Armut verfestigt sich oft
Schon weitreichend belegt ist, dass das Aufwachsen in Armutslagen nicht ohne Folgen für die kindliche Entwicklung und den weiteren Lebensverlauf bleibt.1 Weniger weiß man bislang darüber, wie sich die Verläufe und die Dauer von Armutserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen gestalten. So stellt sich die Frage, ob Armutslagen eher von kurzer oder längerer Dauer sind und ob Kinder und Jugendliche eher einmalige oder wiederkehrende Armutserfahrungen machen. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung2 - auf Basis von Längsschnittdaten der Haushaltsbefragung Panel "Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung" (PASS)3 - diese Fragen untersucht. 3180 Kinder und Jugendliche und ihre Haushalte wurden dazu über einen Zeitraum von fünf Jahren begleitet.
Was heißt Armut?
Zur Erfassung von Armut können unterschiedliche Konzepte herangezogen werden. Als einkommensarm beziehungsweise einkommensarmutsgefährdet gelten in dieser Studie Kinder und Jugendliche in Familien mit einem Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle, das heißt, ihnen stehen monatlich weniger als 60 Prozent des äquivalenzgewichteten Nettomedianeinkommens in Deutschland zur Verfügung. 2016 waren dies zum Beispiel für eine Familie, bestehend aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren, weniger als 2035 Euro netto. Zudem wird auch der Bezug von SGB-II-Leistungen als Armutslage definiert.
Auf Basis der Angaben der Haushalte werden insgesamt fünf Einkommenslagen unterschieden. Damit können die Einkommensverläufe differenziert über die Zeit betrachtet werden:
- abgesicherte Lage (Einkommen größer/gleich 75 Prozent des Medianeinkommens, ohne SGB-II-Leistungsbezug);
- Zwischenlage (Einkommen größer/gleich 60 Prozent bis unter 75 Prozent des Medianeinkommens, kein Bezug von SGB-II- Leistungen);
- Einkommensarmut (Einkommen unter
60 Prozent des Medianeinkommens, kein Bezug von SGB-II-Leistungen); - SGB-II-Leistungsbezug (Einkommen über 60 Prozent des Medianeinkommens, Bezug von SGB-II-Leistungen)
- Einkommensarmut und SGB-II-Leistungsbezug (Einkommen unter 60 Prozent des Medianeinkommens, Bezug von SGB-II- Leistungen).
Zusammenfassend können die "abgesicherte Lage" und die "Zwischenlage" als gesicherte Lagen eingestuft werden, während die "Einkommensarmut", "SGB-II-Leistungsbezug" und "Einkommensarmut und SGB-II-Bezug" als Armutslagen gelten. Aus den einzelnen Verläufen dieser Einkommenslagen der Kinder über den fünfjährigen Zeitraum wurden in der Studie typische Muster identifiziert. Dazu wurden alle individuellen Verläufe miteinander verglichen und Kinder mit ähnlichen Einkommensverlaufsmustern zu Gruppen zusammengefasst.
Fünf typische Muster in Kindheit und Jugend
Fünf typische Muster konnten so identifiziert werden: Die allermeisten Kinder sind dabei dem Muster "Dauerhaft gesichert" zugeordnet (69 Prozent). Diese Kinder verweilen über den gesamten Beobachtungszeitraum in einer gesicherten Einkommenslage. Die weiteren Kinder verteilen sich auf vier Muster, die von unterschiedlichen Armutserfahrungen gekennzeichnet sind: Das Muster "Temporär nicht gesichert" umfasst Kinder, die im Betrachtungszeitrum kurzfristige Armutserfahrungen machen. Zehn Prozent der Kinder sind diesem Muster zugeordnet. Zu den anderen Zeitpunkten sind sie häufig in einer Zwischenlage. Das Muster "Prekäre Einkommenslage" umfasst eine kleine Gruppe von Kindern (knapp vier Prozent), die Einkommensarmutserfahrungen machen, ohne SGB-II-Leistungen im Haushalt zu beziehen. Zeitweise sind auch einige in der Zwischenlage zu verorten. So kommt es in dieser Gruppe häufiger zu Wechseln zwischen einer gesicherten und einer nicht gesicherten Einkommenslage. Die zwei weiteren Armutsmuster sind von dauerhaften Armutserfahrungen gekennzeichnet. Darunter fällt eine Gruppe von Kindern, die in Haushalten mit "dauerhaftem SGB-II-Bezug" aufwachsen, ohne gleichzeitig dauerhaft einkommensarm zu sein (sechs Prozent). Das Einkommen liegt hier durch den SGB-II-Bezug meist knapp über der Armutsrisikoschwelle. Knapp zwölf Prozent der Kinder sind darüber hinaus dem Muster "Dauerhaft nicht gesichert" zugeordnet. Sie befinden sich zu allen fünf Zeitpunkten in einer nicht gesicherten Einkommenslage und beziehen überwiegend durchgängig SGB-II-Leistungen. Das Haushaltseinkommen liegt dauerhaft unterhalb der Armutsrisikoschwelle.
