„Rassismus ist kein Phänomen der letzten Monate“
Der Rassismusforscher und Projektleiter der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, Friedemann Bringt, erklärt im Interview mit Martin Herceg von der neuen caritas, was die Ursachen für rechte Gewalt sind - und wie man dagegen vorgehen kann.
Herr Bringt, seit dem massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 hat man den Eindruck, dass fremdenfeindliche Stimmen im Land immer lauter werden.
Ja, wir erleben eine Welle rassistischer Gewalt in Deutschland. Die aktuelle Situation ist in der Summe der Straftaten schlimmer als die Gewaltwelle vor zwanzig Jahren, die in den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock und den Brandanschlägen in Mölln und Solingen gipfelte. An der aktuellen Eskalation der Gewalt ist nicht mehr allein eine organisierte extreme Rechte beteiligt, in der zu der jahrelang tonangebenden NPD neue, noch gewaltaffinere Parteien wie "Die Rechte" oder "Der III. Weg" gekommen sind. Besonders eine sich neu konstituierende rechtspopulistische Bewegung in Deutschland, die rassistische mit EU-feindlicher Agitation verbindet, befeuert die Gewaltwelle als Stichwortgeberin. Die Zahl der Übergriffe ist zur Jahreshälfte 2016 bereits auf 717 Angriffe angewachsen, darunter 90 Brandanschläge. Gewalt und Drohungen richten sich auch gegen Unterstützer Geflüchteter: Landräte, Bürgermeister, Haupt- und Ehrenamtliche. Seit Mitte 2015 findet durchschnittlich an jedem zweiten Tag ein Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete statt. Die Aufklärungsquote solcher Delikte ist allerdings miserabel. Dies könnte daran liegen, dass einen substanziellen Teil der Taten nicht polizeibekannte Neonazis, sondern bislang unauffällige Ersttäter begehen.
Gegner einer sogenannten asylfreundlichen Politik führen an, dass durch den Zuzug von Ausländern die eigene, deutsche Kultur untergehe - woher kommt die Angst?
Das ist ein großer Irrtum von Menschen, die ihre eigene Identität und ihren Selbstwert nur durch die Abgrenzung und Ausgrenzung anderer Identitäten gewinnen können. Hinzu kommt, dass die alte Bundesrepublik der Selbstlüge unterlag, Deutschland sei keine Einwanderungsgesellschaft. Dabei gibt es Zuzug und Wegzug von hier seit Hunderten von Jahren. Protestantische Religionsflüchtlinge wurden in preußisch geprägten Regionen Deutschlands vor Jahrhunderten ebenso erfolgreich integriert wie Millionen von Kriegsflüchtlingen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Später kamen Hunderttausende von Arbeitsmigranten aus Südeuropa und der Türkei oder nach Ostdeutschland aus Vietnam, Mosambik oder Kuba. Weder ging dadurch eine regionale Identität noch die jeweilige religiöse oder weltanschauliche Prägung verloren. Die Gesellschaft wurde dafür aber vielfältiger, bunter und interessanter.
Woher kommen die Vorurteile, woher der Hass?
Rassistisch motivierte Gewalt und rechtsextreme Organisationen wie die "identitäre Bewegung", autonome Nationalisten oder rechtsterroristische Vereinigungen sind gleichsam die Spitze eines Eisberges. Dessen Basis bilden Vorurteile, Feindseligkeiten und Ausgrenzungsmechanismen in breiten Bevölkerungsschichten. Alltagsrassismus und Desintegrationswahrnehmungen in der Lebenswelt mancher bilden den mentalen Humus, auf dem Rechtsextremismus gedeiht. Prekaritätserfahrungen im Zuge unsicherer werdender Beschäftigungs- und Lebenssituationen können in Stigmatisierung und aggressiver Ausgrenzung münden. Die Abwertung anderer und die Aufwertung der vermeintlichen Eigengruppe bieten verunsicherten, ängstlichen und orientierungslosen Menschen einen Gewinn an Selbstwert und Sicherheit. Begünstigt werden solche psychosoziale Mechanismen durch autoritäre Grundhaltungen. Migranten oder Minderheiten können so zu Opfern einer "imaginären Integration" in die Gesellschaft durch eine Gruppenidentifikation anhand äußerer Merkmale, wie "Nation", "Rasse" oder "christliches Abendland", werden.
Gibt es beim Thema Rassismus einen Unterschied zwischen alten und neuen Bundesländern?
