Die Quartierarbeit ist näher zu den Menschen gerückt
Als im Jahr 2000 der neue Sozial- und Migrationsdienst des Caritasverbandes Mannheim geschaffen wurde, lautete eines der Ziele "… nicht nur ein niederschwelliges Angebot professioneller Sozialarbeit in den Stadtteilen zu schaffen, sondern auch den Grundauftrag unserer Pfarreien zu ergänzen und zu unterstützen". Dieser Trend zur Dezentralisierung der Caritasarbeit ist eine wichtige Grundlage in Anbetracht der aktuellen Entwicklung in den Seelsorgestrukturen, die durch die weitere Konzentration in größere Einheiten geprägt ist.
Die kleinräumig orientierte Caritasarbeit ist auf die Mithilfe (kirchlich) engagierter Menschen vor Ort genauso angewiesen wie die Seelsorge in den pastoralen Räumen auf den Zugang und die Nähe zu den Menschen. Ansatzpunkte dafür sind Orte, wo Caritaseinrichtungen und Pfarrzentren unmittelbar benachbart sind.
Die Quartierarbeit ist näher zu den Menschen gerückt
Gute Beispiele für diese Entwicklung sind die drei Quartierbüros in der Trägerschaft des Caritasverbandes Mannheim, dessen erfolgreiche Arbeit auch öffentliche Anerkennung gefunden hat. Zusammen mit der gemeinwesenorientierten Arbeit im Stadtteil Vogelstang ist die Quartierarbeit in sozial herausfordernden Wohngebieten wie Schönau, Rheinau und Wohlgelegen näher zu den Menschen gerückt.
Am Beispiel des Quartierbüros im Stadtteil Wohlgelegen soll aufgezeigt werden, wie sich eine caritastypische Verbindung von unmittelbarer Hilfe, von Selbsthilfe durch vor Ort entwickelte Projekte und von sozialpolitischem Eintreten für die Bewohner(innen) im Zusammenwirken mit den örtlichen Pfarreistrukturen gestaltet.
Das "Wohlgelegen" in Mannheim ist ein vernachlässigtes und teilweise vergessenes Quartier. Den schönen Namen und die grundsätzlich ansehnliche Bebauung mit Klinkersteinfassaden verdankt es dem dahinterliegenden Industriegebiet, welches schon seit der Neckarbegradigung 1805 in verschiedenen Ausdehnungen und Nutzungsvarianten besteht. Kali-Chemie, Hauptfriedhof, Bierkeller, Militärschießplatz, Brauereien, öffentlicher Park, Franziskanerkloster, Zigaretten- und Tabak-Fabrik, Tabakanbau, Medienunternehmen und Handwerker kennzeichnen das, was einmal war und heute noch ist. Alle haben auf ihre Art die Geschichte des Quartiers geprägt und ihre Spuren hinterlassen. Städtebauliche und infrastrukturelle Entscheidungen sorgen dafür, dass das Quartier mit knapp 6000 Bewohner(inne)n eine Insellage hat, da es durch eine vierspurige Hauptstraße mit einer doppelgleisigen Straßenbahnlinie in der Mitte von der restlichen Stadt abgeschnitten wird.
Im Jahre 2008 gründete sich eine Initiativgruppe aus verschiedenen Akteuren gemeinsam mit Student(inn)en der Fachhochschule für Sozialwesen, um den Problemen im Wohlgelegen entgegenzutreten. Bei den ersten Treffen sprachen sich mehrere Stadt- und Bezirksbeiräte für eine Stadtteilkonferenz aus, nicht zuletzt, um zu prüfen, ob ein Quartiermanagement auch hier zur Verbesserung beitragen könnte.
Schon bei den Vorbereitungstreffen wurde klar, was letztendlich auch bei einer Stadtteilkonferenz im März 2009 durch die Bürger(innen) geäußert wurde. Viele Teilnehmer(innen) brachten konkrete Wünsche für ihr Quartier mit: Stadtteilzentrum, Angebote für Kinder und Jugendliche (Sportstätten und Treffmöglichkeiten), Angebote für Senior(inn)en, Geschäfte in fußläufiger Erreichbarkeit und vieles mehr. Zudem gibt es Problemlagen, die die Bewohner(innen) als Einzelpersonen oder Gesamthaushalte mit sich bringen. Je rund ein Fünftel der Bewohner(innen) sind Arbeitslosengeld-II-Empfänger(innen), Alleinerziehende mit und ohne Transferleistungsbezug und ältere Menschen mit geringer Rente. Ein weiteres knappes Fünftel sind Kinder und Jugendliche, die oft zusätzlich zu den Transferleistungen Unterstützungen als Einzelpersonen oder Gesamtfamilien über den Sozialen Dienst erhalten. Dies macht umso deutlicher, dass die Anzahl an Haushalten ohne Belastungen, vor allem auch finanzieller Art, im Quartier sehr gering ist.
