Trotz fehlender Nachweise: Berufsabschluss anerkannt
Die gelernte Maßschneiderin Judith Yawa Aggor-Edorh, 40, hat ihre Ausbildung in Ghana absolviert. Nach mehr als zehn Jahren in Deutschland fasste sie den Entschluss, sich ihren ghanaischen Berufsabschluss anerkennen zu lassen, um auch in Deutschland als Maßschneiderin arbeiten zu können.
Fast alle Voraussetzungen, lagen vor: eine abgeschlossene Berufsausbildung und die Absicht, in Deutschland berufstätig zu werden. Außerdem brachte sie Berufserfahrung sowohl aus Ghana als auch aus Deutschland mit. Für den Vergleich der deutschen mit der ghanaischen Maßschneiderausbildung benötigte die zuständige Handwerkskammer neben den Zeugnissen aber noch weitere Informationen über konkrete Ausbildungsinhalte, über die Judith Yawa Aggor-Edorh keine schriftlichen Nachweise vorlegen konnte.
Bessere Chancen im erlernten Beruf
Das zum 1. April 2012 in Kraft getretene Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) soll Menschen mit ausländischen Berufsabschlüssen bessere Beschäftigungschancen im erlernten Beruf eröffnen. Zentral ist dabei die Frage, ob wesentliche Unterschiede zwischen der ausländischen Berufsqualifikation und dem inländischen Referenzberuf bestehen und ob diese in einem zweiten Schritt durch Berufserfahrung oder weitere Befähigungsnachweise ausgeglichen werden können. Über die formale Ausbildung hinaus werden im Anerkennungsverfahren zusätzlich Lernergebnisse berücksichtigt, die auf informellem Wege (Berufserfahrung) oder auf non-formalem Wege (Teilnahme an Weiterbildung) erworben wurden. Auch in diesem Schritt müssen die erzielten Lernergebnisse zunächst anhand von Dokumenten belegt werden, damit sie zum Ausgleich wesentlicher Unterschiede genutzt werden können. Nicht immer ist es Antragstellenden jedoch möglich oder zumutbar, alle Dokumente zu beschaffen.
Ergänzend zur Dokumentenprüfung ermöglichen sogenannte "sonstige geeignete Verfahren"1, dass Kompetenzen, die aufgrund fehlender oder nicht aussagekräftiger Unterlagen aus den Heimatländern nicht direkt nachweisbar sind, trotzdem festgestellt werden können, zum Beispiel mittels Fachgespräch oder Arbeitsprobe.2 Dass die erforderlichen Unterlagen nicht vorgelegt werden können, darf von den Antragstellenden nicht selbst verschuldet sein. Dieses Verfahren wird als "Qualifikationsanalyse" bezeichnet.3 Es schafft für die zuständigen Stellen erstmalig die Möglichkeit, die Gleichwertigkeit der ausländischen Berufsqualifikation auch unter Nutzung von Methoden der Kompetenzfeststellung unterhalb der Ebene von Abschlussprüfungen festzustellen.
Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, "ob die erforderlichen Qualifikationen für eine sachgerechte Ausübung des Berufs beziehungsweise für wesentliche Tätigkeiten des Berufs im notwendigen Maß bei den Antragstellenden vorhanden sind".4,5 (s. Tabelle, S. 27 unten)
Bevor die Entscheidung, eine Qualifikationsanalyse durchzuführen, getroffen werden kann, muss immer zunächst ein Antrag auf Anerkennung der ausländischen Berufsqualifikation gestellt werden. Die Antragsstellung ist dabei unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltstitel. Dies bedeutet, dass beispielsweise keine speziellen Anerkennungsregelungen für Geflüchtete erforderlich sind, sondern dass die bereits existierenden Regelungen ausreichen, wenn ein Abschluss aus dem Ausland vorliegt. Die zuständige Anerkennungsstelle legt fest, welche wesentlichen Tätigkeiten im Rahmen einer Qualifikationsanalyse festgestellt werden sollen. Diese ist eine Kompetenzfeststellung und keine Prüfung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) beziehungsweise der Handwerksordnung (HwO).6
Erfolgreich einen kompletten Anzug geschneidert
Weil die zuständige Handwerkskammer auf Basis der vorhandenen Dokumente die Gleichwertigkeitsprüfung nicht durchführen konnte, erhielt Judith Yawa Aggor-Edorh das Angebot, eine Qualifikationsanalyse zu absolvieren. "Ich habe einen kompletten Anzug geschneidert: eine Hose und ein Oberteil." Das Ergebnis: die volle Gleichwertigkeit ihres Berufsabschlusses.
Mit steigenden Zuwanderungszahlen nimmt das Interesse an Anerkennungen ausländischer Berufsqualifikationen generell und damit auch an Anerkennungsmöglichkeiten bei fehlenden Unterlagen zu. Die Zahl der Qualifikationsanalysen, die der amtlichen Statistik gemeldet wurden, ist jährlich leicht gestiegen. Die Referenzberufe, bei denen diese Verfahren am häufigsten durchgeführt wurden, sind Kraftfahrzeugmechatroniker(in), Elektroniker(in) sowie Tischler(in).
