"Die Zeit hat auch den Umgang in unserem Haus verändert"
Die Diskussion über Misshandlungen und Missbrauch an Heimkindern im Zeitraum von 1950 bis 1970 wuchs am stärksten durch das Internet. Die neuen Techniken ermöglichten die Veröffentlichung von Berichten über eigene Erfahrungen, die von anderen Betroffenen aufgegriffen wurden. Diese Kommunikation führte auch dazu, dass Menschen, die oft jahrzehntelang nichts mehr voneinander gehört hatten, erneut Kontakt aufnahmen, weil sie die Autor(inn)en der Internetbeiträge trotz Decknamen erkannten.
Mitarbeiter(innen), die die Zeit der Misshandlungen noch erlebt hatten, meldeten sich zu Wort. Medien stellten unangenehme Fragen und erwarteten rasche Stellungnahmen der Einrichtungen. Dies alles gilt auch für die katholische Behinderteneinrichtung, über deren Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in diesem Beitrag berichtet wird. Die derzeitige unbelastete Leitung der Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung entschied sich Anfang 2010: Das Haus stellt sich seiner Vergangenheit - ohne Rücksicht auf Personen. Der Einrichtungsleiter machte die Angelegenheit zur "Chefsache".
Die Leitung entschied, dem Druck der Medien auf rasche Stellungnahmen nicht nachzugeben, sondern zunächst eigene Schritte einzuleiten und die Betroffenen zu fragen, wie sie zu einer Veröffentlichung stehen. Das Hauptinteresse der Leitung galt der Frage, was den Geschädigten in der Gegenwart helfen kann, die früheren Traumatisierungen besser zu verarbeiten.
Was hilft den Geschädigten heute?
Ein führender Mitarbeiter der Einrichtung wurde von allen Aufgaben freigestellt, um Ansprechpartner für alle Betroffenen zu sein. Er hatte die letzte Phase der "schwarzen" Pädagogik noch miterlebt und den Wandel zu einer modernen Einrichtung mitgestaltet. 50 Geschädigte nutzten dieses Kontaktangebot. Ihnen wurden Hilfen vermittelt, zum Beispiel Psychotherapieplätze. Ein weiterer Mitarbeiter wurde beauftragt, sich um aktuelle sozialrechtliche Fragen der Geschädigten zu kümmern. Ein Team von Historikern begann im Frühjahr 2010, die Heimakten wissenschaftlich auszuwerten.
Ein eigener Runder Tisch
Am Runden Tisch Heimkinder in Berlin trafen sich Vertreter(innen) von Verbänden mit Politiker(inne)n und Expert(inn)en. Betroffene traten eher als Einzelpersonen auf. Von daher waren rasche Lösungen von dort für die lokale Situation in der Einrichtung nicht zu erwarten. Deshalb sollte ein eigener Runder Tisch geschaffen werden, wo sich Geschädigte untereinander und mit der Institution auseinandersetzen konnten.
Der Autor dieses Artikels, der das Haus und seine Strukturen kennt, weil er als Therapeut Bewohner(innen), die Opfer oder Täter aktueller Übergriffe sind, diagnostiziert, sollte als Moderator für Sachlichkeit bei der Aufarbeitung sorgen. An dem einrichtungsbezogenen Runden Tisch sollten Geschädigte mit dem Leiter und mit Mitarbeiter(inne)n regelmäßig über ihre Geschichte und ihre aktuelle Situation sprechen. Dieser Runde Tisch sollte kein Ersatz für eine Psychotherapie sein; vielmehr steckte das Konzept des Empowerments dahinter.
Die Betroffenen hatten bisher nicht erlebt, dass Vertreter(innen) von Institutionen sich die Zeit nahmen, ihnen zuzuhören. Wenn sie früher über die Missstände klagten, wurde ihnen selten Glauben geschenkt. Fatalerweise wurden ihre Berichte über Misshandlungen und Missbrauch als Beleg dafür gesehen, dass sie nicht vertrauenswürdig waren.
Den Geschädigten sollte durch offene Diskussionen über die damaligen Zustände klar werden, dass die Institution heute andere Maßstäbe im Umgang mit Klienten und Mitarbeitenden setzt. Dies hieß auch, offen zu sein gegenüber Fragen der Betroffenen zur Praxis der Heimerziehung heute. Die konsequente Unterscheidung zwischen "damals" und "heute" war auch aus der Bewältigungsperspektive wichtig.
