Psychisch kranke Mitarbeiter: Wie reagiert ein Chef?
Bereits vor der Jahrtausendwende hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) prognostiziert, dass Stress die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts darstellen wird. Im Jahr 2014 ist Stress nicht nur in der Arbeitswelt ein zentrales Thema, sondern auch in der gesamten Gesellschaft: Nach einer Umfrage der Techniker Krankenkasse fühlen sich acht von zehn Befragten zwischen 14 und 65 Jahren gestresst, jeder Dritte klagt über Dauerstress und jeder Fünfte leidet deshalb sogar unter gesundheitlichen Beschwerden.
Stress begünstigt und verursacht die Entstehung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen. In der Prävention und Behandlung von seelischen Leiden muss es deshalb auch um die Reduktion von Belastungen gehen - ganz gleich, ob diese im Privatleben oder Berufsleben bestehen.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Psychische Erkrankungen haben in den letzten fünf bis zehn Jahren zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion weit über die Arbeitswelt hinaus geführt. Insbesondere durch die mediale Aufmerksamkeit und die Präsenz prominenter Betroffener erlebt das Thema einen langsamen Wandel hin zu mehr Bewusstheit und Akzeptanz. Allerdings gibt es in der Arbeitswelt noch immer Vorbehalte und Unsicherheiten im Umgang mit psychisch belasteten und erkrankten Mitarbeiter(inne)n. Der richtige Umgang mit ihnen wird jedoch zukünftig immer wichtiger werden, denn seit 1995 nehmen die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen zu.2 Aktuell machen psychische Erkrankungen 12,5 Prozent aller betrieblichen Fehltage aus.3 Besondere Brisanz erhält diese Entwicklung auch durch die Krankheitsdauer: Diese ist mit 39,5 Tagen pro Fall fast dreimal so hoch wie bei anderen Erkrankungen (13,5 Tage).4 Psychische Erkrankungen sind außerdem die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Frühberentungen. In den vergangenen 18 Jahren stieg der Anteil von Personen, die aufgrund seelischer Leiden frühzeitig in Rente gingen, von 14,5 Prozent auf 41,9 Prozent.5 Die WHO prognostiziert, dass psychische Erkrankungen im Jahr 2020 an zweiter Stelle der weltweit häufigsten Krankheiten stehen werden - hinter Herz-Kreislauf-Beschwerden.6 Neben der realen Zunahme der psychischen Leiden lässt sich die steigende Zahl auch durch eine verbesserte Diagnostik und Fachkompetenz der Ärzte erklären.
Diagnosen meist schwierig
In der medizinischen Fachwelt werden psychische Erkrankungen auch mit dem als wertneutral geltenden Begriff der psychischen Störung bezeichnet. Es ist jedoch noch immer nicht ausreichend erforscht, wie psychische Störungen entstehen und therapiert werden können. Als sicher gilt, dass verschiedene Faktoren zur Entstehung beitragen. Dazu zählen: eine genetische Veranlagung, Störungen des Gehirnstoffwechsels, Traumata und kritische Lebensereignisse sowie beruflicher und privater Stress.
Psychische Störungen und Auffälligkeiten zeichnen sich zudem durch viele verschiedene Merkmale aus, was auch ihre Diagnose schwer macht. Diese kann wiederum nur von Ärzt(inn)en, Psycholog(inn)en und Psychotherapeut(inn)en vorgenommen werden.
Wie sollten sich Vorgesetzte verhalten?
Vorgesetzte fühlen sich oftmals überfordert im Umgang mit Mitarbeiter(inne)n mit psychischen Erkrankungen und wünschen sich praktische Handlungshilfen. Dabei geht es für sie in erster Linie darum, erkennen zu können, wann ein Mitarbeiter psychisch krank ist und wie sie mit den Betroffenen sprechen können - auf eine Art und Weise, die motivierend und hilfreich für beide Seiten ist. Maßgeblich für einen gelingenden Umgang mit betroffenen Mitarbeiter(inne)n ist die innere Haltung der Vorgesetzten. Sie sollten sich zunächst darüber bewusst sein, dass sie seelische Leiden oft nicht erkennen können. Schon alleine die Meinung, ihr Mitarbeiter hätte "ein psychisches Problem", führt meist zu einer deutlichen Belastung der Arbeitsbeziehung und verschlechtert den Integrationsprozess des Mitarbeiters.
Offen sein und nicht bewerten
Eine offene Haltung hingegen, die keinerlei psychologische Bewertung vornimmt, ist die Grundvoraussetzung für eine gelingende Kommunikation und eine gute Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter. Denn Mitarbeitende spüren jede Form von psychologischer Bewertung und reagieren darauf in der Regel mit innerer Abwehr und Widerstand.
Vorgesetzte sollten sich darauf konzentrieren, Veränderungen bei ihren Mitarbeiter(inne)n wahrzunehmen: Veränderungen im Arbeits- und Leistungsverhalten, im Sozialverhalten, in der äußeren Erscheinung sowie körperlichen und emotionalen Befindlichkeit (siehe Tabelle). Wenn ein Mitarbeiter, der als lebendig und mitteilsam, hilfsbereit und engagiert erlebt wird, zunehmend stiller wird, in Situationen abwesend wirkt, sich in Besprechungen nur rar oder gar nicht mehr beteiligt, sollte dies der oder die Vorgesetzte wahrnehmen und zeitnah ansprechen.