Insgesamt ist die Anzahl der Qualifikationsanalysen aber noch eher gering. Teilweise berichten zuständige Stellen, dass Antragstellende vor der Prüfungssituation zurückschrecken. Weitere Gründe sind, dass das Verfahren zum Teil noch nicht ausreichend bekannt ist oder auch der Aufwand noch als sehr hoch eingeschätzt wird. Für eine qualitätsgesicherte Durchführung müssen Expert(inn)en gewonnen und Instrumente und Aufgabenstellungen für den jeweiligen Einzelfall erarbeitet werden. Die zuständigen Stellen, die bereits Erfahrung gesammelt haben, berichten aber von einem abnehmenden Aufwand, da vor allem die erste Entwicklungsarbeit umfangreich sei.7
Mit dem Ziel, die Zahl der Qualifikationsanalysen zu erhöhen, ist im Januar 2015 das dreijährige aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Projekt "Prototyping Transfer - Anerkennung mit Qualifikationsanalysen" gestartet, das auf den im Vorgängerprojekt "Prototyping" entwickelten Verfahrensstandards aufbaut.8 Das Projekt wird vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) koordiniert.
Aufwand der Qualifikationsanalysen mindern
Prototyping Transfer wird von sieben Projektpartnern umgesetzt. Im Einzelnen sind das der Westdeutsche Handwerkskammertag, die IHK FOSA9, die Handwerkskammern Mannheim und Hamburg sowie die Industrie- und Handelskammern Köln, München und Saarland.10 Gemeinsam arbeiten sie daran, die Qualifikationsanalysen bekannter zu machen und andere zuständige Stellen und Beratungseinrichtungen über die Möglichkeiten zu informieren und zu unterstützen. Im Vorgängerprojekt wurden bereits Leitfäden und Handbücher für die Ausgestaltung einer Qualifikationsanalyse entwickelt. Auf dieser Grundlage bietet Prototyping Transfer Materialien, Schulungen und individuelle Beratung für die Mitarbeitenden der zuständigen Stellen an. Im weiteren Projektverlauf sollen außerdem die erfolgten Qualifikationsanalysen und Aufgabenstellungen aufbereitet und anderen zuständigen Stellen zur Verfügung gestellt werden. Diese Maßnahme soll den Aufwand bei weiteren Qualifikationsanalysen in denselben Berufen deutlich mindern.
Die Kosten für eine Qualifikationsanalyse variieren je nach Dauer und gewähltem Instrument sowie gegebenenfalls notwendigen Werkstätten und/oder Material.11 Prototyping Transfer bietet an, im Einzelfall die Kosten der Antragstellenden für eine Qualifikationsanalyse zu übernehmen, wenn diese nicht nach SGB II/III von der Arbeitsverwaltung übernommen werden. Den Sonderfonds zur Finanzierung der Qualifikationsanalysen verwaltet für Prototyping Transfer der Westdeutsche Handwerkskammertag. Kammern, die keine Projektpartner in Prototyping Transfer sind, können sich bei Fragen dazu direkt an ihn wenden.
Anmerkungen
1. Vgl. § 14 Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) und § 50a Abs. 4 Handwerksordnung (HWO).
2. In den Anerkennungsgesetzen der Länder ist jeweils ein identischer Paragraf aufgenommen worden.
3. Oehme, A.: Prototyping - ein Verbundprojekt zur Qualifikationsanalyse. In: BWP 41 (2012) 5, S. 31-32; www.bibb.de/veroeffentlichungen/de/bwp/show/id/6939 (Stand: 8.12.2015).
4. Ebd., S. 32.
5. Auch in den Gesundheitsberufen gibt es Anerkennungsregelungen bei fehlenden Unterlagen: Der gleichwertige Kenntnisstand ist in diesen Fällen durch eine Kenntnisprüfung nachzuweisen.
6. Kramer, B.; Witt, D.: Die Bewertung ausländischer Berufsqualifikationen und anknüpfende Qualifizierungsangebote im Handwerk. In: BWP 41 (2012) 5, S. 29-31.
7. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Bericht zum Anerkennungsgesetz. 2014, S. 110-111.
8. Das Vorgängerprojekt Prototyping (August 2011 bis Januar 2014) wurde vom Westdeutschen Handwerkskammertag koordiniert und vom Forschungsinstitut für Berufsbildung im Handwerk an der Universität zu Köln (FBH) wissenschaftlich begleitet. Die dabei entwickelten prototypischen Verfahrensstandards und Hilfestellungen stehen als Download zur Verfügung: www.anerkennung-in-deutschland.de/prototypingtransfer
9. Foreign Skills Approval, ein öffentlich-rechtlicher Zusammenschluss von 77 Industrie- und Handelskammern zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen.
10. Projektträger ist der saarland.innovation&
standort e.V., der als Tochter der IHK Saarland in Kooperation mit der IHK Saarland das Projekt umsetzt.
11. Böse, C.; Lewalder, A.; Schreiber, D.: Die Rolle formaler, non-formaler und informeller Lernergebnisse im Anerkennungsgesetz. In: BWP 43 (2014) 5, S. 30-33; www.bibb.de/veroeffentlichungen/de/bwp/show/id/7433 (Stand: 8.12.2015).
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