Aussagekräftig und nachvollziehbar
Nicht nur in Hospizen, auch in Einrichtungen der stationären Altenhilfe und in Krankenhäusern stehen die Mitarbeitenden immer öfter vor schwierigen Entscheidungen mit moralischer Abwägung. Hier kann das Instrument der ethischen Fallbesprechung entlastend wirken und die Handlungssicherheit der Akteure erhöhen. Diese Ziele sind allerdings nur dann zu erreichen, wenn das verwendete Fallbesprechungsmodell wenigstens drei Voraussetzungen erfüllt: Es muss erstens möglichst einfach strukturiert sein, zweitens die jeweilige Situation möglichst vollständig erfassen und drittens zu einer begründeten Ordnung der einschlägigen moralischen Aspekte verhelfen. Das größte Defizit vieler derzeit verwendeten Modelle besteht darin, dass sie zwar eine Reihe wichtiger moralischer Gesichtspunkte benennen, aber keine Angaben zu ihrer jeweiligen Gewichtung machen und daher der Frage ausweichen, warum ein bestimmter moralischer Aspekt in der betreffenden Situation den Vorrang vor einem anderen konkurrierenden moralischen Aspekt verdient. Fehlen jedoch klare Vorrangregeln, so bleibt die schlussendlich vorgeschlagene Empfehlung letztlich subjektiv und für Dritte kaum nachvollziehbar. Ein weiteres Problem vieler bisheriger Fallbesprechungsmodelle besteht darin, dass sie keinen Bezug auf das Leitbild der jeweiligen Einrichtung nehmen. Damit verschenken sie die Chance, ethische Fallbesprechungen als wirksames Mittel zur konkreten Umsetzung des Leitbildes der Einrichtung gerade auch in den besonders sensiblen Handlungsvollzügen zu begreifen.
Das hier vorgeschlagene integrative Modell der ethischen Fallbesprechung2 versucht, die Stärken vieler bisheriger Modelle zu bewahren und gleichzeitig deren Defizite durch zwei Besonderheiten zu überwinden: Erstens wird mit dem Zielwert der möglichst umfassenden und gleichberechtigten Entfaltung der Handlungsfähigkeit der betroffenen Akteure ein oberster Bewertungsmaßstab formuliert. Dieser dient als Bezugspunkt für die Abwägung der verschiedenen moralischen Einzelaspekte. Dabei kann er als zeitgemäße Übersetzung des Begriffs des Bewohner- beziehungsweise Patientenwohls verstanden werden.3
Zweitens wird in der ethischen Reflexion unter anderem ausdrücklich danach gefragt, welche moralischen Orientierungen aus dem Leitbild der jeweiligen Einrichtung für die Bewältigung der einschlägigen Situation ableitbar sind. So soll sichergestellt werden, dass die für die Einrichtung tragenden Werte tatsächlich gelebt werden. Das Schaubild gibt einen Überblick über die Hauptschritte dieses Modells.
Jeder dieser fünf Hauptschritte kann im konkreten Vollzug der Fallbesprechung durch eine Reihe weitergehender Einzelfragen vertieft werden. Hierfür seien im folgenden, ausführlicheren Überblick exemplarisch einige Anregungen gegeben:
1. Anlass
- Überprüfung der Anwesenheit aller involvierten eingeladenen Personen;
- Bestimmung des Anlasses beziehungsweise der auslösenden Situation für die Fallbesprechung;
- Gibt es eine längere Vorgeschichte zu dieser Situation?
2. Situationsanalyse
- Abklärung der Umstände:
In welchem Kontext steht die auslösende Situation (individuell, institutionell, gesellschaftlich)?
Gibt es eine besondere emotionale Betroffenheit oder psychische Belastung bei den Akteuren?
