Netzwerk für die besonders Gefährdeten
Sexuelle Gewalt an Menschen mit Lern- beziehungsweise geistiger Behinderung ist ein Thema, über das noch kaum gesprochen worden ist, das bislang nicht im Bewusstsein der Bevölkerung und in den Fachbereichen "Behindertenhilfe" und "Gewaltprävention" präsent gewesen ist.
Aus diesem Umstand entstand das Projekt "Prävention und Beratung - Netzwerk gegen sexuelle Gewalt an Menschen mit Lern-/geistiger Behinderung" des Diözesan-Caritasverbands (DiCV) Paderborn. Bereits 2006 war die Frauenberatungsstelle Belladonna1 des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Paderborn auf Fälle des sexuellen Missbrauchs an Angehörigen der genannten Gruppe aufmerksam geworden. Angesichts eines deutlichen Anstiegs von Anfragen stellten die Mitarbeiterinnen fest, dass sie diese Personengruppe nicht adäquat beraten und begleiten konnten. Deshalb sollte im Kreis Paderborn ein Arbeitskreis gegründet werden, um eine Vernetzungsstruktur zwischen Gewaltberatung und Behindertenhilfe zu installieren.
Zur Gründungsveranstaltung lud der SkF gemeinsam mit der Kreispolizeibehörde Paderborn ein. Eine regelmäßige Zusammenarbeit wurde beschlossen ("Runder Tisch - Menschen mit geistiger Behinderung: Liebe, Partnerschaft, Prävention gegen sexuellen Missbrauch"). Der DiCV Paderborn einigte sich mit dem SkF auf ein gemeinsames Planungs- und Durchführungskonzept, das zum 1. Januar 2008 zunächst im Kreis Paderborn Anwendung fand und zum 1. Juni 2008 auf vier weitere Projektgebiete ausgeweitet wurde: auf den Kreis Arnsberg durch den Caritasverband Arnsberg-Sundern, den Kreis Brilon durch den Caritasverband Brilon, den Kreis Höxter durch das Heilpädagogische Therapie- und Förderzentrum St. Laurentius Warburg sowie auf die Stadt Hagen durch den Caritasverband Hagen. In den fünf Projektgebieten wurden Vernetzungskoordinatorinnen mit je zehn Prozent Stellenanteil eingesetzt, die während der Projektlaufzeit 2008-2010 für den Aufbau der jeweils sinnvollen Vernetzungsstruktur zuständig waren. Finanziert wurde das Projekt "Prävention und Beratung - Netzwerk gegen sexuelle Gewalt an Menschen mit Lern-/geistiger Behinderung" zu 70 Prozent durch die Aktion Mensch und zu 30 Prozent aus Eigenmitteln des DiCV Paderborn.
Die Arbeitspakete im Präventionsprojekt
Vernetzung auf mehreren Ebenen
Wie erwähnt, wurden in den fünf Projektgebieten gezielt Vernetzungssysteme gegründet und dafür zusätzlich Anwältinnen und Anwälte, Gynäkolog(inn)en, Psycholog(inn)en und Psychotherapeut(inn)en sowie Vertreter(innen) der Landschaftsverbände, Frauenhäuser und Kindertageseinrichtungen eingeladen. Die so entstandenen Systeme wiederum vernetzen sich zurzeit untereinander und beginnen mit der Lobbybildung. So lässt sich eine dauerhafte und nachhaltige Wirkung in Politik, Fachwelt und Öffentlichkeit erzielen. Eine Zusammenarbeit mit der Kreisverwaltung Paderborn gibt es bereits seit Projektbeginn im Januar 2008. Auf Landesebene nahm das Projekt an "Laut(er)-starke Frauen" teil, einem Projekt der Bundes- beziehungsweise der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen der Selbsthilfeverbände behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen, das Angebote zur Gewaltprävention bundesweit vernetzt hat.