Leider führten weder diese "Strukturdaten" noch die Anstrengungen der Initiativgruppe 2009 zu einem Beschluss des Gemeinderates für ein Quartiermanagementprojekt im Wohlgelegen. Da sowohl der Caritasverband Mannheim zusammen mit der Pfarrgemeinde St. Bonifatius als auch die GBG - Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft die bis zu diesem Zeitpunkt erarbeiteten und von den Bürger(inne)n geäußerten Wünsche und Anliegen ernst genommen hatten, sahen sie sich gemeinsam in der Pflicht. Sie standen für die Einrichtung eines Quartierbüros ohne finanzielle Unterstützung der Stadt Mannheim und mit einer Projektlaufzeit von zunächst drei Jahren ein. Am 1. April 2010 war es so weit, und das Quartierbüro Wohlgelegen startete.
Negatives lokalisieren und beheben
Das Quartierbüro will "mit dem und für den Stadtteil handeln" und so eine ganzheitliche Aufwertung des Quartiers erreichen. Dabei ist es erforderlich, Entscheidungen mit Bewohner(inne)n zu treffen und abzugleichen, Positives aufzugreifen, Negatives zu lokalisieren und zu beheben, Verwaltungshandeln verständlicher zu machen, eine Gemeinschaft zu bilden, ihr Handeln zu fördern und die Gesamtheit und Komplexität des Quartiers zu beachten.
Um dem gerecht zu werden ist es nötig, drei grundlegende Ansätze zu verfolgen: moderieren und koordinieren, Mitstreiter unter den Bewohner(inne)n und den sonstigen Akteuren im Quartier suchen sowie Strukturen aufbauen. Diese müssen zunächst arbeitsfähig und dann im Sinne der Nachhaltigkeit langfristig haltbar sein.
Ein "Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept" nach Abschluss dieser ersten drei Jahre als Gesamt-Resümee und Entwicklungsanzeiger der Arbeit vor Ort soll die Arbeit mindestens für die folgenden drei Jahre prägen.
Als fortwährendes Ziel wird weiter an Einzelmaßnahmen und Projekten gearbeitet, die die Grundzüge der Quartiermanagementarbeit tragen und dazu führen, positive Ergebnisse für das Quartier zu erreichen.
Das Quartier soll dadurch mittelfristig mit einem besseren Image ausgestattet werden, so dass nicht länger befürchtet werden muss, das Quartier könnte "umkippen". Hier bleiben der Erhalt und die Fortsetzung der bisherigen Projekte, Aktionen und Veranstaltungen wie auch Neuentwicklungen mit einer stärker werdenden Ausrichtung auf die eigenen Kräfte des Quartiers oberstes Gebot.
Konkrete inhaltliche Ziele sollen nach wie vor nicht vorbestimmt werden. Teilweise kurzfristige Veränderungen im Quartier erfordern ein flexibles Herangehen an akute Probleme. Der Abgleich der Ideen und Projektansätze des Quartierbüros mit den Wünschen der Bewohner(innen) wird beibehalten.
Projekte und Angebote im Quartier, die es zuvor nicht gab:
- Bürgersprechstunde des Quartierbüros;
- Sprechstunde des Caritas-Sozial- und Migrationsdienstes;
- AK Kooperation mit dem Quartierbüro: ein Gremium, das speziell zur Abstimmung der Anliegen der Gemeinde und des Pfarrgemeinderats mit dem Quartierbüro ins Leben gerufen wurde;
- Stadtteilkonferenz;
- das Herbstfest im Wohlgelegen in Kooperation mit den Kindergärten, der Pfarrei St. Bonifatius und anderen Kirchengemeinden vor Ort;
- die wöchentliche Anfahrt der mobilen Bibliothek der Stadt Mannheim;
- der "Einkaufs-Shuttle Fachmarktzentrum MA-Wohlgelegen" in Kooperation mit einzelnen Gewerbetreibenden;
- das Stadtteilfest im Wohlgelegen gemeinsam mit Einrichtungen und Institutionen aus dem Quartier;
- Kinder-Kunst-Aktion im Wohlgelegen in Kooperation mit der Grundschule;
- Weihnachtsaktion für benachteiligte Kinder im Quartier in Kooperation mit einem Gewerbetreibenden;
- Teilnahme und Mitgestaltung am bundesweiten Projekt "Kirche findet Stadt" als "Ökumenisches Netzwerk Mannheim-Neckarstadt" in Kooperation mit der Diakoniekirche Plus in der benachbarten "Neckarstadt";
- der runde Tisch "Verkehr";
- das Ein-Euro-Essen der freiwilligen Helfer(innen) der Pfarrgemeinde St. Bonifatius in Kooperation mit der Firma Baktat und den Caritastafeln;
- die Initiierung des bürgerschaftlichen Turley-Bündnisses zur Mitgestaltung und Einbringung von Ideen und Wünschen der umliegenden Quartiere in das neue Turley-Areal (Konversionsfläche) mit Bewohner(inne)n, Bezirksbeiräten, Wohnprojektgruppen und Vertreter(inne)n der Stadt Mannheim;
- Schaffung des Eltern-Kind-Zentrums St. Bonifatius in Kooperation mit der Pfarrgemeinde.