Gibt es im Hintergrund der Situation besondere (unausgesprochene) Bedürfnisse und Interessen der Akteure, die zu berücksichtigen sind? - Analyse der personenspezifischen Merkmale des Patienten/der Patientin:
Welche Informationen über die biografischen Faktoren (Alter, Lebensumstände, soziales Umfeld, Wertüberzeugungen, religiöse und spirituelle Einstellungen) des Patienten/der Patientin sind bekannt?
Welche medizinischen und pflegerischen Fakten sind zu berücksichtigen?
Welche rechtlichen Umstände sind relevant (beispielsweise die Existenz bestimmter Vorsorgeinstrumente wie Vorsorgevollmacht, Betreuungs- oder Patientenverfügung)?
Gibt es besondere ökonomische Faktoren, die das Verhalten der verschiedenen Akteure beeinflussen?
Wo verlaufen folglich die zentralen Problemlinien?
3. Ethische Reflexion
1. Schritt: Welche allgemein verbindlichen moralischen Standards sind betroffen (zum Beispiel Menschenwürde, Lebensschutz, Respekt, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Fürsorge)?
2. Schritt: Gibt es darüber hinaus bestimmte bereichs- oder standesspezifische moralische Regeln und Standards (beispielsweise Sorgfalt, Vertrauenswürdigkeit, Verschwiegenheit, Vertragstreue), die aufgrund der beruflichen Rolle der beteiligten Akteure zu berücksichtigen sind (beispielsweise ärztliches Standesethos)?
3. Schritt: Welche zusätzlichen moralischen Vorgaben ergeben sich aus dem speziellen Leitbild der jeweiligen Einrichtung (zum Beispiel im kirchlichen Bereich bestimmte lehramtliche Vorgaben und Orientierungen)?
4. Schritt: Bestimmung der Rangordnung der einschlägigen moralischen Gesichtspunkte:
- Welches Verhältnis besteht zwischen den verschiedenen einschlägigen moralischen Gesichtspunkten (Grundsätzen, Gütern, Rechten und Pflichten)?
- Wie sind die verschiedenen moralischen Gesichtspunkte im Blick auf die Sicherung, den Erhalt oder die Verbesserung beziehungsweise Verschlechterung der Handlungsfähigkeit der involvierten Personen zu gewichten?
- Welcher Gesichtspunkt verdient den Vorrang?
- Wie sind die bestehenden Handlungsalternativen folglich zu bewerten?
4. Empfehlung und Begründung
- Hat sich die Situation durch die schrittweise Analyse geklärt?
- Können sich alle Beteiligten auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen?
- Wie sollte die erarbeitete Empfehlung für das weitere Handeln lauten?
- Welche Gründe sprechen für, welche gegen diese Empfehlung?
- Wie lässt sich die getroffene Abwägung zwischen den verschiedenen moralischen Standards Dritten gegenüber rechtfertigen (Regeln der Güterabwägung)?
5. Dokumentation und Anschlusskommunikation
- Schriftliche Dokumentation und Archivierung der erarbeiteten Empfehlung nach den von der Institution vereinbarten Regeln;
- Klärung, wer in welcher Form über die erarbeitete Empfehlung besonders informiert werden muss;
- Sicherung des gewonnenen Wissens über organisatorische beziehungsweise strukturelle Defizite der Einrichtung:
Enthält die Empfehlung Hinweise zu Verbesserungspotenzialen in den organisatorischen Abläufen und kommunikativen Routinen der Einrichtung?
Wie sollten die gewonnenen Einsichten über solche Verbesserungspotenziale an die zuständigen Entscheidungsinstanzen kommuniziert werden?
Hinweise zur praktischen Anwendung des Modells
Für die konkrete Nutzung des Instruments der ethischen Fallbesprechung sind zwei begriffliche Unterscheidungen wichtig, von denen die eine den konkreten Anlass und die zweite die an einer Fallbesprechung zu beteiligenden Personen betrifft.