Aufbau einer Modellberatung
Beratungsangebote für Menschen mit geistiger Behinderung nach erlittener sexueller Gewalt stehen noch kaum zur Verfügung. Um daher zunächst Praxiserfahrungen zu sammeln, wurde im Kreis Paderborn eine zugehende Modellberatung installiert. Das Ergebnis: Ein Beratungsangebot, sofern es denn platziert ist, wird auch genutzt. Ein weiterer Erfahrungswert: Der zeitliche und der Materialaufwand liegen ungleich höher als bei Menschen ohne Beeinträchtigung.
Arbeit mit Angehörigen
Gegenüber Angehörigen von Menschen mit geistiger Behinderung oder Lernbeeinträchtigung galt es, Aufklärungsarbeit zu leisten und Informationen weiterzugeben. Angehörige konnten zurückmelden, was sie sich vom Projekt wünschen, und ihre Ängste oder Sorgen formulieren.
Die DACB2 unterstützte diese Arbeit durch Weitergabe der Inhalte an alle Mitglieder und durch Verlinkung der Netzwerk-Projekthomepage mit der eigenen Homepage.
Schulungen für künftige Präventionsfachkräfte und weitere Zielgruppen
Schulungen wurden in Zusammenarbeit mit dem Meinwerk-Institut der InVia-Akademie Paderborn angeboten:
- Präventionsfachkraft in der Behindertenhilfe - Schwerpunkt sexuelle Gewalt: viermal zwei Tage zu den Inhalten "Sexualität", "Beratung", "Prävention" sowie "Qualität und Nachhaltigkeit". Für die Caritas-Behindertenhilfe wird die Implementierung jeweils einer Präventionsfachkraft in jeder Einrichtung empfohlen.
- Multiplikator(inn)enschulung für Trainings zur Selbstbehauptung: zwei Tage zu Grundlagen von Selbstbehauptungsangeboten für Menschen mit Lern-/geistiger Behinderung. Der Kurs lief einmalig 2009.
- Opfergerechte Täterarbeit in der Behindertenhilfe: zwei Tage zum Umgang mit Betroffenen und Beschuldigten in Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe. Der Kurs lief erstmalig 2010 und soll weiterhin angeboten werden.
Präventives Figurentheater
Figurentheater ist mutmachend, niedrigschwellig und interaktiv und damit flexibel einsetzbar. Die Puppenspielerin erkundigt sich über die Zuschauerschaft, besucht die Einrichtung und bespricht die Rahmenbedingungen. Rückmeldungen aus dem Publikum werden in das Spiel aufgenommen und Konfliktlösungen im Spiel gemeinsam erarbeitet (sofern das möglich und gewollt ist). Spezielle Lieder laden zum Mitsingen ein und gehören ebenfalls zu diesem Angebot.
Theaterstücke mit präventiver Zielrichtung wurden für drei verschiedene Altersstufen entwickelt:
- Kinder(tages)einrichtungen (Heilpädagogische Kindergärten/Frühförderung);
- Förderschulen;
- Wohnheime/Werkstätten.
Die Figuren und Bühnenbilder wurden eigens für die Stücke gefertigt.
Durch einen erneuten Besuch des präventiven Figurentheaters wird ein größtmögliches Maß an nachhaltiger Wirkung der präventiven Botschaft gewährleistet.
Gruppenarbeit für Menschen mit Behinderung
Selbstbehauptungsangebote gehören unbedingt in ein erfolgreiches Präventionskonzept. Menschen mit Behinderung erleben sich häufig als abhängig, sind sich ihrer selbst unsicher und sind es gewohnt, Entscheidungen ihrer Pflege- und Betreuungspersonen nicht anzuzweifeln. Sie haben Schwierigkeiten, Grenzen klar zu spüren, zu benennen und zu verteidigen. Hier liegt ein großes Gefährdungspotenzial. Aufgabe der Selbstbehauptungsangebote ist es, ich-stärkend zu arbeiten und Wahrnehmungs- und Benennungsdefizite zu minimieren. Nicht wenige Frauen, die am Selbstbehauptungsangebot teilnahmen, konnten hierdurch in die Beratung vermittelt werden.
