisierung von Armut und Reichtum und damit verbunden zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft. Erschreckend: Die Wahrscheinlichkeit für Menschen in der sozialen Lage "Armut", dieser Lage auch in der nächsten Fünfjahresperiode weiterhin anzugehören, ist von 40 Prozent in den 1980er-Jahren auf aktuell 70 Prozent angestiegen.7 Diese Entwicklung geht mit einem leichten Anstieg der Niedrigeinkommensquote und vor allem mit einer Verfestigung und Konzentration von Langzeitarbeitslosigkeit einher.
Armut geht auf die Kinder über, verstärkt durch die Pandemie
Besonders dramatisch ist die Lage für Kinder aus einkommensarmen Familien. Aufgezeigt wird, dass ein hoher Anteil von ihnen sich auch noch im jungen Erwachsenenalter in der gleichen sozialen Lage befindet.8 Auch wenn das Bildungssystem sozial durchlässig ist, bleibt die materielle Ausstattung des Elternhauses weiterhin ein entscheidender Faktor für die Chance auf den Ausstieg aus der Armutslage.9
Die Bundesregierung befürchtet, dass die Pandemie das Risiko birgt, "die bestehende Ungleichheit mittel- oder sogar langfristig zu erhöhen und Fortschritte bei der Gleichstellung rückgängig zu machen"10: Herausgearbeitet werden die hohen Belastungen, die Familien mit Kindern durch die Schulschließungen zu bewältigen haben. Es zeigt sich, dass Familien mit niedrigem Einkommen und/oder geringem Bildungsstatus von alledem deutlich stärker betroffen sind, denn der Lockdown bedeutet für sie ein Leben auf engem Raum, häufig fehlende Zugänge zu digitalem Homeschooling sowie fehlende Lernbegleitung.11
Der Sozialstaat bewirkt viel, aber noch nicht genug
Diese Befunde werfen die Frage auf, wie es besser gelingen kann, die Abwärtsspiralen der Armut zu durchbrechen.12 Die positive Nachricht des Berichts ist: Der gut ausgebaute Sozialstaat wirkt. Soziale Transfers tragen deutlich zur Armutsbekämpfung bei und reduzieren das Armutsrisiko erheblich - 2017 um rund ein Drittel. Besonders stark profitieren Kinder.13 Familienpolitische Leistungen wie der Kinderzuschlag und der Unterhaltsvorschuss sowie das Wohngeld weisen ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis auf.14 Aber offensichtlich reicht das nicht aus, Verfestigungen aufzubrechen und Armut präventiv zu bekämpfen. Ein interessanter Forschungsbefund, auf den die Wochenzeitung "Die Zeit" am 10. Juni 2021 aufmerksam gemacht hat, findet sich leider nicht im Bericht: Jan Skopek zeigt auf, dass Bildungsungleichheit bereits wenige Monate nach der Geburt sichtbar wird.15 Seine Forschungserkenntnisse sind ein Appell, entschieden das Augenmerk auf die Zeitspanne und die Unterstützungsleistungen vor der Schule zu lenken.
Es braucht mehr Empirie
Tatsache ist: Wir wissen im Moment wenig über die Bedeutung einzelner Maßnahmen der sozialen Infrastruktur für Armutsprävention und -bekämpfung, obwohl dieser Armuts- und Reichtumsbericht der erste ist, der die Verfügbarkeit und Inanspruchnahme von Angeboten der Daseinsvorsorge überhaupt untersucht hat: Auf Grundlage von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) wurden hier die Inanspruchnahme von Bildungs- und Kinderbetreuung, Kultur- und Unterhaltungsangeboten, des geförderten Wohnungsbaus und von Versicherungsleistungen des Gesundheitssystems analysiert und in einem aufwendigen Verfahren in geldwerte Summen umgerechnet.16 Im Ergebnis zeigt sich, dass Angebote der Daseinsvorsorge die soziale Ungleichheit leicht abmildern. Den stärksten umverteilenden Effekt haben Bildungseinrichtungen von der Sekundarstufe aufwärts sowie der soziale Wohnungsbau.17
Der Beitrag einzelner sozialer Dienstleistungen für die Prävention und die Überwindung verfestigter Armut ist nur punktuell untersucht worden. Dies ist zum Beispiel bei der Schuldnerberatung der Fall.18 Herausgearbeitet wird auch die Bedeutung der frühen Hilfen für die Armutsprävention und -bekämpfung, die aus Sicht der Caritas flächendeckend als Regelangebot für Eltern ausgestaltet werden müssten.19 Bereits diese zwei Beispiele zeigen die hohe Bedeutung von zugänglichen Angeboten sozialer Daseinsvorsorge für eine nachhaltig wirksame Armutsbekämpfung im Lebensverlauf.