Hinsichtlich des Anlasses ist die reaktive von der prospektiven Fallbesprechung zu unterscheiden: Bei ersterer versucht man, einen bereits entstandenen Konflikt nachträglich zu bearbeiten, während man bei letzterer über die gemeinschaftliche Festlegung definierter Situationen die Entstehung eines Konfliktes nach Möglichkeit bereits im Vorfeld verhindert. Wann immer diese Situation eintritt, wird routinemäßig eine ethische Fallbesprechung durchgeführt, um der Konflikteskalation entgegenzuwirken. Sollen ethische Fallbesprechungen nicht seltene isolierte Ereignisse im Leben einer Einrichtung bleiben, die aufgrund der hohen psychologischen Hürden ihrer Beantragung kaum eine nachhaltige Wirkung entfalten, bietet es sich an, diese prospektiv einzusetzen.
Für die beteiligten Personen ist ein internes Szenario vom externen abzugrenzen. An einer internen Fallbesprechung nehmen ausschließlich die von der Fallkonstellation betroffenen Mitarbeitenden der Einrichtung selbst teil, während bei einer externen Fallbesprechung auch nicht in der Einrichtung beschäftigte Personen (Angehörige, Ärzte, Betreuer, Vormundschaftsrichter etc.) einzuladen sind. Da die Komplexität der Fallbesprechung mit der Anzahl der beteiligten Personen und dem Grad ihrer persönlichen emotionalen Betroffenheit rapide ansteigt, ist dringend anzuraten, die ethische Fallbesprechung zunächst intern durchzuführen und eine Ausweitung in den externen Bereich erst vorzunehmen, wenn die betroffenen Mitarbeitenden der Einrichtung bereits hinreichende positive Erfahrungen mit diesem Instrument gesammelt haben.
Das Gelingen ethischer Fallbesprechungen hängt von einer ganzen Reihe sehr anspruchsvoller Faktoren ab, die teils die Wohlbegründetheit des verwendeten Modells, teils die Eignung der dafür erforderlichen Moderatoren, teils aber auch deren Unterstützung durch die Einrichtungsleitung betreffen. Nicht wenige Fallbesprechungen scheitern bereits daran, dass mit ethisch defizitären Modellen gearbeitet wird, die wichtige Fragen unbeantwortet lassen.
Eine weitere Quelle möglichen Scheiterns besteht in einer mangelhaften ethischen Ausbildung der Moderator(inn)en, die unbedingt für ihren Einsatz ausreichend geschult werden müssen. Schließlich können ethische Fallbesprechungen auch daran scheitern, dass die Einrichtungsleitung ihre Durchführung nicht hinreichend unterstützt oder unzureichend kommunikativ begleitet. Sind dagegen alle notwendigen Gelingensvoraussetzungen erfüllt, können regelmäßige Fallbesprechungen die Handlungssicherheit der einzelnen Akteure spürbar erhöhen, die interprofessionelle Kommunikation verbessern und damit die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden durch einen Zuwachs an Transparenz der jeweils getroffenen Entscheidungen positiv beeinflussen.
Anmerkungen
1. Vgl. Beule, Georg: Wie geht die Marienhaus Stiftung mit ethischen Konflikten um?? In: neue caritas Heft 6/2013, S. 16ff. und die weiteren Titelbeiträge.
2. Vgl. Bormann, Franz-Josef: Ein integratives Modell für die ethische Fallbesprechung. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 59 (2013), S. 117-127.
3. Als oberstes handlungsleitendes Prinzip schlage ich daher folgenden Grundsatz vor: Handle so, dass du deine eigene Handlungsfähigkeit sowie die Handlungsfähigkeit der von deinem Handeln Betroffenen nach Möglichkeit umfassend entfaltest und gleichberechtigt förderst und nicht ohne zwingenden Sachgrund beeinträchtigst oder gar zerstörst. Vgl. dazu ausführlicher: Bormann, Franz-Josef: "Handlungsfähigkeit" und "gutes Leben". Plädoyer für einen schwachen Perfektionismus. In: Hösch; Matthias; Muders, Sebastian; Rüther, Markus (Hrsg.): Glück - Werte - Sinn. Berlin, 2012, S. 177-194.