Endlich ankommen und bleiben
Die Zahl der jungen Menschen, die auf der Straße oder in ungesicherten, prekären Wohnverhältnissen leben, ist in den vergangenen Jahren merklich angestiegen - auch im ländlichen Raum. Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung? Wie viele junge Männer und Frauen sind betroffen? Wer hilft ihnen und welche Möglichkeiten bietet ihnen das Hilfesystem?
Viele Fragen, wenige Antworten! Vor diesem Hintergrund hat das dreijährige Modellprojekt des Diözesan-Caritasverbandes (DiCV) Münster "WohnPerspektiven" gezielt wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Männer und Frauen im ländlichen Raum in den Blick genommen.1
"WohnPerspektiven" ist es gelungen, differenzierte Erkenntnisse zu den Lebenslagen und Hilfeverläufen junger Menschen zwischen 15 und 27 Jahren in Wohnungsnotfällen zu gewinnen. Zudem wurden in drei Regionen Wohnungsnotfallnetzwerke geknüpft, die sonst häufig
an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe, Wohnungslosenhilfe und anderen Hilfen scheitern. Neue Angebote und veränderte Verfahren - "18 lokale WohnPerspektiven" - wurden erprobt. Sie zeigen, dass bedarfsgerechte Wohnungsnotfallhilfen für junge Menschen möglich sind, wenn zusätzliche Ressourcen und zusätzliches Engagement zur Verfügung stehen. Gleichzeitig zeigen sie aber auch die Grenzen der Veränderung auf, wenn maßgebliche Akteure in Politik, Verwaltung und bei Trägern keine Verantwortung dafür übernehmen wollen, die Hilfen im ländlichen Raum weiterzuentwickeln.
Junge Menschen in Wohnungsnot sind auch im ländlichen Raum eine soziale Realität, doch sind die Wohnungsnotfalllagen weit weniger sichtbar. Offene Szenen finden sich kaum. Stattdessen pendeln die Betroffenen von einer prekären Wohnsituation zur nächsten. Meist versuchen sie, das Problem privat zu bewältigen, auch weil zielgruppenspezifische Angebote weitgehend fehlen. Dabei stehen der Verbleib in der familiären oder partnerschaftlichen Wohnung trotz eskalierender Konflikte sowie die vorübergehende Unterkunft bei Freunden, Bekannten und Verwandten an erster Stelle. Darüber hinaus bewirken die dezentral organisierten Hilfesysteme des ländlichen Raums, dass relevante Daten, die das Phänomen darstellen könnten, nur fragmentarisch vorliegen. Um sie zusammenzuführen, fehlen Ressourcen und das Bemühen von Politik, Verwaltung und freien Trägern.
Im Widerspruch zur formalen Unsichtbarkeit der Zielgruppe stehen die Erfahrungen vieler Akteure in den psychosozialen Hilfen und Beratungsangeboten, den kommunalen Notunterkünften, aber auch in Schulen und Bildungseinrichtungen. Insbesondere in den Angeboten der Wohnungslosenhilfe nehmen Fallzahlen und der individuelle Handlungsdruck zu. Als prägend wird die unmittelbare Dramatik des Einzelfalls in Kombination mit fehlenden Routinen und zielgruppenspezifischen Kapazitäten in der örtlichen Hilfe wahrgenommen.
Eine feste Anwendungspraxis im Umgang mit jungen Menschen in Wohnungsnotfällen ist im ländlichen Raum nicht oder nur sehr begrenzt vorhanden. Oftmals passen Hilfen und Klient(inn)en nicht zueinander; sie überfordern sich gegenseitig mit ihren Ansprüchen. Trotz differenzierter Hilfelandschaften ergeben sich wiederholt Probleme bei der Ausgestaltung der Hilfen - vor allem an den Schnittstellen der verschiedenen Rechtskreise (SGB II, SGB VIII, SGB XII, OBG), in denen sich junge Menschen in Wohnungsnotfällen bewegen.
Sichtbar werden die fehlenden Routinen und ungeklärten Zuständigkeiten durch die langwierigen Hilfeverläufe. Die gewonnenen Erkenntnisse belegen, dass der Hilfeverlauf in hohem Maße davon abhängt, wie gut bekannt und vernetzt die Akteure sind. Vernetzte Hilfen und verbindliche Absprachen, wie sie bei "WohnPerspektiven" erprobt wurden, stellen daher einen Gewinn sowohl für Helfende als auch für Betroffene dar. Beispiele sind:
- Wohnungsnotfallnetzwerke: Vernetzungen auf räumlicher Ebene (Kommune), auf fachlicher Ebene (Akteure mit ähnlichem Aufgabenprofil) oder innerhalb eines Trägers schaffen Synergien.
- Fallkonferenzen: Sie bringen alle, die für die Hilfen im Einzelfall vor Ort verantwortlich sind, an einen Tisch und führen zu einer Lösung, die die Wohnungsnotfallsituation aufhebt.
- Übergangsmanagement: Bilaterale Vereinbarungen zwischen verschiedenen Hilfen innerhalb bestimmter Trägerstrukturen oder zwischen unterschiedlichen Akteuren regeln den Übergang von Hilfe zu Hilfe.
- Kooperation mit Ehrenamt: Diese verbindet die niederschwelligen, ehrenamtlichen Leistungen, darunter Unterkunft, Beratung und materielle Hilfen für die Betroffenen, mit der professionellen Wohnungslosenhilfe.
Konkrete Lücken schließen
Mit "WohnPerspektiven" wurden Lücken im Angebotsspektrum identifiziert und Kräfte mobilisiert, um diese gemeinsam zu schließen. Die Angebote stärken die Zusammenarbeit der Akteure, indem sie die Navigation im Hilfesystem erleichtern, wirken präventiv an Schulen und ermöglichen den Zugang zu Wohnraum im Notfall. Entscheidend für die Passgenauigkeit der Angebote war, dass Akteure und Betroffene selbst den Bedarf äußerten und Ideen entwickelten.
Die Bedingungen des ländlichen Raumes erfordern eine vernetzte, multiprofessionelle, wohnortnahe Hilfe, um junge Menschen in Wohnungsnotfällen adäquat zu unterstützen. Unerlässlich für eine förderunabhängige Übertragung der als lokalen "WohnPerspektiven" erprobten Lösungsansätze ist jedoch das Vorantreiben politischer und gesetzgeberischer Initiativen. Die Handlungsempfehlungen im Abschlussbericht2 lauten unter anderem:
- die Zielgruppe ressortübergreifend wahrzunehmen,
- den Verschiebebahnhof zwischen den Hilfen nachhaltig stillzulegen sowie
- zusätzliche, kurzfristige, zielgruppenspezifische Wohnangebote zu schaffen.
Anmerkungen
1. Umgesetzt wurde das vom Land Nordrhein-Westfalen geförderte Projekt unterFederführung des DiCV Münster vom Verein für katholische Arbeiterkolonien in Westfalen (für den Kreis Borken), vom Caritasverband Kleve (für den Kreis Kleve) und vom Caritasverband Moers-Xanten (für den linksrheinischen Teil des Kreises Wesel).
2. Abschlussbericht auf www.wohn-perspektiven.de, "Downloads".