Ein grundlegendes Prinzip war, die Personen, die misshandelt und missbraucht hatten, namentlich zu nennen. Dadurch wurden diese aus der Anonymität geholt und es wurde differenziert: Nicht alle Ordensschwestern hatten misshandelt, sondern einige von ihnen. Von den anderen wurde durch diesen Schritt die Schuld genommen.
Entsprechend dem Vorbild der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen mit dem Grundgedanken "Vergeben ohne zu vergessen" sollten die Teilnehmer(innen) des Rundes Tisches Vertreter(innen) damals rechtlich und politisch verantwortlicher Institutionen einladen und anhören. Sie sollten befragt werden und die damalige Praxis ihrer Institutionen erläutern.
Die ersten Sitzungen verliefen turbulent
Der Runde Tisch traf sich ab März 2009 alle 14 Tage in einem Konferenzraum des Heims. An den rund zweistündigen Sitzungen nahmen regelmäßig zwölf Betroffene teil, zwei Frauen und zehn Männer zwischen 53 und 69 Jahren. Ein Teilnehmer überwarf sich mit dem Kreis und schied nach der fünften Sitzung aus. Die Teilnehmer(innen) waren sehr zuverlässig und fehlten maximal drei von 19 Sitzungen.
Zunächst galt es, sich in der großen Gruppe miteinander vertraut zu machen. Auch die drei Begleiter, der Leiter der Einrichtung, der für die Betreuung zuständige führende Mitarbeiter und der Moderator mussten erst die Teilnehmer(innen) und deren Geschichten kennenlernen. Die ersten Sitzungen verliefen turbulent. Alle redeten durcheinander, jeder wollte seine Geschichte zu Gehör bringen. Man bemühte sich zwar, einander zuzuhören, aber die einzelnen Schicksale drängten heraus. Es war kaum möglich, die Sitzungen nach zwei Stunden zum Abschluss zu bringen. Verabredet wurde, dass jeder selbst entscheidet, worüber er reden will und dass die Einrichtung nach außen Verschwiegenheit wahrt. Dies galt allerdings zu keiner Zeit für die Geschädigten; falls jemand von ihnen Kontakt zu den Medien gesucht hätte, wäre dies toleriert worden.
Die Sitzungen des Runden Tisches, zu denen Vertreter(innen) von Institutionen, Ämtern und Behörden eingeladen wurden, die seinerzeit nicht eingegriffen hatten, wurden detailliert vorbereitet: Zum einen diskutierten die Teilnehmer(innen) die Fragen an die Gäste, zum anderen führten die Begleiter des Runden Tisches Vorgespräche mit den Vertreter(inne)n der Institutionen.
Zunächst wurde die Lokalpresse eingeladen, weil sie die Behinderteneinrichtung wegen der Zurückhaltung von Information kritisiert hatte. Die Geschädigten machten deutlich, dass sie selbst entscheiden wollten, was wann berichtet wird; die "Nachrichtensperre" der Einrichtung entsprach ihrem Wunsch. Die Journalisten sicherten zu, dass in Berichten keine Namen oder Details genannt würden. Von da an war das Verhältnis der lokalen Medien zum Runden Tisch und zum Heim von Zurückhaltung und Sachlichkeit geprägt.
Der Staatsanwalt saß mit am Tisch
2010 hatte die Heimleitung in den Fällen Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet, in denen die Geschädigten damit einverstanden waren. Alle Verfahren wurden wegen Verjährung eingestellt. Im September 2010 kam der zuständige Staatsanwalt, der sich aktuell mit diesen Delikten beschäftigt, zum Runden Tisch. Auf seine Frage, warum die Betroffenen oder ihre Angehörigen damals keine Anzeige erstattet haben, wiesen Teilnehmer(innen) auf die Autorität der Ordensschwestern hin, der man sich kaum zu widersetzen wagte. Die Frage, warum man nie gegen die Institution ermittelt habe, konnte der Staatsanwalt nicht beantworten. Die Geschädigten vermuteten Interessenkonflikte, weil eventuell Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft im Vorstand der Einrichtung waren. Es sei unklar, ob es Strafanzeigen gegeben habe, weil die Akten nach Ablauf der Verjährungsfristen (zwischen fünf und zehn Jahren) vernichtet wurden. Der Staatsanwalt räumte ein, Mitarbeitende von Polizei und Staatsanwaltschaft hätten damals nicht korrekt gearbeitet und sich straf- und disziplinarrechtlicher Verfehlungen schuldig gemacht (zum Beispiel Strafvereitelungen im Amt). Auch diese Delikte seien verjährt. Der Staatsanwalt sagte zu, den Bundesvorsitzenden des Weißen Rings über das Gespräch zu informieren.
