Wie Nächstenliebe Gesellschaft gestalten kann
Nein, gegen Nächstenliebe hat niemand etwas, gilt sie doch immer noch als die positive Seite des christlichen Glaubens – vor allem, wenn sie individuell gelebt wird. Das sorgt sogar in der gegenwärtigen Gesellschaft noch für positive Umfragewerte.1 Viel schwieriger wird es, wenn es um die Frage nach der Relevanz von Nächstenliebe und der Bedeutung des matthäischen Endgerichts ("Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!")2 mit Blick auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens geht. Die Grundüberzeugung, dass der Glaube in allen Kontexten zur Nachfolge Christi verpflichtet, ist auch unter Christen keine Selbstverständlichkeit. Heutzutage gilt es vielen im Hinblick auf die Komplexität der entsprechenden Handlungsfelder geradezu als naiv, einfältig und weltfremd, von Nächstenliebe im Kontext der Öffentlichkeit zu sprechen - die abwertende Rede vom Gutmenschen hat sich eingebürgert.
Der Glaube im öffentlichen Raum
Die These von der öffentlichen Dimension der Nächstenliebe steht im diametralen Gegensatz zu manchen aktuellen Aussagen: Als die Kirchen sich im Jahr 2016 im Umfeld der Flüchtlings- und Migrationsdebatte klar positioniert hatten, formulierte der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas, dass Barmherzigkeit (man könnte auch sagen: Nächstenliebe) Aufgabe der Kirche sei, dass sich gerade damit aber keine Politik machen lasse. Kirche, die sich hier dennoch in der Weise konkreter Stellungnahmen und Aktivitäten einmische, verfehle ihr Eigentliches und werde zur Moralagentur. Die Kirchen, so kritisiert Joas, hätten sich quasi den Auftrag für ihr Handeln beim Staat als "Auftraggeber" abgeholt und die Bundesregierung damit vor allem im Kontext der sogenannten Grenzöffnung im September 2015 aktiv unterstützt und mit ihrem "Segen" versehen.3
Innerkirchlich ist es gegenwärtig wieder aktuell, von "Mission first", also vom absoluten Vorrang für Mission und Bekehrung zu sprechen und alles, was weltliche, gesellschaftliche, politische Fragen angeht, auf einen nachrangigen Platz zu verweisen.4 Die Kirche solle sich, so die Grundaussage, auf das Wesentliche konzentrieren. Dafür verweist man sie an den Altar (zum Feiern der Liturgie) und auf die Kanzel (zum Verkündigen). Dort bleiben dann die Christen als kleine Herde unter sich, im Gotteshaus und ungefährlich für die Gesellschaft, weil nichts nach außen dringt, nichts und niemanden stört.
Das aber verfehlt eindeutig die Botschaft des Evangeliums: Es kann nicht sein, um den früheren Militärpfarrer von Lampedusa, Michael Gmelch, zu zitieren, dass die Welt brennt, wir aber in der Sakristei die Geranien gießen.5 Oder, so Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler im 19. Jahrhundert: "Christus ist nicht nur dadurch der Heiland der Welt, dass er unsere Seelen erlöst hat, er hat auch das Heil für alle anderen Verhältnisse der Menschen, bürgerliche, politische und soziale, gebracht."6
Diese Relevanz der christlichen Botschaft für die Welt von heute hat auch das II. Vatikanische Konzil prominent formuliert. Unter dem Stichwort des aggiornamento7 machte es deutlich, dass und wie die Botschaft des Evangeliums für die Gegenwart und die Zukunft Bedeutung entfalten kann, was also der Glaube und folglich auch die Nächstenliebe mit dem Leben in all seinen Facetten und dem Wohlergehen aller zu tun hat. So heißt es etwa auch in der Präambel der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." (GS 1)8 "Besonders der Armen und Bedrängten aller Art …" - dies als Übersetzung für Nächstenliebe zu lesen, liegt sicherlich nicht fern. ,,Das Politische", so formuliert es der christliche Politiker Hans Maier, "ist ja für die Kirche kein schlechthin exemter Bereich. Dort, wo elementare Rechte des Menschen auf dem Spiel stehen, etwa das der körperlichen Unversehrtheit, dort muss die Kirche heute in der Tat der Politik, ,den Mächtigen‘ ins Gewissen reden und, wo möglich, in den Arm fallen."9 Hier hat die Kirche ein prophetisches Mahn- und Wächteramt – motiviert aus Nächstenliebe, sich für Gerechtigkeit einsetzend.
Nächstenliebe ist kein politisches Handlungskonzept
Mit der Verpflichtung für Christen, Nächstenliebe auch im gesellschaftlich-politischen Bereich zur Geltung zu bringen, ist noch kein politisches Handlungsrezept gegeben. Christen wissen, dass das Evangelium kein Parteibuch und Politik nicht die einfache Übersetzung der Nächstenliebe in die konkrete gesellschaftliche Praxis ist. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes betont, dass die verschiedenen Kultursachbereiche - zum Beispiel Wirtschaft, Politik und Kultur - eigene Gesetzmäßigkeiten und eigene Wertigkeiten haben, die zu akzeptieren sind.