Öffentlichkeitsarbeit
Unter www.caritas-paderborn.de/60035.html ist der Online-Auftritt des Projekts einzusehen. Zudem sorgten jährliche Fachtagungen für gesteigerte Aufmerksamkeit:
- 2008: Auftaktveranstaltung mit rund 50 Teilnehmenden,
- 2009: Fachtagung "sexuelle Gewalt an Menschen mit Lern-/geistiger Behinderung - Hintergründe, Hilfen, Handlungskonsequenzen" (rund 150 Teilnehmende),
- 2010: Fachtagung "opfergerechte Täterarbeit - Handlungsmöglichkeiten im Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Justiz" in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention, dem hessischen Koordinationsbüro für behinderte Frauen und der Nieder-Ramstädter Diakonie (rund 170 Teilnehmende).
Parallel wurden externe Referentenanfragen bedient: Organisationen und Interessenvertretungen fragten für Schulungen und Fachtagungen um Projektwissen an. Hier gab es zwei Tätigkeitsfelder:
- Schulung von Gewaltberatungsstellen zur Beratung von Gewalt betroffener Menschen mit Lern-/geistiger Behinderung,
- Bundesweite Schulung von Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe zum Umgang mit der Thematik sexueller Gewalt.
Entwicklung von Handlungsleitlinien zum Umgang mit sexuellen Übergriffen
Für Einrichtungen und Dienste der Caritas-Behindertenhilfe wurden knapp formulierte Handlungsleitfäden für folgende Bereiche entwickelt:
- Einrichtungen und Dienste des Wohnens;
- Werkstätten für Menschen mit Behinderung;
- Kinder(tages)einrichtungen (Heilpädagogische Kindergärten/Frühförderung) - diese in Zusammenarbeit mit dem Landesjugendamt Nordrhein-Westfalen.
Während des Jahres 2011 sollen diese Handlungsleitfäden in die Qualitätshandbücher der Einrichtungen und Dienste der Caritas-Behindertenhilfe integriert werden.
Evaluation
2009 wurde ein Zwischenbericht verfasst und veröffentlicht, dessen nachfolgend aufgeführte Ergebnisse der Abschlussbericht Ende 2010 ergänzt und bestätigt hat:
- es gibt kaum Beratungsangebote für die Zielgruppe;
- es sind kaum Therapieangebote für die Zielgruppe vorhanden;
- die fehlende Datenlage/Statistik erschwert die politische Arbeit (Begründung von Notwendigkeiten zum Ausbau von Beratungs- und Präventionsangeboten für Menschen mit Behinderung);
- es gibt nur lückenhafte sexualpädagogische Arbeit mit und präventive Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung (Angebotstendenz steigend, die Einrichtungen und Dienste machen sich zunehmend selbsttätig auf den Weg);
- nach wie vor besteht Handlungsunsicherheit bei Trägern, Einrichtungen und Diensten - hier sollen die erwähnte Implementierung der Handlungsleitlinien und eine Offenheit im Umgang mit der Thematik Abhilfe schaffen;
- in der Gesellschaft herrscht mangelndes Wissen vor, gepaart mit Unverständnis - es wird wohl, ähnlich wie in den 1980er Jahren (Frauenbewegung), einige Jahre dauern, bis das Umfeld sensibilisiert sein wird.
Der DiCV Paderborn reagierte mit einem Nachfolgeprojekt, das sich 2011 dem "Aus- und Aufbau von Beratungs- und Präventionsangeboten im Bereich sexuelle Gewalt an Menschen mit Lern-/geistiger Behinderung", so der Projekttitel, widmet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der DiCV Paderborn ein Stück Pionierarbeit geleistet hat. Das Projekt rüttelte auf, schuf Maßnahmen und Schulungen, brachte die Thematik ins Bewusstsein. Zahlreiche Einrichtungen und Dienste im Bundesgebiet machten sich ebenfalls auf den Weg, um Vernetzungsstrukturen zu schaffen und in ihren Landkreisen für Aufklärung und Akzeptanz zu werben.
Anmerkungen
1. Beratungsstelle gegen sexuelle und häusliche Gewalt für Frauen, Kinder und Jugendliche.
2. Diözesanarbeitsgemeinschaft der Angehörigenvertretungen in Caritaseinrichtungen der Behindertenhilfe im Erzbistum Paderborn.