Demenz ist nun ein Kriterium
Seit 20 Jahren fordern die Pflegeverbände die Einführung eines neuen, nicht auf Verrichtungen und somatische Bedarfe verkürzten Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Dieses Ziel wird mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG?II), das am 13. November in zweiter/dritter Lesung im Bundestag verabschiedet wurde, endlich erreicht. Das Jahr 2016 ist dabei ein Jahr der Vorbereitung und des Übergangs zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Dieser muss sowohl im Leistungsrecht als auch im Leistungserbringungsrecht umgesetzt werden. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff gilt daher erst ab dem 1. Januar 2017.
Was bedeutet er für die Praxis? Der neue Begriff und das dazugehörende Neue Begutachtungsassessment (NBA) orientieren sich nicht mehr an den gesundheitsbezogenen Defiziten, sondern an den noch verbliebenen Fähigkeiten und Selbstständigkeiten, die es zu stärken gilt. Diese
Wende hin zu einem rehabilitativen und präventiven Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel dar.
Vor allzu überzogenen Erwartungen ist allerdings zu warnen. Nicht zuletzt wird die Umsetzung von den Ressourcen, die den Einrichtungen und Diensten zur Verfügung stehen, abhängig sein. Der Schweregrad der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten wird mit insgesamt sechs Modulen erfasst. Im Unterschied zum geltenden Begriff werden nun ausdrücklich die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (Modul 2), Verhaltensauffälligkeiten und psychische Problemlagen (Modul 3) sowie die Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte (Modul 6) erfasst. Mobilität (Modul 1), Selbstversorgung (Modul 4) und die Bewältigung von und der Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen (Modul 5) sind Begutachtungsmerkmale, die auch schon nach dem alten Begutachtungsverfahren erhoben wurden.
Der Schweregrad der Pflegebedürftigkeit wird durch Punktwerte im Bereich von 0 bis 100 Punkten erfasst und in fünf Pflegegrade eingeteilt. Pflegegrad 1 beginnt bei 12,5 Punkten, Pflegegrad 2 bei 27 Punkten, Pflegegrad 3 bei 47,5 Punkten, Pflegegrad 4 bei 70 Punkten und Pflegegrad 5 bei 90 Punkten. Gegenüber den Empfehlungen des Expertenbeirats, der die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs begleitet hat, wurde die Schwelle zu Pflegegrad 1 und 2 nochmals abgesenkt, um noch mehr Menschen mit Hilfebedarf den Zugang zum System zu ermöglichen. Dies hat der DCV ausdrücklich begrüßt.
Die zur Einführung des neuen Begriffs erforderlichen Begutachtungsrichtlinien müssen nun zügig erarbeitet werden. Ende 2016 werden die schon im System befindlichen pflegebedürftigen Menschen übergeleitet: Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und einem hohen Betreuungsbedarf, wie zum Beispiel Demenzkranke, werden von den bisherigen Pflegestufen 0 bis Pflegestufe 3 und Härtegrad ohne neue Begutachtung in die 5 neuen Pflegegrade übergeleitet, und zwar mittels eines "doppelten Stufensprungs". Das heißt, wer Pflegestufe 0 hat, kommt automatisch in Pflegegrad 2, wer Pflegestufe 1 hat, in Pflegegrad 3 und so weiter. Pflegebedürftige mit körperlichen Einschränkungen gelangen einen Schweregrad höher, das heißt von Pflegestufe 1 in Pflegegrad 2 und von Pflegestufe 2 in Pflegegrad 3 und so weiter.
Alle ab 1. Januar 2017 neu einzustufenden Patient(inn)en werden automatisch nach dem Neuen Begutachtungsassessment untersucht. Wichtig ist, dass auch die heute schon im System befindlichen Pflegebedürftigen durch die Überleitung in die neuen Pflegegrade die ihnen schon bisher zustehenden Leistungen der Höhe nach behalten. Sowohl im häuslichen wie im stationären Bereich gibt es einen lebenslänglichen Besitzstandsschutz, so dass niemand, der heute schon pflegebedürftig ist, im neuen System verliert. Im ambulanten Bereich besteht dabei ein Anspruch in Höhe der bisherigen Leistungen, im vollstationären Bereich ein Anspruch auf den heute gezahlten Eigenanteil, das heißt, dass die heute im Pflegeheim lebenden Menschen auch künftig nur mit dem Eigenanteil belastet werden, den sie heute schon zahlen.
Das Pflegegutachten wird den Menschen künftig automatisch zugesendet, außer jemand widerspricht. Dafür hat sich der Deutsche Caritasverband seit vielen Jahren eingesetzt. Eine weitere Verbesserung für die Menschen ist, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) künftig Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel noch besser einschätzen muss und dass eine entsprechende Empfehlung unmittelbar als Antrag an die Kassen gilt.