Darüber hinaus sind weitere Ideen für die kommenden Jahre in Planung.
Bundesprojekt "Kirche findet Stadt" als Chance
In den verschiedenen Sektoren des Bund-Länder-Programms "Soziale Stadt" gab es zunehmend Einschnitte, soziale Begleitprogramme sind gänzlich weggefallen. Als Reaktion auf diese Veränderungen haben Diakonie und Caritas sowie katholische und evangelische Akademien in Deutschland das ökumenische Kooperations- und Vernetzungsprojekt "Kirche findet Stadt" gestartet.
Dieses Projekt sollte einen breit angelegten Erfahrungsaustausch durch Fachforen, Netzwerktreffen und Ähnlichem als Sammlung guter Projektansätze bundesweit ermöglichen und die Wichtigkeit dieser Aufgaben darstellen. Da das Anmahnen des Wegfalls der vor Ort dringend nötigen sozialpädagogischen Begleitprogramme erfolglos verlief, sollten diese Maßnahmen nun durch das vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung unterstützte Programm "Kirche findet Stadt" in zwei Jahren gesondert ausgewertet werden.
Das Quartierbüro Wohlgelegen hat sich gemeinsam mit der Diakoniekirche Plus als "Ökumenisches Netzwerk Mannheim-Neckarstadt" beworben und wurde als einziger ökumenischer Standort zu einem der zwölf Regionalknoten bundesweit ausgewählt. Dieses Netzwerk besteht nicht nur im Zusammenwirken der sozialen Dienste und Einrichtungen. Es lebt auch von der Kooperation der katholischen Pfarreien der Seelsorgeeinheit Neckarstadt-Ost mit ihren evangelischen Partnerkirchen.
Der Versuch, sich innerhalb dieser Plattform auszutauschen und sich über die ausgewählten Beispiele guter Praxis zu informieren, wurde durch den Regionalknoten mit verschiedenen Veranstaltungen im Jahr 2011 und 2012 unterstützt: Fachforum Sozialraumorientierung (Auftaktveranstaltung des Caritasverbandes Mannheim), "Kirche findet Stadt"-Projektpräsentation im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, "Kirche findet Stadt"-Projekttreffen für die Region in der Diakoniekirche Plus, Präsentation und Infostand im Rahmen des 98. Deutschen Katholikentages, regionale Bündelungskonferenz der mittleren Ebene der Landeskirchen, -verbände, Bistums- und Diözesan-Caritasebene in der Diakoniekirche Plus, Mitwirkung beim 4. Caritas Fachforum Sozialraumorientierung/Soziale Stadt, Projektvorstellung bei der Perspektivenwerkstatt 2012 der DiCV-Referent(inn)en für Gemeindecaritas in der Region Mitte/Südwest in Kooperation mit der Arbeitsgruppe Gemeindeentwicklung (in den Bischöflichen Generalvikariaten/Ordinariaten).
Durch die öffentlichkeitswirksame Darstellung der Notwendigkeit dieser Arbeit könnten, so die Hoffnungen der Projektpartner, zukünftig Mittel für soziale Aufgaben im Zusammenwirken von Kirche und Stadt wieder beziehungsweise neu organisiert werden.
Bei den Austauschrunden und Präsentationen wurde deutlich, dass die Standorte alle an einer Fortführung der begonnenen Arbeit interessiert sind und gerne das geschaffene Label "Kirche findet Stadt" weiter behalten würden. Für das ökumenische Netzwerk Mannheim-Neckarstadt mit seinen zwei Standorten wird zusätzlich eine Broschüre mit den abgestimmten Angeboten erscheinen.
Der Caritasverband Mannheim hat gemeinsam mit seinen Partnern GBG-Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft und der Pfarrgemeinde St. Bonifatius beschlossen, das Projekt für weitere drei Jahre fortzuführen - verbunden mit der Hoffnung, dass der bisher erfolgreiche Verlauf eine finanzielle Unterstützung und damit auch eine nachhaltige Perspektive seitens der Kommune nach sich zieht. Auch eine Fortführung von "Kirche findet Stadt" und eine damit einhergehende Diskussion auf Bundesebene im Rahmen der bisherigen Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wären hilfreich.
Die begonnenen Arbeiten im Quartier haben unmissverständlich aufgezeigt, dass die Lage noch nicht so ist, wie der Name vermuten lässt - "wohl gelegen".