Im Oktober 2010 wurde die Opferschutzbeauftragte der örtlichen Polizei eingeladen. Polizisten spielten in der Kindheit der Geschädigten eine wichtige Rolle: Der örtliche Polizeipräsident war im Vorstand der Einrichtung. Polizisten in Uniform saßen bei Festlichkeiten neben den Ordensschwestern. Polizeibeamte brachten ausgerissene Kinder zurück, oft in Handschellen. Ein Polizist hatte Heimkinder systematisch sexuell missbraucht.
Die Polizei hat die Kinder damals nicht geschützt
Betroffene wollten wissen, ob Polizisten bei Rückführungen bei den Kindern keine Schlagspuren und Striemen gesehen hätten. Sie seien nach Entweichungen wochenlang in Einzelarrest und Zwangsjacken gewesen. Sie hätten der Polizei aus Angst vor den Schwestern nicht von Misshandlungen erzählt. Die Opferschutzbeauftragte erklärte, sämtliche Akten seien wegen Verjährung vernichtet worden. Die damals zuständigen Beamten seien längst nicht mehr im Dienst. Die Polizei habe die Kinder damals nicht geschützt. Beamte, die Kinder sexuell missbrauchten, hätten schwere Straftaten begangen. Die Polizei gehe heute auch Vorwürfen gegen Seelsorger und Pädagogen gründlicher nach als früher. Sie verurteilte die Vorfälle. Die Teilnehmenden forderten, dass die Opferschutzbeauftragte im Polizeipräsidium über dieses Gespräch berichte.
Im November 2010 war ein Vertreter der Heimaufsicht zu Gast. Er berichtete, dass es bei "besonderen Vorkommnissen" anlassbezogene Überprüfungen gab. Die Bedingungen bei der Behindertenhilfe seien noch schlechter gewesen. Die Jugendämter waren nicht für Heime der Behindertenhilfe zuständig. Die dortige Heimaufsicht verstand sich eher als reine Verwaltungsbehörde. Eltern seien von Heimen und Ämtern eher "außen vor" gehalten worden.
Der Vertreter der Heimaufsicht erklärte, es gebe bis heute Kinder und Jugendliche, die zwischen Heimen der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe pendelten. Die Heime übernahmen ungeprüft Diagnosen. Es müsse aber der mangelhafte Entwicklungsstand der Psychiatrie berücksichtigt werden. Die Kinderpsychiatrie habe noch in den Kinderschuhen gesteckt, Intelligenztests seien kaum gemacht worden. Aus heutiger Sicht sei das ein Fehler.
Teilnehmende des Runden Tisches reagierten empört, weil alle Kinder in der hier beschriebenen Einrichtung als "schwachsinnig" angemeldet worden seien. Das hätten die Landeskrankenhäuser zu verantworten. Die damaligen Ärzte und Gutachter hätten in NS-Tradition gestanden. Die Betroffenen berichteten über die Vergabe von Psychopharmaka. Der Vertreter der Heimaufsicht erklärte, in einigen Heimen seien Psychopharmaka ohne medizinische Notwendigkeit eingesetzt worden. In einem großen Kinderheim habe eine Landesklinik in den 60ern durch eine vier- bis sechswöchige Vergabe von Beruhigungsmitteln eine "Ausdehnung der pädagogischen Angriffsfläche" vornehmen wollen. Da pädagogische Erfolge ausblieben, habe man das Experiment eingestellt. Einige Pharmafirmen hätten in diesen Jahren systematisch Medikamente in Einrichtungen der Jugend- und der Behindertenhilfe getestet.
Heute habe die Heimaufsicht ein umfangreiches Instrumentarium. Bei den halbjährlichen Hilfeplangesprächen säßen auch die Kinder mit am Tisch. Zwei unabhängige Ombudsleute für Heimkinder würden gerade ihre Arbeit aufnehmen. Bundesweit werde über unangemeldete Kontrollen vor Ort beraten.
Obwohl das Bistum formal nicht rechtlich verantwortlich für die Zustände in der beschriebenen katholischen Einrichtung war, sah der heutige Generalvikar eine ethische Verantwortung, am Runden Tisch Rede und Antwort zu stehen. Der Generalvikar erklärte, es habe damals keine Regelungen über die Berichtspflicht von Geistlichen gegeben. Priester hätten nicht von sich aus über Missstände berichtet. Selbst heute sei das Bistum darauf angewiesen, dass Betroffene berichten, was ihnen geschehen sei.