Betreuung als Leistung für alle
Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wird die Betreuung als Leistung für alle ins SGB XI eingeführt. Die sogenannten "pflegerischen Betreuungsmaßnahmen" werden in § 36 beschrieben. Diese Leistung muss in den Landesrahmenverträgen im Jahr vor der leistungsrechtlichen Umsetzung des neuen Begriffs definiert werden, und zwar sowohl für den ambulanten wie auch für den stationären Bereich.
Die schon bestehenden Betreuungsleistungen, die in den vielen Jahren der Systemkorrekturen ins SGB XI eingeführt wurden, bleiben der Sache nach bestehen. Förmlich finden sie sich in neuen Paragrafen und werden auch umbenannt. So heißen die heutigen, nach Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsangebote nach § 45b künftig Angebote zur Unterstützung im Alltag. Sie finden sich in § 45a und werden differenziert nach drei Gruppen: Betreuungsangebote, Angebote zur Entlastung von Pflegenden und Angebote zur Entlastung im Alltag.
Aufgrund der in der Praxis fehlenden Trennschärfe dieser drei Typen hat sich der DCV dafür eingesetzt, dass die Angebote auch integriert nach Landesrecht zugelassen werden können, was der Gesetzgeber jetzt so geregelt hat. Für diese zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsangebote steht auch künftig ein eigener Leistungsbetrag zur Verfügung, der im Wege der Kostenerstattung eingesetzt werden kann. Dieser Entlastungsbetrag wird von heute 104 Euro ab dem 1. Januar 2017 auf 125 Euro erhöht. Er kann, wie auch heute schon, ebenfalls für Leistungen im Rahmen der Tages- und Nachtpflege, der Kurzzeitpflege sowie für entsprechende Angebote der Pflegedienste eingesetzt werden.
Mehr Flexibilität: Kurzzeit- und Verhinderungspflege
Der Entlastungsbetrag bildet auch das Kernstück der Leistungen im Pflegegrad 1. Bei Pflegegrad 1 geht der Gesetzgeber von einem sehr geringen Hilfebedarf aus. Menschen in Pflegegrad 1 haben daher nur Anspruch auf den Entlastungsbetrag in Höhe von 125 Euro sowie auf die Leistungen der Pflegeberatung, der Pflegekurse, der Beratung in der eigenen Häuslichkeit nach § 37 Abs. 3, den Präsenzkraftzuschlag in ambulant betreuten Wohngruppen nach § 38a und auf wohnumfeldverbessernde Maßnahmen. Gehen Menschen mit Pflegegrad 1 ins Pflegeheim, erhalten sie für die Aufwendungen einen Zuschuss in Höhe des Entlastungsbetrags, also 125 Euro.
Ab 1. Januar 2016 wird das Pflegestärkungsgesetz I dahingehend korrigiert, dass die Hälfte des Pflegegeldes bei der flexiblen Kombination von Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege während der gesamten Dauer der Inanspruchnahme der Leistung weiter gewährt wird. Dafür hatte sich der DCV eingesetzt. Nach wie vor fordert die Caritas die vollständige Flexibilisierung der Kurzzeit- und Verhinderungspflege. Gegenwärtig kann Kurzzeitpflege bei nicht ausgeschöpfter Verhinderungspflege für acht Wochen in Anspruch genommen werden, während Verhinderungspflege bei nicht ausgeschöpfter Kurzzeitpflege nur für sechs Wochen in Anspruch genommen werden kann. Die vollständige Harmonisierung scheiterte am Finanzvolumen. Auch für die lang bestehende Forderung des DCV, die Wartefrist bei der Verhinderungspflege aufzuheben, gab es aufgrund des eng gestrickten Finanzkorsetts keinen Spielraum. Der gute Wille des Gesetzgebers zeigt sich jedoch darin, dass es keine Wartefrist mehr gibt, wenn jemand von Pflegegrad 1 in Pflegegrad 2 wechselt.
Ebenfalls 2016 treten Neuregelungen in Kraft, die die Pflegeberatung verbessern. Künftig muss den Versicherten bei der qualifizierten Pflegeberatung nach § 7a ein(e) für sie namentlich zuständige(r) Pflegeberater(in) zugeteilt werden, der/die bei Vertrauensverlust jedoch gewechselt werden kann. Wenn der/die Pflegebedürftige einverstanden ist, können auch seine pflegenden Angehörigen die Pflegeberatung in Anspruch nehmen. Der/Die Berater(in) muss auch gezielt auf Entlastungsangebote für die Pflegepersonen hinweisen und auf Wunsch zur Beratung zum Versicherten nach Hause kommen.
Eigenanteile der Bewohner bleiben künftig gleich hoch
Große Veränderungen kommen ab dem 1. Januar 2017 auf die vollstationären Einrichtungen zu. Ab diesem Zeitpunkt werden die Eigenanteile der Heimbewohner(innen) nämlich nicht mehr nach dem Pflegegrad gestaffelt, sondern sind für alle Pflegegrade in der jeweiligen Pflegeeinrichtung gleich (sogenannte "einrichtungseinheitliche Eigenanteile"). Diese können und werden von Pflegeheim zu Pflegeheim, je nach Belegstruktur in den Pflegegraden, künftig variieren. Damit wollte der Gesetzgeber erreichen, dass sich die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen bei Höherstufungen aufgrund der dann steigenden Eigenanteile nicht mehr beklagen.