Eine systematische Untersuchung der Verfügbarkeit, Erreichbarkeit und Inanspruchnahme sozialer Infrastruktur auch mit Blick auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse fehlt, so dass ihr Beitrag zur Überwindung ungleicher Teilhabechancen bisher nicht gemessen werden kann. Klar ist, dass hierzu umfangreiche Forschungsarbeiten notwendig wären, auch zur regionalen Verteilung, denn erste Erkenntnisse des Berichts zeigen beispielsweise deutliche Ungleichheit bei der Armutsverteilung zwischen Ost- und Westdeutschland.20 Ein Anfang ist hier bereits mit dem Deutschlandatlas21 gemacht, den die Bundesregierung im Rahmen der Kommissionsarbeit "Gleichwertige Lebensverhältnisse" in Auftrag geben hat. Er enthält Daten zur regionalen Verteilung von ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Kinderbetreuungseinrichtungen und zur Erreichbarkeit von Hausärzt(inn)en und Apotheken.
Mehr Erkenntnisse sind jedoch nötig zur konkreten Wirkung einzelner sozialer Dienstleistungen. Die Wirkungsanalyse darf sich dabei nicht allein auf monetäre Aspekte und - damit einhergehend - die ökonomische Dimension beschränken. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) hat in einem richtungsweisenden Papier 2015 zu Recht sehr gut herausgearbeitet, dass drei Hauptdimensionen in den Blick genommen werden müssen:
◆ die subjektive Perspektive der konkreten Nutzer(innen) und ihrer Angehörigen,
◆ die objektivierende fachliche Perspektive des Personals und der Einrichtungen und Dienste sowie
◆ die gesellschaftliche Perspektive der sozialen Umwelt (zum Beispiel Bevölkerung, Staat).22
Sinnvoll ist hier interdisziplinäre Forschung, denn es wird zum Beispiel auch darum gehen, zu sehen, wie sich Maßnahmen auf die gesundheitliche und die wirtschaftliche Situation auswirken oder welche rechtlichen Rahmenbedingungen verändert werden müssen. Das neu gegründete Deutsche Institut für interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) könnte hier beim Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Politik eine Schlüsselrolle einnehmen. Auch die Caritas sollte die Wirkungsorientierung stärker in den Blick nehmen und das Datenmanagement in diesem Bereich verbessern. Damit könnte sie die Forschung zentral bei der Wirkungsanalyse unterstützen und qualitative Erkenntnisse für eine bessere Armutsprävention und -bekämpfung zutage fördern.
Anmerkungen
1. Lebenslagen in Deutschland. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregie[1]rung. Kurzbericht, S. XI. Download per Kurzlink: https://bit.ly/2UoqpO
2. Ebd., S. XIII-XIV
3. Langfassung des Sechsten Armuts- und Reichtumsberichts, S. 150. Download per Kurzlink: https://bit.ly/3wW2RO3
4 . Kurzbericht, S. XIV.
5. Ebd., S. I
6. Langfassung, S. 139.
7. Ebd., S. 142
8. Ebd., S. 143.
9. Kurzbericht, S. XIII
10. Ebd., S. II
11. Langfassung, S. 6.
12. Zu den politischen Aufgaben für die nächste Legislaturperiode hat der Deutsche Caritasverband ausführlich in zwei Stellungnahmen Handlungsbedarfe aufgezeigt: www.caritas.de/fuerprofis/stellungnahmen (Suchbegriff: "6.").
13. Langfassung, S. 51.
14. Ebd., S. 107.
15. Spiewak, M.: Ungerecht von Anfang an. In: Die Zeit, 10. Juni 2021, www.zeit.de/2021/24/chancengerechtigkeit-bildung-kinderentwicklung-herkunft-schule-elternhaus
16. Langfassung, S. 171.
17. Ebd., S. 179.
18. Ebd., S. 94.
19. Ebd., S. 404.
20. Kurzbericht, S. XXIX f
21. www.deutschlandatlas.bund.de
22. BAGFW: Standortbestimmung der BAGFW zur Wirkungsorientierung in der Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege. 2015. Download per Kurzlink: https://bit.ly/3izcU6y
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