Das Gespräch des Runden Tisches mit den Ordensschwestern wurde von allen Beteiligten mit größter Anspannung und Unsicherheit erwartet. Im November 2010 kamen die gegenwärtige Oberin und eine Ordensschwester, die damals im Heim arbeitete, zum Runden Tisch. Die Oberin war zu keiner Zeit in die Vorfälle verwickelt. Bereits beim Vorgespräch bestätigte die Ordensschwester, die damals in der Einrichtung tätig war, einen Teil der Vorwürfe.
Die Schwestern hatten bei Medikamenten freie Hand
Es wurden Schwestern mit Namen genannt, die geschlagen, misshandelt, Psychopharmaka verabreicht und sexuelle Übergriffe begangen hatten. Zur Überraschung der Betroffenen bestätigte die anwesende Schwester den Medikamentenmissbrauch. Der Anstaltsarzt habe den Schwestern freie Hand gegeben, bestimmte Medikamente auch ohne individuelle ärztliche Anordnung an Kinder zu vergeben, wenn diese sich als schwierig zu führen oder unbotmäßig zeigten.
Die Oberin erklärte, sie habe solche Praktiken nicht für denkbar gehalten. Sie glaube dem, was sie am Runden Tisch gehört habe. Beide Schwestern erklärten sich bereit, bei weiterem Gesprächsbedarf wiederzukommen. Die Generaloberin ermutigte einen Teilnehmer, der auch sexuelle Übergriffe erlitten hatte, einen Brief an die übergriffige Schwester zu schreiben.
Im Verlauf der Arbeit zeigte sich eine wachsende Expertise bei fast allen Teilnehmer(inne)n. Sie bereiteten sich auf die Gespräche mit den Gästen vor und beeindruckten durch ihr Selbstbewusstsein. Fiel es den meisten Betroffenen in den ersten Sitzungen schwer, über ihr Schicksal zu sprechen, so gelang dies zunehmend. Sie wurden von ihren Gefühlen nicht mehr so überwältigt. Parallel dazu sanken ihre Belastungssymptome: Sie konnten besser schlafen, mussten Gedanken an ihre Kindheit und Jugend nicht mehr vermeiden und hielten Kontakt zu der Einrichtung, in der sie früher misshandelt worden waren.
Genugtuung für die Geschädigten
Die Geschädigten bemerkten mit Genugtuung, dass der derzeitige Leiter der Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung mit 1500 Plätzen und etwa 800 Mitarbeiter(inne)n bei fast allen Sitzungen anwesend war und zuhörte. Oft waren Teilnehmer(innen) des Runden Tisches vor Beginn der Sitzungen auf dem Heimgelände. Sie sahen, dass sich die Einrichtung heute von der Anstalt damals unterscheidet. Sie unterhielten sich mit heutigen Bewohner(inne)n, die sie von früher schon kannten und nahmen an Veranstaltungen des Hauses teil.
Die gemeinsame Arbeit war nicht frei von Konflikten. Es gab auch kritische Einschätzungen und Konkurrenz um die knappe Redezeit. Manche Erwartungen wurden enttäuscht - und mussten enttäuscht werden. So konnten Lebensläufe durch die Aufarbeitung nicht rückwirkend verändert werden. Auch wenn es aktuell Hilfen gibt, kann manches bittere Schicksal nur angenommen werden. Sowohl lange Perioden von Arbeitslosigkeit als auch Armut lassen sich nicht rückgängig machen.
Der Wunsch nach Entschädigung spielte während der gesamten Arbeit des Runden Tischs kaum eine Rolle. Die Geschädigten erklärten, die Anerkennung ihres Leides und die Klarstellung, wer hierfür verantwortlich war, sei wichtiger als Geld. Der Einrichtungsleiter schreibt in einem Vorwort über das Haus: "Die Zeit hat auch das Leben unseres Hauses verändert - Gott sei Dank." Dazu bedurfte es der aktiven Arbeit der Leitung und aller Mitarbeiter(innen).
Weiterführende Literatur
Banach, Sarah; Henkelmann, Andreas; Kaminsky, Uwe; Pierlings, Judith; Swiderek, Thomas: Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland - Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972). Reihe Rheinprovinz Band 19. Essen : Klartext, 2010.
www.justice.gov.za/trc/ (offizielle südafrikanische Website)
www.suedafrika.net/suedafrika/geschichte/wahrheit-versoehnung.html
www.aixsysteam.de/beratung-fuer-familien/fachartikel/schwarze-paedagogik-im-rheinland.html