Aufwandsentschädigung auf dem Prüfstand
Die Debatten um Geldzahlungen im Ehrenamt - oft geführt unter dem Stichwort "Monetarisierung" - ebben nicht ab.1 Auch der Deutsche Caritasverband (DCV) hat sich zum Thema positioniert.2 Ungeachtet dessen gibt es kaum verlässliche empirische Daten, die eine objektive und versachlichte Auseinandersetzung mit der Frage zulassen, welches Engagementverständnis dort anzutreffen ist, wo freiwillige "ehrenamtliche" Tätigkeiten monetär entgolten werden. Diese Lücke wollte der Caritas-Fachverband "Zukunft Familie" der Diözese Rottenburg-Stuttgart für die unter seinem Dach agierenden sogenannten Organisierten Nachbarschaftshilfen mit einer Studie schließen.3
Die Organisierte Nachbarschaftshilfe ist ein besonders interessanter Forschungsgegenstand. Denn im Zeichen von demografischem Wandel und Inklusion kommt sie immer wieder als zentraler Bestandteil von Unterstützungsoptionen ins Spiel, die gesellschaftliche Teilhabe auch im Alter oder bei Behinderung ermöglichen sollen.
Organisierte Nachbarschaftshilfe im Rahmen von "Zukunft Familie" beruht auf dem Engagement von fast ausschließlich Frauen (über 92 Prozent), die von Alter (es überwiegen die Jahrgänge 1955-1959), Bildung (mittlere Abschlüsse) und kulturellem Hintergrund her eine sehr homogene Gruppe darstellen. Dies gilt auf dem Land genauso wie in der Stadt. Strukturell und personell ist die Organisierte Nachbarschaftshilfe vorwiegend bis ausschließlich im kirchlichen Umfeld verankert. Hier bewegt sie sich auch von den Kooperationen her, und hier gewinnt sie ihren Nachwuchs.
Nachbarschaftshelfer: Selbstverständnis als Engagierte
Die Studie zeigt: Die Nachbarschaftshelfer(innen) sehen sich eindeutig als ehrenamtlich Engagierte, nicht als erwerbstätige Dienstleister(innen):
- Im Kern betrachten sie ihr Engagement als "ein ehrenamtliches Engagement, für das es auch noch eine Aufwandsentschädigung gibt" (Aufwandsentschädigungen im Sinne stundenweiser Honorare, siehe Info oben zu "Zukunft Familie") - 88,5 Prozent der Befragten stimmen dieser Aussage völlig oder eher zu.
- 52,7 Prozent der Helfer(innen) bringen zusätzlich Zeit in ihr Engagement ein, die nicht mit einer Aufwandsentschädigung vergütet wird.
- Die Mehrheit der Nachbarschaftshelfer(innen) gibt an, nicht auf den Zuverdienst angewiesen zu sein, den sie durch die Aufwandsentschädigung erhalten.
- Die Motive und Erwartungen der Nachbarschaftshelfer(innen) entsprechen eher einem altruistischen und gemeinnutzorientierten Engagementprofil (Helfen) als einer funktionalen Tätigkeit mit Aufwandsentschädigung.
Das Grundselbstverständnis als freiwillig Engagierte(r) beziehungsweise Ehrenamtliche(r) wird offenbar durch die Tatsache, dass es Aufwandsentschädigungen gibt, nicht infrage gestellt. Engagement in der Organisierten Nachbarschaftshilfe wird von den Beteiligten als ein persönlich bedeutsames, vielfältiges, sinnvolles, soziales Engagement in bestimmten Lebensabschnitten begriffen.
Wohl aber tragen Aufwandsentschädigungen aus Sicht der Nachbarschaftshelfer(innen) dazu bei, dass die Unterstützung anerkannt wird, sie selbst Wertschätzung erhalten und nicht ausgenutzt werden. Sie sehen Aufwandsentschädigungen jedoch weniger als Brücke zum Arbeitsmarkt und lassen sich dadurch auch nicht forciert in eine verbindliche Arbeitsplanung einspannen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch deutliche Binnendifferenzierungen.
Von "Pragmatischen" bis zu "Vollblut-Engagierten"
Bei den Nachbarschaftshelfer(inne)n können vier Gruppen ermittelt werden (Verdichtungsverfahren: Clusteranalyse), die unterschiedliche Haltungen zu den Aufwandsentschädigungen vertreten beziehungsweise ihnen verschiedene Bedeutung beimessen:
- "Die Pragmatischen" (34 Prozent) gehen eher nüchtern und pragmatisch mit dem Thema Geldzahlungen im Ehrenamt um. Sie selbst sind nicht auf die Aufwandsentschädigungen angewiesen, sehen jedoch in Teilbereichen Vorteile für sich oder andere.
