Pflege braucht Spiritualität
Spiritualität ist ein Dauerbrenner: in Zeitschriftenartikeln, in der Lebenshilfeliteratur, als Kongressbeitrag oder in der Palliative-Care-Qualifikation. In Bildungseinrichtungen zählt das Einüben spiritueller Praktiken zum festen Seminarrepertoire. Denn: Von einer spirituellen Hinwendung erhofft man sich mehr innere Stärke, persönliches Wachstum und sogar beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg. Als Thema in der Pflege berührt Spiritualität grundlegende Fragen des Pflegeverständnisses und des ihm zugrundeliegenden Menschenbildes. Ist Spiritualität deshalb wirklich relevant für die konkrete Pflegepraxis am Bett? Und falls ja: Müsste sie dann - wie andere Pflegemaßnahmen - auch geplant, dokumentiert und sogar abgerechnet werden?
Was Spiritualität überhaupt meint
Wenn über Spiritualität gesprochen wird, reden nicht automatisch alle über das Gleiche. Während für die einen Spiritualität als Chiffre für eine allgemeine Sinnsuche oder Menschwerdung steht, verknüpfen andere damit eine geistlich-religiöse Lebenshaltung mit einem Repertoire an Methoden und Ausdrucksformen (zum Beispiel Lebenspraxis oder Rituale). Während sich die einen über Medien wie Sport, Musik, Yoga oder Naturerfahrungen einen "spirituellen Kraftzuwachs" erhoffen, gilt für andere die Beziehung zu einer jenseitigen, transzendenten Macht als essenzielle Quelle persönlicher Lebenskraft. Um Klarheit in die verwirrende Vielfalt zu bringen, scheint zunächst einmal eine Unterscheidung von Spiritualität und Religion notwendig. Vor diesem Hintergrund wird dann ein Verständnis von Spiritualität in diesem Beitrag angeboten.
Der Unterschied von Religion und Spiritualität
Die Herkunft des Religionsbegriffs geht auf die lateinischen Verben "relegere" (sorgfältig beachten) sowie das Substantiv "religio" (= Kult, Verehrung, Religionswesen) zurück. Bereits in der Antike wird bei beiden Verwendungsmöglichkeiten der Akzent auf den (eher äußeren) Vollzug kultischer Vorschriften sowie die sorgfältige Beobachtung dessen, was Gott oder die Götter wollen, gelegt. In diesem Sinn ist "religio" die Erfüllung dessen, was angeordnet ist. Auch heute bezeichnet "Religion" in unserem Alltag vornehmlich bestimmte Orientierungssysteme oder Gemeinschaften, die über rituelle und dogmatische Traditionen verfügen.
Demgegenüber ist der Spiritualitätsbegriff nicht nur älter als der Terminus Religion, sondern zeichnet sich durch eine viel größere Weite zur Bezeichnung (selbst-)transzendenter Bezüge aus. Inhaltlich rekurriert das, was in der Neuzeit mit Spiritualität bezeichnet wird, auf den vorbiblischen, westsemitischen Raum als Entsprechungen zur hebräischen "ruah" (= Wind, Geist oder Atem). Damit wird also etwas bezeichnet, das in Bewegung ist oder über eine Kraft verfügt, anderes in Bewegung zu setzen. Die Ursache dafür bleibt vorbiblisch noch unklar. Erst später nimmt die Bibel eine Zuschreibung an Gott als Ursache dieser Kraft vor.
Angeborene und weiterentwickelte Fähigkeit
Da mit dem Religionsbegriff auch negative und ausschließende Konnotationen mitschwingen können, wird hier für den Spiritualitätsbegriff optiert. In- und ausländische Untersuchungen kommen darin überein, dass es sich bei der spirituellen Dimension des Menschen nicht um eine Art antrainierte, als säkular zu bezeichnende Spiritualität handelt, die sich nicht von inneren Glaubensüberzeugungen gedeckt weiß. Es ist die Existenz eines höheren transzendenten Seins vom Einzelnen, die als wahre Realität und Kraftquelle bejaht und erlebt wird. Spirituelles Leben beruht auf der Erschließung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des menschlichen Kontaktes zu diesem tragenden, transzendenten Grund und zeitigt intra-, inter- und transpersonale Resonanzen. Diese sind wiederum seitens der Forschung empirisch abbildbar, zum Beispiel in Form eines Zuwachses an Kraft, Hoffnung, Mut, Vertrauen, Liebe und innerem Frieden. Folglich kann Spiritualität als eine angeborene und lebenslang weiterzuentwickelnde Fähigkeit eines jeden Menschen verstanden werden, die sich über das rein Sichtbare und Messbare hinaus für Quellen der Kraft (monotheistisch: die transzendent-göttliche Dimension) öffnet, um daraus Hilfen für den (Arbeits-)Alltag, das eigene (Über-)Leben und Sterben zu schöpfen.
Spiritualität in der Pflege
Wie ist es vor diesem Hintergrund um die Bedeutung der Spiritualität für die Pflege bestellt? Zunächst einmal begreifen etliche theoretische Zugänge "Spiritualität" als eine wichtige Ressource der Stressverarbeitung und Alltagsbewältigung. Forscher wie Richard Lazarus und Susan Folkman1, Kenneth Pargament2 und Aaron Antonovsky3 stellen mit ihren Überlegungen einen Referenzrahmen für empirische Arbeiten bereit. Für den deutschsprachigen Raum liegen inzwischen ebenfalls eine Reihe von Adaptionen US-amerikanischer Instrumente und sogar Neuentwicklungen vor. Auch wenn der Gegenstand Spiritualität kein einfacher Forschungskandidat ist, gelten die Methoden dennoch insgesamt als solide. Sie zeigen, dass Spiritualität nicht nur im Zuge der Krankheitsbewältigung, sondern auch für das persönliche Wohlbefinden eine ganz entscheidende Rolle spielen kann. Gelebte Spiritualität setzt eine größere Vitalität frei, bewirkt ein höheres Maß an mentaler Balance und stärkt die inneren Widerstandskräfte. Zudem leistet sie einen stützenden Beitrag zur (neuen) Sinngenerierung. Bei der spirituellen Dimension handelt es sich also um keine Elfenbeinturmdiskussion!
