Jetzt ist die Chance zum Gestalten da
Ein wenig fühlt es sich an wie im großen, runden Science-Fiction-Raumschiff. Die unterschiedlichsten Fachleute sitzen im Rund und blicken auf einen blauen Planeten, dessen Parameter bereits bekannt sind: "Weniger - älter - bunter", steht auf den Bildschirmen. Die Zeitreisenden wissen, dass sie noch in vertrauter Umgebung unterwegs sind. Und doch müssen sie schon bald landen und sich in einer demografisch sehr veränderten Umwelt zurechtfinden.
Die schrumpfende und zugleich alternde Bevölkerung mit einer weiter zunehmenden Vielfalt an Lebensentwürfen und Kulturen ("bunter") stellt unsere Gesellschaft und somit auch die Caritas vor sehr komplexe Herausforderungen. Um diese genauer zu erfassen und Lösungsansätze herauszuarbeiten, war die Fachtagung "Zukunft gestalten! Caritas in Zeiten des demografischen Wandels" Ende April 2015 in Bad Honnef1 ein wichtiger Baustein für die Weichenstellungen der Demografie-Initiative (2015-2017) der Caritas. Dass rund 80 Mitarbeitende und Führungskräfte aus ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern teilnahmen, kann als Beleg für die Bedeutung gelten, die der demografische Wandel schon jetzt in
der alltäglichen Caritas-Arbeit vor Ort besitzt. Durch die Arbeitsgruppen sowie ein Plenum im Fishbowl-Format zog sich wie ein roter Faden die Erkenntnis: Die Ansätze zur Bewältigung des demografischen Wandels gibt es - wir müssen sie "nur" mutig umsetzen, und zwar eher heute als morgen.
Diversity als Chance
Zum Beispiel beim demografischen Phänomen "bunter"2: Rechtlich sind nach der Grundordnung des kirchlichen Dienstes nichtchristliche Mitarbeitende im katholischen Wohlfahrtsverband möglich - aber in den Köpfen vielerorts noch nicht. Und selbst wo christlich orientierte Osteuropäerinnen den Löwenanteil der Pflege leisten, bleiben auf der Leitungsebene die Deutschstämmigen bisher unter sich.
Personalchefs sollten nicht Angehörige des eigenen, postmateriellen Milieus intuitiv bevorzugen, sondern sich selbst und auch Bewerber(innen) prüfen, wie offen sie mit Diversity umgehen. Auch die Verpflichtung auf ein gemeinsames Leitbild als Basis einer bunteren Caritasfamilie kann nicht nur in einer "Loyalitäts"-Unterschrift des neuen Mitarbeiters und einer selbstverständlichen Erwartungshaltung auf der anderen Seite bestehen, sondern verlangt echten Dialog und eine vielleicht anstrengende Klärungs- und Überzeugungsarbeit im Detail.
Welche Anforderungen und Lebenssichten von (potenziell) Mitarbeitenden formuliert werden, kann für die Caritas nicht nebensächlich sein: Der Aspekt "weniger" des demografischen Wandels bedeutet auch einen immer engeren Fachkräftemarkt. Mitarbeitende mit einer hohen Identifikation werden in diesem Ringen um Fachkräfte zu unschätzbaren Botschafter(inne)n für die Stärken der Caritas.3 Dass der Dienstgeber Caritas wirklich in vielem besser ist als konkurrierende Arbeitgeber, sagen viele Mitarbeitende, die in ihrer Arbeitsbiografie einen "Ausflug nach außen" gemacht haben und dann wieder zurückgekommen sind. Das gilt nicht zuletzt für die sogenannten weichen Faktoren wie gutes Betriebsklima, Kommunikation oder Engagement: Das christliche Profil behält seine tragende Bedeutung, braucht aber in einer bunteren Mitarbeiterschaft eine entsprechend vielfältige, innovative Vermittlung. Generell zieht die Arbeitsgruppe "Caritas als attraktiver Arbeitgeber" bei der Tagung das Fazit: Was gut läuft, muss besser bekanntgemacht werden.