Verzicht auf Materielles
Zusätzlich zu den Indikatoren Einkommensarmut und SGB-II-Leistungsbezug wurde auch die tatsächliche Ausstattung der Haushalte mit verschiedenen Gütern und Aspekten sozialer und kultureller Teilhabe betrachtet. Erfasst wurde für 23 Aspekte, ob Haushalte aus finanziellen Gründen auf diese verzichten. Bei der Abfrage wurden die Bereiche Wohnung, Nahrung, Kleidung, Konsumgüter, Finanzen sowie soziale und kulturelle Teilhabe berücksichtigt. Festzuhalten ist dabei zunächst, dass die Grundversorgung mit elementaren Gütern für alle Gruppen unabhängig von der Einkommenslage weitestgehend gegeben ist. Es zeigt sich aber auch, dass in andauernden Armutslagen auf mehr Faktoren aus finanziellen Gründen verzichtet werden muss. Bei den Haushalten der Kinder mit dem Muster "Dauerhaft nicht gesichert" ist die Unterversorgung am stärksten ausgeprägt. Durchschnittlich verzichten die Haushalte dieser Kinder auf sieben der 23 Aspekte. Dies ist häufig im Bereich der kulturellen und sozialen Teilhabe der Fall wie monatliches Ausgehen oder auch der Verzicht auf höherwertige Güter wie ein Auto. Selten ist es auch möglich, regelmäßig etwas zu sparen. Bei Kindern, die dem Muster "Dauerhafter Leistungsbezug" zugeordnet sind, wird durchschnittlich auf fünf Aspekte verzichtet. Im Muster "Prekäre Einkommenslage" sind es durchschnittlich etwa vier Faktoren, im Muster "Temporär nicht gesichert" etwas mehr als drei Aspekte. Zum Vergleich: Die Haushalte der Kinder, die unter das Muster "Dauerhaft gesichert" fallen, verzichten durchschnittlich auf einen der 23 Aspekte aus finanziellen Gründen.
Gefährdet: Alleinerziehende und kinderreiche Familien
Weiterführend wurde in der Studie auch betrachtet, was Faktoren sind, die die Zugehörigkeit zu einer der fünf identifizierten Gruppen bedingen. Hier bestätigen sich bekannte Zusammenhänge erneut: Vor allem Kinder in Alleinerziehenden-Haushalten haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, dauerhaft in einer Armutslage zu verweilen. Dies zeigt sich außerdem für Kinder, die in kinderreichen Haushalten aufwachsen sowie für Kinder, die einen Migrationshintergrund haben. Zentral für die Einkommenslage des Haushalts der Kinder sind außerdem das Qualifikationsniveau sowie die Erwerbssituation der Eltern. So ist Arbeitslosigkeit der Eltern eng mit der Einkommenslage des Haushalts verknüpft.
Was sich statistisch auch zeigt, ist, dass die Einkommenslage des Haushalts zum ersten Betrachtungszeitpunkt wesentlich für den weiteren Einkommensverlauf ist.
Armutslagen bleiben konstant
Die Studie verdeutlicht, dass es notwendig ist, Daten über längere Zeiträume zu erheben und auszuwerten. Dies ermöglicht differenziertere Aussagen. Insgesamt wird eine hohe Kontinuität von Einkommens- und Armutslagen deutlich. Die betrachteten Kinder und Jugendlichen und ihre Familien verbleiben häufig in einer Einkommenslage und wechseln im Betrachtungszeitraum eher selten in andere. Dies zeigt sich im Besonderen für Kinder, deren Haushalte sich anfänglich in einer "abgesicherten Lage" oder der Einkommenslage "Einkommensarmut und SGB-II-Bezug" befinden. Damit sind auch nachhaltige Übergänge aus Armutslagen in gesicherte Einkommenslagen innerhalb des Betrachtungszeitraums selten.
Es stellt sich die Frage, wie die Verfestigung von Armutslagen und des SGB-II-Leistungsbezugs über längere Zeiträume mit geeigneten Angeboten für Kinder und ihre Familien überwunden werden und wie negative Folgen von Armutserfahrungen für Kinder verhindert werden können. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Prävention. Angesetzt werden sollte an verschiedenen Stellen, also sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern wie den Familien insgesamt und bei verschiedenen Institutionen. Eine Reihe guter Methoden kommt dabei in der Praxis bereits zur Anwendung. Es gilt zu identifizieren, welche Schritte besonders hilfreich sind, um Familien und Kinder in Armutslagen gezielt zu unterstützen oder Armutslagen zu verhindern, wie bestehende Angebote noch stärker miteinander vernetzt werden können und welche bislang noch fehlen.
Anmerkungen
1. Vgl. z.B. Laubstein, C.; Holz, G.; Dittmann, J.; Sthamer, E.: "Von alleine wächst sich nichts aus?...". Lebenslagen von (armen) Kindern und Jugendlichen und gesellschaftliches Handeln bis zum Ende der Sekundarstufe I. Abschlussbericht der 4. Phase der Langzeitstudie im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt. Berlin: AWO Bundesverband e.V., 2012.
2. Tophoven, S.; Lietzmann, T.; Reiter, S.; Wenzig, C.: Armutsmuster in Kindheit und Jugend. Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut. Gütersloh, 2017. Kostenloser Download unter www.bertelsmann-stiftung.de, Suchbegriff "Armutsmuster".
3. Trappmann, M.; Beste, J.; Bethmann, A.; Müller, G.: The PASS panel survey after six waves. Journal for Labour Market Research, Jg. 46 (2013) H. 4, S. 275-281.
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