Hinsichtlich menschenfeindlicher Einstellungen und rechtsextremer Orientierungen ist der Unterschied in den letzten Jahren immer geringer geworden. Man kann sagen, die Einstellungen haben sich angeglichen. Das zeigen auch die Wahlerfolge der rechtspopulistischen AfD in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. In der Tendenz ist der Osten rassistischer und fremdenfeindlicher und der Westen antisemitischer. Einen signifikanten und im täglichen Leben bedeutsamen Unterschied gibt es jedoch zwischen Ost- und Westdeutschland: Rechtsextremismus und -populismus ist in Ostdeutschland in seiner Qualität (Gewaltbereitschaft) und Quantität (Wählerpotenzial) bedrohlicher als im Westen. Im Osten ist die Gefahr, Opfer eines rassistisch motivierten Angriffs zu werden, etwa zehnmal höher als im Westen. Der demografische und ökonomische Wandel, der in der Abwanderung von Menschen und Arbeitsplätzen erfahrbar wird, aktiviert Desintegrationspotenziale. Dies gilt überall, ist jedoch in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands in den vergangenen zwanzig Jahren besonders spürbar gewesen. Jedoch gibt es auch Neonazihochburgen im Westen, etwa in Dortmund-Dorstfeld oder ländlichen Regionen im bayerischen Oberfranken.
Rechte Hetze spielt sich immer häufiger auch im Internet ab. Warum sind gerade soziale Netzwerke wie Facebook so stark von Rassisten infiltriert?
Rechtsextreme und rechtspopulistische Strategien in sozialen Netzwerken sind oft subversiv. Sie nutzen harmlose Themen und docken daran ihre Ideologie an. Aus dem Thema Naturschutz wird so der Kampf um deutschen Lebensraum. Familienpolitische Themen werden zur Plattform im Kampf gegen "(Homo-)Sexualisierung des Schulunterrichts" oder gegen Gender Mainstreaming und Frauengleichstellung. Beim Thema Flüchtlinge, Willkommenskultur und Integration beobachten wir aktuell, dass bewusst Falschmeldungen gestreut werden, die Geflüchtete in ein schlechtes Licht rücken. Solche Dinge sind problematisch, aber häufig nicht strafrechtlich relevant. Deshalb hilft die Forderung des Löschens von rechtswidrigen Beiträgen nicht weiter. Der Vorstoß von Justizminister Heiko Maas, der Facebook stärker in die Pflicht nehmen will, kann nur ein Anfang sein. Wir brauchen vor allem eine Debatte über Rassismus in der Gesellschaft, die die Verantwortung nicht allein den sozialen Netzwerken zuweist. Die Antwort auf Hass in sozialen Netzwerken ist aktive Gegenrede von vielen unterschiedlichen Akteuren.
Ist Rassismus in Deutschland inzwischen salonfähig?
Seit 1990 sind in Deutschland 178 Menschen Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt geworden. Schon dies zeigt, dass Rassismus kein Phänomen der letzten Monate ist, sondern seit vielen Jahren die bundesdeutsche Gesellschaft prägt. Die vielen Fehler in der Strafverfolgung und öffentlichen Berichterstattung über die rechtsterroristische Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) machen darüber hinaus deutlich, dass es institutionellen Rassismus in staatlichen Behörden und Medien gibt. "Dönermorde", das Unwort des Jahres 2011, zeigt, wie Medien und Öffentlichkeit das Leid und die Verunsicherung der zumeist türkischstämmigen Angehörigen der Mordopfer ausblendeten und die Morde in einer vermeintlich migrantisch-organisierten Kriminalität verorteten. Dennoch hat die aktuelle Welle der Gewalt eine besondere Qualität. 2015 wurden von den bundesdeutschen Innenbehörden mehr als 13.800 politisch motivierte Straftaten mit rechtem Hintergrund registriert - ein Anstieg von rund 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Was muss geschehen, damit unsere Gesellschaft offener wird - und welche Rolle kann hier die Caritas einnehmen?
In der aktuellen Situation bedarf es einer spürbaren Verbesserung der Integration von Geflüchteten mit und ohne Aufenthaltsstatus, und das bedeutet: eine große gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung mit Investitionen in soziale Betreuung, Bildungs- und Beschäftigungschancen, den sozialen Wohnungsmarkt und interkulturelle und interreligiöse Begegnung auf lokaler Ebene. Ein "Wir schaffen das" muss auch qualitativ umgesetzt werden. Darüber hinaus muss gesellschaftliche Akzeptanz für Einwanderung geschaffen werden, indem öffentliche Sicherheit und Investitionen in Strafverfolgungsbehörden gewährleistet werden, um eine offensive Bekämpfung von Rassismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus möglich zu machen. Insbesondere kirchliche Akteure wie die Caritas müssen hier politischer agieren als bisher. Deutliche gesellschaftliche Signale aus allen Ebenen der Kirchen sind gefragt, die Gewalt ablehnen und schnellere Strafverfolgung fordern. Kirche und ihre Flüchtlingsprojekte müssen sich darauf vorbereiten, dass ihre Mitarbeitenden und die von ihnen betreuten Geflüchteten noch stärker Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt sein werden. In solchen Situationen ist eine professionelle Begleitung und Beratung essenziell. Leider besteht gerade im kirchlichen Milieu große Unkenntnis über professionelle Beratungsangebote wie mobile Beratung, Beratung Betroffener rechter Gewalt. Wir sind gewarnt: Nach der Gewaltwelle der frühen 1990er-Jahre entstand das rechte Terrornetzwerk NSU. Dazu dürfen wir es in der aktuellen Situation nicht kommen lassen.
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