Miteinander lernen – miteinander leben
Sofia kann nicht sprechen. "Aber das macht nichts", sagt der siebenjährige Lennart. "Wir zeigen uns mit Zeichen, was wir meinen, wenn wir miteinander spielen." Lennart liest seinen neuen Lesetext Sofia laut vor. So übt er Lesen, und Sofia und auch die anderen Kinder mit einer Behinderung in der Klasse lernen ihrerseits viele Dinge nebenbei durch Abschauen und Mitmachen, die man ihnen vielleicht nicht zugetraut hätte.
Fast zwei Jahre gibt es jetzt inklusive Klassen in der Außenstelle der Karl-
Rolfus-Schule (KRS) in Lörrach. Die Karl-Rolfus-Schule ist eine staatlich anerkannte Ersatzschule für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen und gegebenenfalls körperlichen Behinderung in der Trägerschaft des Sankt Josefshauses Herten. Ihr Angebot reicht vom Schulkindergarten bis zur berufsvorbereitenden Einrichtung. Mit dem Bau der Außenstelle in Lörrach wurde der Wunsch verwirklicht, ein inklusives Angebot für Schüler(innen) mit Behinderung zu schaffen und sich als Sonderschule für Kinder ohne Behinderung zu öffnen.
Gesucht und gefunden hat man dabei in der Freien Evangelischen Schule Lörrach (FES), ebenfalls eine große private christliche Bekenntnisschule mit allen Schularten, einen Kooperationspartner. Kooperiert haben beide Schulen schon: Eine Sonderschullehrerin der Karl-Rolfus-Schule betreute eine Schülerin mit Downsyndrom in der Sekundarstufe der FES. Zusätzlich wurde das Klassenteam von einer Sonderschullehrerin stundenweise beraten und unterstützt. Beide Partner haben aber festgestellt, dass die umfassende sonderpädagogische Begleitung einer Schülerin von den personellen Ressourcen her schwierig zu leisten ist. So entstand die Idee, gruppenbezogene Angebote zu entwickeln. Begonnen werden sollte mit einer ersten Klasse mit etwa 15 bis maximal 20 Kindern, in der ein Drittel der Schüler(innen) mit und zwei Drittel der Kinder ohne Behinderung gemeinsam lernen.
Inzwischen gibt es zwei inklusive Klassen. Eine dritte Klasse für das kommende Schuljahr ist in Vorbereitung, so dass der Weg nicht mehr weit ist, eine inklusive Grundschule zu verwirklichen. Unterrichtet wird in der Ganztagesschule nach dem Zwei-Klassenlehrer(innen)-Prinzip: Das heißt, es ist in der Regel jeweils eine Lehrkraft der Grundschule und eine Lehrkraft der Sonderschule in der Klasse anwesend. Zusätzlich sind je nach Assistenzbedarf der Kinder noch Fachlehrer(innen) für Körperbehinderte und betreuende Kräfte mit in den Klassen. Die Schulleitungen beider Schulen sind von dem Konzept überzeugt, denn die Kinder lernen viel voneinander und miteinander. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Die Sonderschule bietet dafür die Voraussetzungen: Sie ist barrierefrei, und es gibt gute Angebote und Räumlichkeiten, die auch für Kinder ohne Behinderung bereichernd sind.
Ein Jahr lang haben sich die Lehrer vorbereitet
Für gute Rahmenbedingungen sind die jeweiligen Schulleitungen beider Schulen verantwortlich. Immer wieder bedarf es gemeinsamer Sitzungen, damit der Personaleinsatz, die Räumlichkeiten oder die Verantwortlichkeiten zum Beispiel im Vertretungsbedarf geklärt werden. Die Lehrkräfte beider Schulen hatten vor dem Start ein Jahr Zeit, sich auf dieses Modell vorzubereiten. Andere inklusive Schulen wurden angeschaut, die Lehrer(innen) haben jeweils bei der anderen Schule hospitiert, Fortbildungen besucht und dann gemeinsam ein Konzept erarbeitet. Wichtig ist, den Kindern so viel Gemeinsamkeit wie möglich und so viel Differenzierung wie nötig über den Tag verteilt zu bieten. Sie lernen an einem gemeinsamen Thema, zum Beispiel "Frühling" oder "Eigenschaften der Luft", und bekommen dazu vielfältige Aufgaben und Angebote. Das kann dann beim Kochen für ein Kind mit einer schwereren Behinderung eine basale Anregung sein: Es riecht, schmeckt und fühlt die Zutaten. Andere Kinder lesen schon Rezepte und schreiben sie auf, eine andere Gruppe wiegt und misst ab, was sie für ein Gericht brauchen. Nur in einem individualisierten Unterricht, in dem die Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes in den Blick genommen werden, ist gesichert, dass auch die Teilhabe der Kinder mit Behinderung möglich wird und durch entsprechende Angebote auch der Anspruch darauf eingelöst werden kann. Darauf zu achten, ist die Aufgabe der Sonderpädagog(inn)en und des Fachpersonals der Sonderschule. Im multiprofessionellen Team mit Eltern und Kindern werden jeweils die Lernziele festgelegt.
