Strategie gegen Armut und Ausgrenzung
Europa hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Bis zum Jahr 2020 wollen die Mitgliedstaaten die Zahl der Menschen, die von Armut oder Ausgrenzung bedroht sind, um 20 Millionen senken. Auf dieses Kernziel haben sie sich 2010 in der sogenannten Europa-2020-Strategie geeinigt. Deutschland hat sich daher zur Aufgabe gemacht, die Zahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 2008 zu reduzieren. Dieser sozialpolitische Ansatz, gezielt Menschen in den Blick zu nehmen, deren Armutssituation aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt ist, ist sinnvoll. Dennoch erscheint die Zielsetzung im Nachhinein als nicht sehr ehrgeizig, hat Deutschland zur Halbzeit die Zahl der Langzeitarbeitslosen doch bereits um mehr als 43 Prozent verringert und damit sein "Soll" schon längst erfüllt. Der Deutsche Caritasverband (DCV) ist der Ansicht, dass es mehr bedarf als einzelner statistischer Leuchttürme: Eine nachhaltige und effektive Armutsbekämpfung gelingt nur dann, wenn sie der Komplexität der unterschiedlichen Armutssituationen, wie Arbeitslosigkeit oder Personen in Haushalten von Alleinerziehenden, Rechnung trägt und auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig ansetzt. Im Hinblick auf die anstehende Halbzeitbewertung der EU-2020-Strategie hat der Verband daher unter dem Titel "Sensibel - streitbar - solidarisch" eigene Vorschläge und Beiträge zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung1 vorgelegt und will sich damit in die Debatte um eine wirksame Politik der Armutsbekämpfung einbringen. Aus Sicht des DCV sollte sich die Armutspolitik auf fünf Bereiche konzentrieren:
I. Genau hinschauen - Armutsrisiken müssen exakt erfasst werden
Sehen - urteilen - handeln, was schon in der katholischen Soziallehre angelegt ist, gilt auch hier: Ausgangspunkt jeder wirksamen Sozialpolitik muss eine genaue Erfassung der Armutsrisiken sein. Der Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, der demnächst erwartet wird, wird vom DCV als Mitglied des Beraterkreises kritisch unter die Lupe genommen werden. Armutsindikatoren geben dabei wichtige Hinweise auf die tatsächliche Armutssituation im Land, dürfen aber auch nicht fehlinterpretiert werden. Wichtig ist, dass die öffentliche Debatte nicht bei den Zahlen steckenbleibt, sondern dass sie sich auf effektive Maßnahmen der Armutsbekämpfung - das Handeln - fokussiert. Dazu will die Caritas mit konstruktiven Vorschlägen beitragen.
II. Ein Leben in Würde trotz Armut: Staat muss Lebensunterhalt, Teilhabe und Wohnraum sicherstellen
Herzstück jeder Armutsbekämpfung ist, den notwendigen Lebensunterhalt zu decken, der auch die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gesellschaft umfasst. Das derzeitige Verfahren, die sogenannten Regelsätze zu bemessen, die Pauschale, die den Großteil der Bedarfe abdecken soll, weist allerdings Mängel auf, die in der anstehenden Regelbedarf-Reform zu beheben sind.2 Neben der Einführung von einmaligen Leistungen für Waschmaschinen und Kühlschränke und einer bedarfsgerechten Finanzierung von Haushaltsstrom fordert der DCV auch Verbesserungen bei den Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendliche3 sowie eine Rücknahme des Ausschlusses von bestimmten Gruppen von Schutzsuchenden aus dem Asylbewerberleistungsgesetz. Teilhabe lässt sich aber nicht nur durch ein Budget im Regelsatz, sondern insbesondere auch durch Arbeit erreichen. Für sehr arbeitsmarktferne Menschen bietet der allgemeine Arbeitsmarkt indes keine Perspektive. Die bestehenden Instrumente der öffentlich geförderten Beschäftigung sind daher im Hinblick auf ihre Teilhabefunktion zu überprüfen und weiterzuentwickeln.4
Armutsbekämpfung darf sich nicht in erster Linie auf die Sozialhilfe oder Grundsicherung konzentrieren. Sinnvoll ist es vielmehr, vorgelagerte Sicherungssysteme wie zum Beispiel das Wohngeld oder den Kinderzuschlag zu stärken, damit Menschen mit geringem Einkommen nicht sofort ins unterste soziale Netz fallen. Der DCV hat ein Konzept erarbeitet, wie der Kinderzuschlag dahingehend weiterentwickelt werden kann.5
Gerade in Ballungsgebieten reicht die staatliche Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung nicht aus, um Menschen mit Wohnraum zu versorgen. Daneben braucht es Maßnahmen der sogenannten Objektförderung, wie zum Beispiel der Förderung des sozialen Wohnungsbaus und eine kluge kommunale Liegenschaftspolitik, die diese Problematik in den Blick nehmen.6
III. Sozialen Aufstieg ermöglichen: Armut darf sich nicht verfestigen
Arm bleibt arm und reich bleibt reich - eine erfolgreiche Politik der Armutsbekämpfung muss alles dafür tun, diesen Zusammenhang aufzubrechen. Armut darf sich nicht vererben, soziale Mobilität muss gestärkt werden. Befähigung, Bildung und Weiterbildung können hier erfolgreiche Faktoren sein, wenn sie individuell und chancengerecht ausgestaltet sind.7 Dauerhafte Armut ist ein zunehmendes Phänomen, das mehrere Ursachen haben kann beziehungsweise mit weiteren Problemlagen oder Besonderheiten einhergeht (Langzeitarbeitslosigkeit, Krankheit, Alleinerziehendenhaushalte, Migrationshintergrund). Hier braucht es in der Regel individuelle Lösungen.