Der Grund für die Veränderung ist dabei meist nicht ersichtlich. Inwieweit (psychische) Belastungen ursächlich oder beteiligt sind, können Vorgesetzte in der Regel nicht erkennen. Auch zum Beispiel verliebte Menschen können sich sonderbar verhalten, und Liebeskummer kann starke Gefühle und verändertes Verhalten hervorrufen, ohne dass die Person psychisch krank ist.
Das Gespräch suchen
Vorgesetzte sollten wahrgenommene Veränderungen zeitnah ansprechen, um frühzeitig Unterstützung anbieten zu können und ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen. Oftmals haben sie jedoch Bedenken, wie sie ein Gespräch führen können. Hilfreich ist die Methode des Feedbacks, bei der der Vorgesetzte mit dem/der Mitarbeiter(in) darüber spricht, welche Veränderungen er beim ihm/ihr wahrgenommen hat und wie es ihm damit geht.
Gesprächsleitfaden I für Führungskräfte zum Feedbackgespräch
I. Schritt: Beschreiben der Wahrnehmung - konkret, ohne zu werten
II. Schritt: Benennen des eigenen Gefühls
III. Schritt: Benennen des eigenen Wunsches
Beispiel: "Herr/Frau Meyer, mir ist aufgefallen, dass Sie gestern, vorgestern und letzten Freitag zur Teamsitzung so zehn bis 15 Minuten nach Beginn gekommen sind. Zudem habe ich Sie die letzten beiden Wochen an mehreren Tagen nach Dienstschluss noch im Büro gesehen. Ich mache mir Sorgen und würde gerne erfahren, wie es Ihnen geht."
Ziel des vertraulichen Vieraugengesprächs ist, gemeinsam Lösungen zu finden, um vom Beschäftigten erlebte Belastungen am Arbeitsplatz abzubauen oder ihm dabei Unterstützung anzubieten. Der Mitarbeitende sollte seine Sichtweise schildern und die Lösungen selbst entwickeln. Führungskräfte sollten daher in einem Belastungsscreening gezielt alle belastungsrelevanten Bereiche ansprechen und erfragen, wie sich der Mitarbeitende in diesen jeweils fühlt (siehe Gesprächsleitfaden II). Diese Bereiche sind: die eigene Tätigkeit, die Zusammenarbeit mit Kollegen und Führungskräften sowie die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben.
Gesprächsleitfaden II für Führungskräfte zum Belastungsscreening von Mitarbeitern
I. Wie geht es Ihnen mit Ihrer Tätigkeit?
II. Wie geht es Ihnen mit Ihren Kolleg(inn)en?
III. Wie geht es Ihnen mit Ihrem Vorgesetzten?
IV. Wie geht es Ihnen sonst? Wie fühlt sich für Sie Ihre Balance zwischen Privat- und Berufsleben an?
Vorgesetzte sollten auch hinterfragen, inwieweit der Mitarbeitende sich privat belastet fühlt. Die Ursachen für private Belastungen gehören zwar in den Bereich der Privatsphäre, eine Ausnahme kann dann bestehen, wenn sie Einfluss auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters haben und somit den Arbeitsvertrag gefährden.
Psychische Gesundheit aller Beschäftigten fördern
Jedes Unternehmen hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu fördern und zu erhalten. Den größten Erfolg erzielt erwiesenermaßen ein systematisches betriebliches Gesundheitsmanagement, das alle gesundheitsrelevanten Bereiche der Organisation umfasst. Die größten Gesundheitseffekte erzielen dabei Maßnahmen, die die Beschäftigten mitentwickeln. So werden zunächst die Probleme analysiert (Diagnose) und daraufhin nach Lösungen gesucht. Wichtig ist, die Wirkung zu evaluieren, damit die Veränderungen nachhaltig sind.
Die Maßnahmen zielen grundsätzlich sowohl auf die Arbeitsbedingungen und die Kultur der Organisation (Verhältnisse) als auch auf die einzelnen Mitarbeiter (Verhalten und persönliche Gesundheitskompetenz). Zahlreiche Untersuchungen und die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass vor allem eine gesundheitsorientierte Führung, ein wertschätzendes Miteinander sowie eine konstruktive Konfliktkultur die psychische Gesundheit der Beschäftigten fördert.
Ebenso haben Untersuchungen gezeigt, dass das betriebliche Klima und die Atmosphäre, in die ein Mitarbeiter nach Abwesenheit wegen psychischer Erkrankung zurückkehrt, möglicherweise noch entscheidender für den Gesundungsprozess sind als die Arbeitsanforderungen selbst. Jedes Unternehmen sollte parallel zur Professionalisierung seines Umgangs mit psychischen Belastungen und Erkrankungen bei Mitarbeiter(inne)n ein internes Netzwerk zur Unterstützung weiterentwickeln und ein professionelles externes Netzwerk aufbauen.
Insgesamt sollten Unternehmen eine Kultur entwickeln, die psychisch kranke Mitarbeitende als eine wertvolle Ressource anerkennt und sie hinsichtlich ihrer Stärken und Potenziale am Arbeitsplatz einsetzt.
Anmerkungen
1. Techniker Krankenkasse: Kundenkompass Stress. Aktuelle Bevölkerungsbefragung: Ausmaß, Ursachen und Auswirkungen von Stress in Deutschland, 2009.
2. Dt. Ärzteblatt, 4/2009, S. 170.
3. Dt. Ärzteblatt, 4/2009, S. 170.
4. Dt. Ärzteblatt, 7/2013; S. 269.
5. Dt. Ärzteblatt, 7/2013; S. 269.
6. Dt. Ärzteblatt 17/2008; S. 880.
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