"Die Kinder lernen das, was sie an jeder anderen Grundschule auch lernen", sagt der Schulleiter der FES, Nathanael Pantli, zur Befürchtung der Eltern, ihre nichtbehinderten Kinder könnten zu wenig lernen. Die Lehrkräfte der Grundschule unterrichteten nach dem entsprechenden Bildungsplan. "Die Kinder lernen darüber hinaus aber noch viel mehr", betont er. "Sie erwerben wichtige Sozialkompetenzen und entwickeln ihre Persönlichkeit."
Auch die nichtbehinderten Schüler profitieren
Die Kinder selbst begegnen sich untereinander völlig unbefangen. Von der Unsicherheit vieler Erwachsener im Umgang mit Menschen mit Behinderung ist hier nichts zu spüren. "Auch wenn die Kinder am Anfang noch teilweise Berührungsängste hatten, sind diese inzwischen verflogen, und sie gehen offen auf alle Mitschüler zu", erklärt Lisa Hötzer, Sonderschullehrerin in einer der Inklusionsklassen. "Sie lernen aber auch, Nein zu sagen, sich abzugrenzen, gegebenenfalls Hilfe zu holen und klar zu signalisieren, wenn sie etwas nicht möchten."
Lisa Hötzer und Andrea Krauth, Grundschullehrerin der FES, finden auch das gemeinsame Arbeiten unterschiedlicher Professionalitäten und das tägliche Lernen voneinander und miteinander bereichernd. Hilfreich empfanden beide die Vorbereitungszeit für diese Aufgabe sowie das Kennenlernen der unterschiedlichen Schularten durch das gegenseitige Hospitieren. In Sitzungen und bei pädagogischen Tagen wurde auch viel über die eigenen Einstellungen, Haltungen und Werte reflektiert, gesprochen und diese miteinander abgeglichen. Dabei war eine zusätzliche Unterstützung und Prozessbegleitung von außen hilfreich.
Trotz aller Begeisterung empfinden die beiden Kolleginnen die Arbeit aber auch als herausfordernd. Um allen Kindern immer wieder gerecht werden zu können, bedarf es vieler Planungen und Absprachen im Team. Diese sind zeitintensiv. Grenzen der Inklusion sehen beide Lehrerinnen, wenn Schüler(innen) mit zu vielen unterschiedlichen Bedürfnissen in einer Klasse zusammenkommen. Kinder, die Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich haben, sind manchmal auch in einer Inklusionsklasse überfordert und brauchen eventuell eine kleinere, für sie überschaubarere Gruppe und klarere Strukturen. Die Kooperation kann nicht allen Kindern in einer Inklusionsklasse ein angemessenes Angebot machen. Die Lehrer(innen) müssen darauf achten, was das einzelne Kind an förderlicher Lernumgebung braucht, was eine Gruppe an sozialem Miteinander leisten und was in so einer Klasse auch geleistet werden kann. Das muss im Team immer wieder reflektiert werden. Ein Rezept für Inklusion gibt es nicht. Aber die Integration von Menschen mit einer Behinderung in die Gesellschaft ist nicht erst seit der UN-Konvention ein Menschenrecht. Wo, wenn nicht im Kindergarten und in der Schule, sollte man damit beginnen, dies einzulösen? Es ist ein Prozess - und ein Weg, der miteinander gegangen werden kann und muss. Er braucht Zeit, immer wieder auch die Offenheit für Neues, Gottvertrauen und Zuversicht aller Menschen auf diesem Weg.
Anmerkungen
Der Text entstand unter Mitwirkung von Nathanael Pantli (Schulleiter Grund-schule, Freie Evangelische Schule, Lörrach), Andrea Krauth (Grundschullehrerin FES), Lisa Hötzer (Sonderschullehrerin KRS).
Wie weit sind wir auf dem Weg zu inklusiven Schulen?
Die Vielfalt der Lernenden ist ein Gewinn für alle
Das Insolvenzverfahren kann ein Segen sein
Ein Gewinn für Bedürftige und Förderer
Der Aufsichtsratschef als Vermittler
Abwegige Sparmaßnahmen
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