IV. Lücken schließen: Keiner darf durch das soziale Netz fallen
Ein Sicherungsnetz sollte keine Lücken haben. Die Caritas sammelt daher kontinuierlich Problemanzeigen aus der Beratungspraxis, in denen Sicherungslücken deutlich werden, die bei größeren Sozialreformen vielleicht nicht intendiert waren. Die regelmäßigen sogenannten Sozialmonitoringgespräche der Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege mit der Bundesregierung bieten ein Setting, für diese Probleme Bewusstsein zu schaffen und Lösungen zu diskutieren. In der Sozialberatung vor Ort helfen die Wohlfahrtsverbände, darunter auch die Caritas, Betroffenen, ihre Rechte durchzusetzen und übernehmen eine wichtige Funktion, um Lücken zu schließen.
V. Soziale Ungleichheit bekämpfen: Gesellschaftlicher Friede muss erhalten bleiben
Derzeit besteht große Ungleichheit zwischen den Einkommen und eine viel zu große bei den Vermögen der Haushalte in Deutschland. Während die untere Hälfte der Haushalte nur über gut ein Prozent des gesamten Vermögens verfügt, befindet sich über die Hälfte des Vermögens im Besitz der oberen zehn Prozent der Haushalte. Damit geht die Gefahr einher, dass die Solidarität innerhalb der Zivilgesellschaft bröckelt. Der Staat ist gefordert, einerseits auf diese Ungleichheit angemessen zu reagieren und andererseits seine eigene Handlungsfähigkeit zu sichern. Der DCV schlägt daher Änderungen im Steuersystem vor, etwa den Spitzensteuersatz und die Abgeltungssteuer anzuheben, die Freibeträge bei der Erbschaftssteuer zu senken und eine Finanzaktivitätssteuer einzuführen.
Anmerkungen
1. Vgl. Fachpapier des DCV "Sensibel - streitbar - solidarisch - Vorschläge und Beiträge der Caritas zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung", www.caritas.de/fuerprofis/ presse/stellungnahmen/11-03-2015-armut-wirksam-bekaempfen
2. Vgl. Position des DCV zur Bemessung der Regelbedarfe von Erwachsenen und Kindern. In: neue caritas Heft 20/2015, S. 30 ff.
3. Vgl. Position des DCV "Reformbedarf beim Bildungs- und Teilhabepaket". In: neue caritas Heft 7/2013, S. 34 f.
4. Vgl. Vorschläge des DCV zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, www.caritas.de/fuerprofis/presse/stellungnahmen/05-11-2015-vorschlaege-zur-bekaempfung-der-langzeitarbeitslosigkeit
5. Vgl. Position des DCV zur einkommensabhängigen Kindergrundsicherung. In: neue caritas Heft 22/2014, S. I ff.
6. Vgl. Position des DCV zur Verbesserung des Wohnungsangebots für Menschen mit geringem Einkommen. In: neue caritas Heft 15/2015, S. 34 ff., www.caritas.de/fuerprofis/presse/stellungnahmen/07-06-2015-mehr-wohnungsangebote-fuer-menschen-mit-geringem-einkommen
7. Vgl. im Einzelnen Bildungspolitische Position des DCV. In: neue caritas Heft 3/2012, S. 32 ff.
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