- "Die auf monetäre Aufwertung Bedachten" (22 Prozent) sehen in der Aufwandsentschädigung eine Aufwertung ihrer Tätigkeit. Aufwandsentschädigungen dienen nicht zur Absicherung des Lebensunterhalts, sondern werten die geleistete Unterstützung auf und machen den Wert der Leistung auch gegenüber anderen Anspruchsgruppen deutlich.
- "Die auf Zuverdienst Angewiesenen" (22 Prozent) hätten sich ohne Aufwandsentschädigungen nicht für ein Engagement entschieden. Ungeachtet dieser Selbsteinschätzung bringen sich auch diese Personen zusätzlich und unentgeltlich in die Organisierte Nachbarschaftshilfe ein.
- "Die Vollblut-Engagierten" (20 Prozent) sprechen sich im Großen und Ganzen gegen jegliche Nutzenkomponenten von Aufwandsentschädigungen aus. Für sie selbst war die Aufwandsentschädigung kein Grund, ihr Engagement zu beginnen, und sie denken, dass viele andere sich ebenfalls von anderen Motiven leiten lassen.
Würde die Aufwandsentschädigung wegfallen, so würden die "Vollblut-Engagierten" zu 61 Prozent in gewohnter Form dem Engagement nachgehen. Bei den anderen Gruppen beläuft sich der Anteil lediglich auf circa 21 Prozent ("Auf Zuverdienst Angewiesene") beziehungsweise 28 Prozent ("Pragmatische"), bei den "auf Aufwertung Bedachten" sogar auf nur 2,3 Prozent.
Ein Hebel zur Gewinnung von Nachbarschaftshelfern?
Vergleicht man die Sichtweisen der Nachbarschaftshelfer(innen) mit denen der Einsatzleitungen, zeigen sich deutliche Differenzen: Wenn auch mit Abstufungen, sind die Einsatzleitungen weitgehend davon überzeugt, dass sich ohne die Zahlung stundenweiser Aufwandsentschädigung das Angebot der Organisierten Nachbarschaftshilfe nicht im erforderlichen Umfang (gemessen an der Nachfrage) realisieren ließe.
- 53 Prozent der Einsatzleitungen betrachten die Aufwandsentschädigung als vorrangiges Anreizsystem, zumindest zur Aufnahme des Engagements. Ihrer Ansicht nach leisten Aufwandsentschädigungen einen wesentlichen Beitrag zur Lebenssicherung. Laut Selbsteinschätzung der Nachbarschaftshelfer(innen) umfasst die Gruppe der "auf Zuverdienst Angewiesenen" allerdings nur 22 Prozent.
- Weitere 21,5 Prozent der Einsatzleitungen geben an, starke Befürworter(innen) von stundenweisen Bezahlungen zu sein. Sie sehen die Aufwandsentschädigung als vielfältiges Gestaltungsmittel, um die Abläufe in der Organisierten Nachbarschaftshilfe zu ermöglichen und zu verbessern. Vorteile werden in der Gewinnung von Engagierten, als Vorbeugung von Ausnutzungseffekten, zur Verstärkung des Dienstleistungsgedankens und zur besseren Planbarkeit gesehen. Zur Erinnerung: Die Nachbarschaftshelfer(innen) selbst zeigen sich gegenüber einer "Steuerung durch Geld" weitgehend resistent.
Schließlich: Nahezu alle Einsatzleitungen gehen davon aus, dass die Aufwandsentschädigung in Zukunft eine zunehmende Rolle in der Organisierten Nachbarschaftshilfe spielen wird.
Geld im Ehrenamt - ein differenzierter Blick ist notwendig
Unbeschadet der Zahlung stundenweiser Aufwandsentschädigungen sehen alle Nachbarschaftshelfer(innen) ihre Tätigkeit im Kern als ehrenamtliches Engagement. Insbesondere dieses Ergebnis mag überraschen, relativiert es doch die (teilweise dogmatisch vorgetragene) These, Stundenhonorare würden in jedem Fall den Grundcharakter ehrenamtlichen Engagements korrumpieren.
Spielen Geldzahlungen im Ehrenamt also keine Rolle? Diese Schlussfolgerung wäre genauso falsch. Es ist komplizierter.
