Ermäßigter Steuersatz steht auf der Kippe
Werkstätten für behinderte Menschen und Integrationsprojekte leisten einen wichtigen Beitrag in unserer Volkswirtschaft. Sie fördern die berufliche Eingliederung und gesellschaftliche Teilhabe Erwachsener, die ihren Lebensunterhalt aufgrund einer Behinderung (noch) nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestreiten können. Aufgrund der zunehmenden Technisierung erbringen Werkstätten und Integrationsprojekte auch sogenannte Nichtproduktionsleistungen wie zum Beispiel die Übernahme von Verpackungs- und Versandaufträgen oder die Öffnung der eigenen Cafeteria auch für externe Gäste.
Nichtproduktionsleistungen von Werkstätten und Integrationsprojekten unterliegen, sofern sie umsatzsteuerpflichtig sind, nach bisheriger Praxis dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von derzeit sieben Prozent. Allerdings häufen sich die Fälle, in denen Finanzämter - regelmäßig im Rahmen von Betriebsprüfungen - die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf Nichtproduktionsleistungen ablehnen: Sie stützen dies auf den Umsatzsteuer-Anwendungserlass, die für alle Finanzämter verwaltungsintern verbindliche Richtlinie. Beispielsweise hat ein Finanzamt die Anwendung des Steuersatzprivilegs auf gastronomische Umsätze eines Cafés, das Teil einer Werkstatt ist, verneint, weil ein Café begrifflich keine Werkstatt sei und die gastronomischen Leistungen "planmäßig" erbringe. Darüber hinausgehenden Zündstoff enthält ein Urteil des BFH vom 24. September 2014 (AZ VR 11/14). Danach unterliegen die Veräußerung von Scannern, die Erbringung von Dienstleistungen für Archivsysteme und deren Entwicklung und Vertrieb sowie damit zusammenhängende Dienstleistungen durch ein Integrationsprojekt dem Regelsteuersatz von derzeit 19 Prozent. Der BFH könnte sogar dahingehend verstanden werden, dass nach seiner Auffassung sowohl Produktions- als auch Nichtproduktionsleistungen gemeinnütziger Werkstätten und Integrationsprojekte generell nicht steuersatzprivilegiert sind - eine deutliche Verschärfung gegenüber der bestehenden Praxis wie auch gegenüber dem Umsatzsteuer-Anwendungserlass. Dies kann für Werkstätten wie auch für Integrationsprojekte gravierende Auswirkungen haben. Viele ihrer Kunden sind nicht oder nur teilweise zum Vorsteuerabzug berechtigt. Für solche Kunden würde die Anwendung des Regelsteuersatzes zu einer Verteuerung führen.
BFH-Urteil widerspricht europäischem Recht
Die Versagung des Steuersatzprivilegs für umsatzsteuerpflichtige Leistungen gemeinnütziger Werkstätten und Integrationsprojekte, darunter Nichtproduktionsleistungen, entspricht nach unserer Auffassung nicht dem Wortlaut des Gesetzes (§ 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 UStG - Umsatzsteuergesetz). Sie widerspricht darüber hinaus auch den unionsrechtlichen Vorgaben in der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (Anhang III Nr. 15 zu Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL).
Der Kern der gemeinnützigen Tätigkeit einer Werkstatt oder eines Integrationsprojekts besteht in der sinnvollen, erfüllenden Beschäftigung behinderter Menschen unter realitätsgerechten Arbeitsverhältnissen mit der erforderlichen Begleitung durch Ausbilder(innen). Die Träger von Werkstätten und Integrationsprojekten haben den gesetzgeberischen Auftrag, Menschen mit Behinderung, die auf dem regulären Arbeitsmarkt (noch) keine realistischen Beschäftigungschancen haben, eine erfüllende Tätigkeit anzubieten. Die Erzielung von Umsätzen am Markt ist unerlässliche Voraussetzung für die gemeinnützige Zweckverfolgung. So gesehen sind die Beschäftigung behinderter Menschen und die Erzielung von Umsätzen auf dem Markt "zwei Seiten einer Medaille".
Die von Werkstätten und Integrationsprojekten typischerweise erbrachten Leistungen dienen mithin wohltätigen Zwecken und der sozialen Sicherheit - solche Leistungen müssen die EU-Mitgliedstaaten nach Unionsrecht begünstigen. Diese Auffassung haben die Verfasser dieses Beitrags in einem Rechtsgutachten für die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen und für die Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen eingehend begründet. Auf dieser Linie liegt die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, insbesondere solche Leistungen zu begünstigen, die von ihrer Art her bereits durch einen (gemeinnützigen) Zweckbetrieb selbst vorgegeben sind. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle, ob zum Beispiel eine als Zweckbetrieb anerkannte Werkstatt Umsätze aus Lieferungen von Gegenständen oder aus Nichtproduktionsleistungen erzielt und ob auch kommerzielle Unternehmen solche Leistungen erbringen oder erbringen könnten.
Die gegenteilige Auffassung des Bundesfinanzhofs überzeugt nicht. Das enge Verständnis der Finanzverwaltung vom Begriff der Werkstatt ist überholt, es widerspricht dem Sozial- und dem hier anknüpfenden Gemeinnützigkeitsrecht, an das wiederum das Umsatzsteuersatzprivileg anknüpft. In der Konsequenz kommt es entgegen der Verwaltungsauffassung auch nicht darauf an, ob eine Werkstatt Nichtproduktionsleistungen "planmäßig" oder lediglich "ausnahmsweise" erbringt.
Endgültige Klärung steht aus
Es bleibt abzuwarten, ob die Finanzverwaltung das ungleich strengere BFH-Urteil für allgemein anwendbar erklären wird. Eine rückwirkende Verschärfung der Besteuerung gegenüber der geltenden Erlasslage erscheint aus Vertrauensschutzgründen nicht möglich.
Nach dem Koalitionsvertrag von CDU/ CSU und SPD ist die frühere Praxis, BFH-Entscheidungen im Einzelfall mit einem sogenannten Nichtanwendungserlass zu belegen, aufgegeben worden. Gleichwohl erkennt die Finanzverwaltung die erheblichen praktischen Auswirkungen, sollte sie Leistungen von Werkstätten und Integrationsprojekten, darunter Nichtproduktionsleistungen, künftig dem Regelsteuersatz unterwerfen. Die Finanzverwaltung steht also vor einem Dilemma. Ärgerlicherweise hat der V. BFH-Senat in dem oben genannten Fall davon abgesehen, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, obwohl die Rechtslage nach Unionsrecht keineswegs eindeutig ist. Solange die Finanzverwaltung das genannte BFH-Urteil nicht für allgemein anwendbar erklärt und den Umsatzsteuer-Anwendungserlass nicht ändert, kann nach unserer Auffassung entsprechend dem Erlass verfahren und für Nichtproduktionsleistungen im Einzelfall der ermäßigte Steuersatz in Anspruch genommen werden. Wünschenswert wäre eine rasche Klärung der Rechtslage.
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