Aber auch, wo die Caritas in Konkurrenz zu anderen - im ländlichen Raum eher wenigen - Anbietern steht, lassen sich im demografischen Wandel neue Antworten finden: Sobald eine Sozialraumanalyse ergeben hat, "Was können wir am besten - was leisten andere besser?", können nachhaltig verankerte Kooperationen flexible Lösungen bieten. Beispielsweise könnte dort, wo sich der einzelne Anbieter wegen Personalknappheit oder Mittelbefristung zurückziehen müsste, ein innovativer trägerübergreifender Talente-Pool einspringen, als "hochflexible Personalbörse" die zuvor unwirtschaftlichen Hilfsangebote möglich machen und zugleich Fachkräfte der sozialen Arbeit in der strukturschwachen Region halten.
Doch auch in Städten sehen die Teilnehmenden der "Zukunftsschmiede" Handlungsbedarf, besonders bei Arbeitsverhältnissen, die sich gemäß den Bedürfnissen Beschäftigter gestalten: Einerseits kann aus Refinanzierungsgründen vielfach (neuen) Mitarbeitenden die gewünschte Vollzeitstelle nicht angeboten werden. Andererseits sind Flexibilisierungen nötig, um Familie und Beruf lebensphasenbezogen vereinbaren zu können. Völlig fantasielos ist es zum Beispiel, einer Pflegedienstleiterin nach drei Jahren Elternzeit die Kündigung nahezulegen. Ein attraktives Modell gibt es hingegen in einem Orts-Caritasverband in der Diözese Essen: Daran teilnehmende Mitarbeiter(innen) erhalten 90 Prozent ihres Gehalts ausbezahlt und können im Gegenzug acht oder neun Wochen Urlaub im Jahr nehmen.
Auch den Demografie-Aspekt "älter" gilt es in der Arbeitswelt Caritas analysierend und dann gestaltend aufzugreifen: Noch sind die - von den älteren Mitarbeitenden und Führungskräften einst geprägten - "Top-down"-Strukturen zu dominant. Die den Jüngeren vertraute Flexibilität, um auf innovative Weise und teils "bottom-up" rasch zu Ergebnissen zu kommen, hat es im Verband schwer. Sehr vieles ist dabei weniger eine Frage von verteidigten hierarchischen Positionen, sondern ein Problem der inneren Einstellung auf allen Ebenen. Für Veränderungen ist deshalb das "emotionale Umdenken" mindestens so wichtig wie das rationale, was sich in sehr unterschiedlichen Beispielen zeigt: Mitarbeitende, denen man plötzlich Vertrauensarbeitszeit anbietet, zeigen sich oft verunsichert. Viele machen selbst dann, wenn es aus Dienstgebersicht sinnvoll wäre, keinen Gebrauch von der Möglichkeit zu Minusstunden, allein wegen der althergebrachten Haltung: "Nur wer sich möglichst lange am Arbeitsplatz aufhält, ist ein guter Mitarbeiter." Aber auch Vorgesetzte haben mitunter irrationale Befürchtungen und verzichten auf ein mögliches Sabbatjahr aus Angst, währenddessen könnte jemand an ihrem Stuhl sägen.
Ein erfrischender Vorschlag hingegen kommt aus der Arbeitsgruppe zur demografiegemäßen Organisationsentwicklung: Im Modell eines altersgemischten Tandems könnte eine Führungskraft bei ihrem Übergang in die Altersteilzeit formal von ihrer Funktion zurücktreten, aber dem/der schon amtierenden Nachfolger(in) ihr Know-how noch eine Zeitlang aktiv vermitteln. Werden beide Seiten die innere Größe zu einer solchen Form des intergenerationellen Zusammenhalts haben, und wird sich das Modell arbeitsrechtlich umsetzen lassen? Ein weiterer praktischer Tipp: Um solche jungen Menschen jetzt schon kennenzulernen, die nach dem Ausscheiden der "Babyboomer-Generation" aus dem Berufsleben die Caritasarbeit weitertragen werden, ist ein Blick auf youngcaritas sehr lohnenswert.