Sozialpolitisch gut gemeint, bedeutet dieser Schritt, dass Pflegebedürftige in den niedrigen Pflegegraden künftig stärker belastet und Pflegebedürftige in den höheren Pflegegraden entlastet werden, da ihre Eigenanteile, zumindest zunächst, sinken werden. Menschen mit Pflegegrad 2 werden durch die gleichzeitige Absenkung des Leistungsbetrages auf 770 Euro und Menschen im Pflegegrad 3 durch die Absenkung auf 1262 Euro doppelt belastet.
Die einrichtungseinheitlichen Eigenanteile haben den Einrichtungen während des Gesetzgebungsprozesses großes Kopfzerbrechen bereitet. Der DCV und die Verbände der freien Wohlfahrtspflege haben dem Gesetzgeber daher eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, welche die erheblichen Risiken abfedern sollten. Kritisiert hat die Caritas insbesondere, dass die Umstellung der Pflegesätze budgetneutral erfolgen soll: Während die kognitiv eingeschränkten Pflegebedürftigen mittels des doppelten Stufensprungs übergeleitet werden - dies sind immerhin 60 bis 70 Prozent der Heimbewohner(innen) - werden die körperlich eingeschränkten Pflegebedürftigen mittels des einfachen Stufensprungs übergeführt. Obwohl die Demenzkranken somit erstmals den erforderlichen Leistungen entsprechend eingruppiert werden, wird es an Personal fehlen - sofern die Einrichtungen nicht bereits 2016 neu verhandeln können. Diesen Königsweg hat der Gesetzgeber vorgesehen. Da jedoch 2016 die Landesrahmenverträge und die Personalschlüssel neu verhandelt werden müssen, wird der Zeitrahmen für Neuverhandlungen eng.
Es ist gelungen, dass bei Neuverhandlungen die alternative Überleitung nicht berücksichtigt werden muss. Auch die geforderte Regelung, dass bei einer erheblichen Veränderung der Belegstruktur während des Pflegesatzzeitraums nachverhandelt werden kann, wurde im Gesetz verankert. Bis 2020 soll zudem ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungssystem zur einheitlichen Bewertung des Personalbedarfs in den Pflegeeinrichtungen entwickelt und erprobt sein. Das ist dringend erforderlich und zu begrüßen, wenngleich eine schnellere Umsetzung wünschenswert wäre. Eine gute Botschaft ist, dass der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt hat, dass Einsparungen bei der Pflegedokumentation nicht zu einer Absenkung der Pflegevergütung führen, sondern der Arbeitsverdichtung entgegenwirken sollen.
Auch bei der Qualitätssicherung gibt es Änderungen. Mit einem neuen § 113b wird ein Qualitätsausschuss errichtet, der eine Art Zwitter zwischen der heutigen Schiedsstelle und der Selbstverwaltung darstellt. Positiv zu bewerten ist, dass das Instrument für das indikatorengestützte System der Ergebnisqualität im stationären Bereich bis zum 31. März 2017 und im ambulanten Bereich bis 30. Juni 2017 umgesetzt sein sollen. Die Pflege-Transparenzvereinbarungen sind stationär bis zum 31. Dezember 2017 und ambulant bis zum 31. Dezember 2018 unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse auf eine neue Grundlage zu stellen.
Die Caritas schaut genau hin
Der DCV begrüßt, dass die Ergebnisqualität nun endlich auf den Weg gebracht werden soll. Parallel dazu hält sie die für den ambulanten Bereich genannten Fristen für unrealistisch. Der DCV kritisiert zudem, dass der Gesetzgeber keine Änderungen bei den Qualitätsprüfungen infolge der Umsetzung des indikatorengestützten Systems vorgesehen hat. Bei den Qualitätsprüfungen im ambulanten Bereich konnte abgewendet werden, dass Regelprüfungen wieder unangemeldet stattfinden, wie vom Bundesrat gefordert. Allerdings werden Anlassprüfungen ambulant künftig unangemeldet sein.
Das Fazit: Der DCV wird genau beobachten, wie sich die Änderungen im stationären Bereich sowohl auf die Bewohner(innen) als auch auf die Einrichtungen auswirken. Dennoch ist insgesamt angesichts der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eine positive Bilanz dieser Reform zu ziehen. Das dritte Pflegestärkungsgesetz, das die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in der Sozialhilfe sicherstellen muss und zudem die Empfehlungen der Bund-Länder-AG zu den Kommunen in der Pflege umsetzen soll, kann auch Gelegenheit bieten, die eine oder andere Regelung des PSG II nachzubessern.
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