Die Ergebnisse zu den Einsatzleitungen zeigen: Gerade bei denen, die die Gewinnung Engagierter als berufliche Aufgabe haben, ist die Versuchung groß, die Wertschätzung von Engagement über Geldzahlungen zum Ausdruck zu bringen. Zudem stellen die Nachbarschaftshelfer(innen) unter dem Dach von "Zukunft Familie" eine homogene Gruppe dar, die in einem spezifischen weltanschaulichen - kirchlich-katholischen - Milieu verankert ist. Tief verinnerlichte altruistische Grundeinstellungen scheinen hier so wirkmächtig zu sein, dass sie ein Abdriften in einen dienstleistungsorientierten Habitus verhindern. Eine weitere aktuelle Studie aus Hessen4 zeigt jedoch: Es gibt ehrenamtliche Unterstützungsangebote, die sich eher an den Lebenswelten von Personen orientieren, und andere, die eher dienstleistungsorientiert sind. Bei allen Formen findet man Engagement-Logiken, jedoch in unterschiedlich deutlichen Ausprägungen. In Hessen zeigte sich, dass selbst Initiativen mit starker Dienstleistungsorientierung und stundenweisen Aufwandsentschädigungen gegen negative Auswirkung von Monetarisierung gefeit sind, wenn sie eine tief verankerte Engagement-Logik entwickelt haben und diese im Schulterschluss mit anderen Initiativen vor Ort umsetzen können.
Es kommt also auf den Kontext an, der von den verantwortlichen Hauptberuflichen, den sozialen Organisationen und den staatlichen Steuerungsimpulsen gesetzt wird. Insbesondere im Vor- und Umfeld von Pflege drängt sich aktuell der Eindruck auf, dass es vor allem darum geht, bestehende Versorgungslücken "preisgünstig" zu schließen: günstig im Sinne konkurrenzfähiger Angebote der Träger, günstig im Sinne einer Entlastung öffentlicher Haushalte. Gesagt wird "Ehrenamt", gemeint sind aber plan- und steuerbare Dienstleistungen. Eine solche Diffusität hat mit einem aus klar definierten Komponenten arrangierten Wohlfahrts- beziehungsweise Bürger(innen)-Profi-Mix nichts zu tun. Sie ist vielmehr problematisch für alle Beteiligten.
Genau hinsehen und die Engagement-Logik stärken
Die Studie von "Zukunft Familie" gibt, was Geldzahlungen im Ehrenamt angeht, keineswegs "Entwarnung". Aber sie zeigt, dass die vielfach problematischen Wirkungen von Monetarisierung weniger vom Geld als solchem abhängen als vielmehr von den Intentionen, mit denen es eingesetzt wird. Soziale Organisationen sollten sich entscheiden und Farbe bekennen: Wo sie auf ehrenamtliches Engagement mit seiner besonderen Bedeutung für die gesellschaftliche Teilhabe älterer, zugewanderter oder behinderter Menschen setzen, müssen Anerkennungskultur, gute Rahmenbedingungen (wie Gestaltungsmöglichkeiten oder Selbstorganisation) sowie gut verankerte Freiwilligenorientierung bei den beteiligten Fachkräften umgesetzt werden - am besten ohne Stundenhonorare. Wo professionelle Dienstleistungen wichtig sind, muss es Erwerbsarbeit zu fairen Bedingungen geben. Und wo sich der Staat seiner Verantwortung zu entledigen versucht, ist diese konsequent einzuklagen.
Anmerkungen
1. Vgl. jüngst Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bericht der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für den Zweiten Engagementbericht "Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung". Freiburg im Breisgau, April 2016. Berlin 2017, S. 222-247.
2. Deutscher Caritasverband: Impulspapier "Ehrenamt ist unentgeltlich". Position des Deutschen Caritasverbandes zur Monetarisierung im ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement. In: neue caritas Heft 4/2017, S. 31-35.
3. Roß, P.-S.; Steiner, I.; Schlicht, J.: Organisierte Nachbarschaftshilfe im Wandel: Engagementverständnis und Aufwandsentschädigung auf dem Prüfstand. Wissenschaftliche Befragung von Nachbarschaftshelfer(inne)n und Einsatzleitungen der Organisierten Nachbarschaftshilfe im Auftrag von Zukunft Familie e.V. Fachverband Familienpflege und Nachbarschaftshilfe in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 2016 (http://ifas-stuttgart.de/index.php/projekte1/aktuelle-projekte1). In die schriftliche Befragung (Februar bis Juli 2016) war eine Stichprobe von 1179 Nachbarschaftshelfer(inne)n sowie alle 298 Einsatzleitungen einbezogen. Insgesamt konnten die Rückmeldungen von 454 Helfer(inne)n (Rücklaufquote 38,5 Prozent) und 193 Einsatzleitungen (Rücklaufquote 64,7 Prozent) berücksichtigt werden.
4. Steiner, I.; Schlicht, J.; Roß, P.-S.: Bedeutung und Praxis von Aufwandsentschädigungen im Engagementbereich im Vor- und Umfeld von Pflege. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Nachrichtendienst (NDV). Juni 2017.
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