Im Blick auf die Frage nach der Nächstenliebe im Kontext der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wird immer wieder der Gegeneinwand erhoben (innerhalb und außerhalb der Kirchen), der Staat sei kein Individuum wie der Samariter im Gleichnis Jesu und könne deswegen keine Nächstenliebe üben. Gerade mit Blick auf die oben erläuterte Eigengesetzlichkeit von Staat und Politik ist festzuhalten, dass der Einwand in gewisser Hinsicht seine Berechtigung hat, denn es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Individuum und Institution. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass das Gleichnis vom barmherzigen Samariter keinerlei Relevanz hätte für institutionelles Handeln. Regeln und Gesetze setzen keinen Automatismus in Gang, in dem die Menschen keinen Freiraum zum Agieren gemäß eigener Entscheidung mehr hätten, sondern es gibt oft genug einen Ermessensspielraum und die Notwendigkeit, konkurrierende Güter miteinander abzuwägen. Strukturen und Regeln müssen weiterentwickelt werden. In der Praxis und Realisierung von Regeln ergeben sich wiederum Anstöße für ein Nachjustieren und auch für Neues. Manche Herausforderung trifft einen, ohne dass man sich darauf vorbereiten konnte. Bei all diesen Prozessen spielen die Menschen mit ihrem Ethos, mit ihren Grundwerten eine ganz unverzichtbare Rolle. Humanität, Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind Haltungen, die in eine gesellschaftlich-politische Agenda einfließen müssen. Sie stellen insoweit auch Akzentsetzungen dar, die je nach Fragestellung oder Handlungsfeld auch eine deutlich christliche Handschrift erkennen lassen können. Von daher lässt sich kein völliger Gegensatz zwischen Politik und christlicher Moral beziehungsweise der Nächstenliebe konstruieren, denn wer sie als wesentlich in der Nachfolge Christi erkannt hat, wird nicht umhinkönnen, ihre durchaus entscheidende Rolle für die Mitgestaltung politischer Räume zu erkennen.
Es gibt einen breiten Spielraum für christliches Handeln
Es liegt auf der Hand, dass es nicht automatisch im Hinblick auf politische Fragen nur eine einzige, umfassende christliche praktische Wahrheit gibt, sondern einen breiten Spielraum der Freiheit. Innerhalb dieses Handlungsspielraums handeln jene im Geist des Evangeliums, die "die Menschlichkeit Gottes ins Zentrum stell(en)"10, die "Humanität und Religiosität nicht als Gegensatz begreifen" und die wissen, "dass sie diesen Weg nicht für sich, sondern für andere gehen"11. Werden "Opfer vertröstet, Tragödien verklärt und Nöte verbrämt"12, dann ist auch politisch Widerspruch anzumelden und nachhaltiges Engagement für Humanität gefordert.
Konkrete Handlungsoptionen müssen immer auch die Faktenlage und das Mögliche im Blick behalten; sie ergeben sich aus der ethisch hochstehenden Argumentationsfigur des Kompromisses. Es geht nicht um einen faulen Kompromiss, sondern um ein Aushandeln dessen, was im Zusammenspiel der Prämisse normativer Art und der Prämisse faktischer Art erst zu einem konkreten Ergebnis führen könnte.
Christliche Politik findet immer vor einem spezifischen Hintergrund statt: vor dem Hintergrund des genuin christlichen Wissens um die eigene Endlichkeit und Begrenztheit einerseits sowie andererseits im Vertrauen darauf, dass die letzte Vollendung nicht von uns geleistet werden muss, sondern von Gott gegeben wird. Christliche Politik ist also nicht einem Erfolgs- und Leistungsdruck im Blick auf ein letztlich doch unerreichbares Ziel ausgesetzt. Vielmehr ist schon viel gewonnen, wenn erste kleine Schritte getan sind, wenn die Flüchtlinge eine Überlebenschance haben, wenn auch die, die sonst am Rande unserer Gesellschaft stehen, nicht vergessen sind, wenn Menschen nicht mehr Demütigung, Ausgrenzung, Hass, Verfolgung und Krieg ausgeliefert sind - dies alles im Vertrauen darauf, dass die christliche Hoffnung nicht von uns Menschen vollendet werden muss, aber auch nicht erst im Jenseits, sondern schon im Hier und Jetzt wahr werden und aufleuchten will.»
Anmerkungen
1. Vgl. Gemeinwohlatlas Deutschland
(www.gemeinwohlatlas.de).
2. Vgl. Mt 25,31-46.
3. Vgl. Joas, H.: Kirche als Moralagentur?
München, 2016.
4. Vgl. Hartl, J.; Wallner, K.; Meuser, B. (Hrsg.): Mission Manifest. Freiburg, 2018.
5. Vgl. Gmelch, M.: Refugees welcome. Würzburg, 2016, S. 9.
6. Ketteler, W. E. von: Die Arbeiterfrage und das Christentum. In: Iserloh, E. (Hrsg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Sämtliche Werke und Briefe (1, Abteilung 1), 1864/1977, S. 367-515, hier S. 370.
7. Aggiornamento: von Papst Johannes XXIII. eingeführter Begriff zur Bezeichnung der notwendigen Öffnung der katholischen Kirche.
8. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Über die Kirche in der Welt von heute, 1965.
9. Maier, H.: Kritik der politischen Theologie. Einsiedeln: Johannes-Verlag, 1970, S. 34 f.
10. Söding, T.: Kreuzesnachfolge. In: Knop, J.; Nothelle-Wildfeuer, U. (Hrsg.): Kreuz-Zeichen. Ostfildern:
Matthias Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, 2013,
S. 155-166, hier S. 165.
11. Ebd., S. 166.
12. Ebd., S. 165.
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