Die Gesundheitsrelevanz von Spiritualität ist nicht erst ein Mega-Trend des 21. Jahrhunderts, sondern findet sich bereits seit Mitte der 1950er-Jahre in vielen pflegetheoretischen Entwürfen. So arbeiteten beispielsweise Hildegard Peplau4, Virginia Henderson5, Martha Rogers6, Rosemarie Rizzo Parse7, Jean Watson8 oder auch Madeleine Leininger9 die Bedeutung der Spiritualität für das existenzielle Erleben heraus und rechnen eine spirituelle Stützung des (kranken) Menschen dem pflegerischen Aufgabenbereich zu. Für die deutschsprachige Pflege betont in den 1970er-Jahren Liliane Juchli, eine schweizer Kranken- und Ordensschwester, die Notwendigkeit einer Sorge um die "seelischen" Bedürfnisse Kranker. Dabei gelingt ihr die Herleitung allein im Rekurs auf philosophische, psychologische und psychosomatische Ansätze.
Trotz dieser Befundlage zeigen sich aktuell massive Leerstellen in den Lehrbüchern von Pflegewissenschaft, -ethik, -ausbildung und Gerontologie was die Spiritualität angeht. Alle Bereiche klammern eine spirituelle Reflexion aus. Dieser fatale Befund überrascht, da das Metaparadigma "Mensch" - und damit dessen spirituelle Bedürfnislage - doch essenzieller Bestandteil der Pflege ist. Genauso wie ein Mathematiker nicht ohne seine Formelsammlung auskommt, gelingt der Pflege keine ganzheitliche Sorge um den Menschen ohne Reflexion ihrer Grundkategorie: den Menschen.
Wer über das Thema der Spiritualität in der Pflege nachdenkt, kann eine ganze Reihe von Einwänden ins Feld führen:
- Eine professionelle Pflege hat sich generell weltanschaulich neutral zu zeigen.
- Für eine spirituelle Begleitung kranker Menschen fehlt den Pflegekräften schlichtweg die Zeit.
- Spiritualität ist Sache der Seelsorge, denn dafür sind professionelle Pflegekräfte weder qualifiziert, noch zuständig.
Demgegenüber zeigt ein Faktencheck10, dass sich eine als ganzheitlich-professionell verstehende Pflege weder an ihren historischen Altlasten (Stichwort: Ordens- und Diakonissenpflege) abzuarbeiten, noch an einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Neutralitätspostulat zu orientieren hat, sondern an der Bedürfnislage der (kranken) Menschen. Eine sich als dialogfähig verstehende Pflege darf keine Quellen ausblenden, die ihr helfen können, eine adäquate Sorge um die Anvertrauten sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund ist die spirituelle Dimension durchaus zum Aufgabengebiet einer sich als professionell zu verstehenden Pflege zu rechnen.
Pflegende als spirituelle Generalisten
Im Blick auf den Faktor Zeit bleibt zu bedenken, dass die Berufsgruppe der Pflegenden am häufigsten in Kontakt mit den zu Pflegenden ist. Die Frage ist also nicht das "Ob", sondern das "Wie", das heißt die Qualität des Kontaktes. Sind Pflegende "nur" verfügbar oder auch tatsächlich präsent? Und ist der beklagte Zeitmangel nicht eigentlicher Ausdruck innerer Überlastung, der man sich argumentativ zu entziehen sucht?
Hinsichtlich der professionellen Begleitung sind Pflegekräfte sicher keine spirituellen Spezialisten, aber spirituelle Generalisten. Pflegekräfte können generell den spirituellen Bedarf einschätzen, um sich dann auf pflegerelevante spirituelle Aspekte zu konzentrieren und andere Professionen hinzuzuziehen. Und genau dafür gilt es sich zu sensibilisieren und zu qualifizieren. Das erfordert Bereitschaft, Mut und Kreativität.
Anmerkungen
1. Lazarus, R.; Folkman, S.: Stress, appraisal, and coping. New York: Springer, 1984.
2. Pargament, K. et al.: Religion and the problem-solving process: three styles of coping. In: Journal of the Scientific Study of Religion 1/1988, S. 90-104.
3. Antonovsky, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag, 1997.
4. Peplau, H.: Interpersonal relations in nursing. Basingstoke: Palgrave, 2. Auflage, 1988.
5. Henderson, V.: The nature of nursing: a definition and its implications for practice, research, and education. New York: Collier Macmillan, 1966.
6. Rogers, M.: An introduction to the theoretical basis of nursing. Philadelphia: F. A. Davis Company, 1970.
7. Rizzo Parse, R.: Man-living-health. A theory of nursing. Pittsburg: Delmar Cengage Learning, 1981.
8. Watson, J.: Nursing: The philosophy and science of caring. Colorado: University Press of Colorado, 1985.
9. Leininger, M.: The theory of culture care diversity and universality. In: Dies. (ed): Culture care diversity and universality: A theory of nursing. New York: National League for Nursing, 1991, S. 5-68.
10. Knoll, F.: Mensch bleiben! Zum Stellenwert der Spiritualität in der Pflege. Stuttgart: Kohlhammer, 2015, S. 84-110.
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