Sozialraumorientierung als Schlüssel
"Wenn die Willensbildung der Mitarbeitenden keine Rolle spielt, kriegen wir auch keine Sozialraumorientierung hin!", notiert eine Tagungsteilnehmerin. Selbstbestimmte Teilhabe zeigt sich als ein "Generalschlüssel" zu vielen Zukunftsthemen. Aus "Betroffenen" sollen "Gestalter(innen)" werden: Was für einzelne soziale Handlungsfelder richtig ist, gilt erst recht für den Umgang mit dem demografischen Wandel. Dem entspricht ein offener Dialog, statt in einer (Un-)Kultur der Erwartungshaltung gegenüber anderen zu verharren. Dabei dürfen auch Risiken eingegangen, "heilige Kühe" zumindest auf den Prüfstand gestellt werden: Nicht alle Standards der sozialen Arbeit werden sich in allen Regionen gleich halten lassen, Prioritätensetzung tut not - aber eben sensibel gestaltend und nicht ohne die Menschen vor Ort um ihre Meinung und Beteiligung zu bitten.
Bildungsinstitutionen sind dabei als Brückenbauer wichtig, sie sollten Gestaltungsmöglichkeiten gebündelt vermitteln, damit die Menschen gut informiert entscheiden können. Kursangebote beispielsweise zur kultursensiblen Pflege, also an der Schnittstelle von "bunter" und "älter", sind zunehmend gefragt, aber auch Informationen über Lösungsansätze, mit denen andere Länder, andere Kommunen, andere Verbände die Folgen des demografischen Wandels abfedern. Vieles ist möglich, wenn der jeweilige Sozialraum gründlich analysiert und die richtigen Ko-Akteure mit ins Boot geholt werden: auf dem Land zum Beispiel inklusive CAP-Märkte mit Verkaufsmobil4, ehrenamtliche oder gemeinnützig-kommunale Fahrdienste für Ältere genauso wie für junge Discobesucher, gut erreichbare Orte der Begegnung mit angegliederten Beratungsstunden - von Kirche, Caritas, Bürgernetzwerk und Kommune gemeinsam betrieben -, die Entwicklung von (teils zusammengelegten) Kitas zu Familienzentren, verlässliche nachbarschaftliche Alltagshilfen und all das unterstützt durch berufliche "Kümmerer" und "Engagement-Manager(inne)n". Insgesamt geht es um den Paradigmenwechsel von einer sozialen Angebots- zur "Ermöglichungs- und Aktivierungskultur". Der demografische Wandel stellt sich überall anders dar, daher braucht es viele kundige Engagierte an jedem Ort, mit Offenheit, Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung, sowie engagementfördernde Rahmenbedingungen, um das Zusammenleben in Dorf und Stadt zukunftsfest zu machen.
In den Verbänden sollten Formate wie die "Zukunftsschmiede" zum bereichsübergreifenden Nachdenken, ja Spinnen etabliert werden, damit wir nicht in Gewohnheiten verhaftet bleiben, die uns im demografischen Wandel nicht weiterhelfen. Oder, so der Wunsch eines Teilnehmers: In den nächsten Jahren sollte mindestens ein Drittel neue Leute auf den verbandlichen Tagungen auftauchen. Wir müssen Raum schaffen für Neue und Neues, ohne Bewährtes aus dem Blick zu lassen!
Anmerkungen
1. Hier nur einige Schlaglichter; zur ausführlichen Tagungsdokumentation: www.caritas.de/initiative
2. Die personalpolitischen Begriffe hierzu sind Diversity und Interkulturelle Öffnung, vgl. Bessing, Nina: Durch Chancengleichheit und Vielfalt gewinnen. In: neue caritas Heft 15/2014, S. 28.
3. Dies gelang beispielsweise 2014 bei "Pflege-KRAFT-gesucht!", einer Kampagne der Pflegestationen der Caritasverbände im Bistum Aachen, die sich an berufliche Wiedereinsteigerinnen richtete.
4. Vgl. www.cap-markt.de sowie www.stadt-land-zukunft.de, Suchbegriff "CAP-Markt".
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