Teilnehmer setzen große Hoffnungen ins Projekt
Seit September 2009 arbeitet das Pilotprojekt CariVia.1 Der Deutsche Caritasverband und IN VIA zielen mit dem vom Europäischen Sozialfonds finanzierten Projekt darauf ab, benachteiligte junge Menschen dauerhaft in den Arbeitsmarkt des Sozial- und Gesundheitswesens zu integrieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Annahme, dass in den kommenden Jahren zusätzliche Pflegekräfte gebraucht werden. Mit qualifizierten Helfer(inne)n soll ein Personalmix entstehen, der die Fachkräfte bei ihrer Tätigkeit auf Dauer stützt.
90 Jugendliche werden in 39 Altenhilfeeinrichtungen für eine unterstützende Tätigkeit in der Pflege geschult, 32 Fachkräfte aus der Altenpflege wurden für die Begleitung der Jugendlichen qualifiziert. Das Pilotprojekt CariVia steht dabei nicht singulär. So gab es bereits andere Modellprojekte wie die "Servicehelfer/-innen im Sozial- und Gesundheitswesen" (Robert-Bosch-Stiftung, 2007-2009). Das baden-württembergische Kultusministerium erkannte den Beruf "Alltagsbetreuer/-in" an und nahm ihn ins Regelausbildungssystem des Landes auf.
Halbzeitbetrachtung: theoretische Grundlagen
Mit einer multiperspektivisch angelegten Befragung konnten die bundesweit sechs beteiligten Projektträger vor Ort, die benachteiligten jungen Menschen und die kooperierenden Einrichtungen in den Blick genommen werden. Dabei kamen 36 Personen in 20 (teils in Gruppen geführten) halbstandardisierten Interviews2 zu Wort: 15 Teilnehmer(innen), 13 sozialpädagogische Mitarbeitende von Caritas und IN VIA, sechs Praxisanleiter(innen) sowie zwei Lehrkräfte, die Theorie vermitteln.
Benachteiligte Jugendliche: belastet und ausgegrenzt
Die Lebenslage Benachteiligung ist durch Belastungs- und Ausgrenzungsrisiken gekennzeichnet, zum Beispiel aufgrund von Migration, Geschlecht oder sozialer Herkunft. Sie zeigen sich materiell durch Einkommensarmut, sie stellen sich strukturell unter anderem durch zu gering ausgeprägte Netzwerkstrukturen dar, welche die Gesellschaft den Jugendlichen zur Verfügung stellt, oder sie lassen sich an der Bildungsarmut festmachen, die Erwerbschancen deutlich verringert. Aus diesen Lebenslagen und ihren lebensweltlichen Zusammenhängen heraus entwickeln Jugendliche ihre Bewältigungsstrategien.
Lebensweg nicht planbar
Dabei erleben sie, dass sie Probleme haben, einen Weg zu finden, der ihnen verlässlich zukünftige Erwerbschancen eröffnet oder ihr Leben auch nur halbwegs plan- und gestaltbar erscheinen lässt. Lebensbewältigung ist "Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit"3. Die Jugendlichen wollen handlungsfähig sein, sie suchen Zugehörigkeit, machen aber Erfahrungen von Ausgrenzung, besonders in den Übergängen, die stets geprägt sind von Gefährdungen wie Scheitern, Entwertung oder Ablehnung. Aus ihren Lebenslagen heraus entwickeln sie Lebensbewältigungsmuster, die sich als dysfunktional erweisen und konträr stehen zu Erwartungen, die das Erwerbsleben an sie stellt.
Zwei verschiedene Welten
Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens kennzeichnet eine formale Struktur, die festgelegt ist in Organigrammen und sich ausdrückt in Arbeitsprozessen und Regeln. Diese geben Auskunft über Arbeitsteilung, Machtdifferenzierung oder Verantwortungsdelegation. Sie verfügen über ein komplexes Interaktions- und Kooperationssystem, um nach innen arbeiten und nach außen auf dem Markt agieren zu können. Diese Eigenlogik wahrzunehmen ist unerlässlich. Denn im Projekt CariVia trifft die Welt der Jugendberufshilfe, die mit der Idee von sozialer Unterstützung und Eingliederungschancen für benachteiligte junge Menschen auf die Einrichtung zugeht, auf ein System, das sich nach anderen Prioritäten ausrichtet.
Zukunft der Pflege ungewiss
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung prognostizierte 2009, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf circa 3 bis 3,4 Millionen Menschen ansteigen wird. Daraus ist zu schließen, dass die professionelle Pflege an Bedeutung gewinnen wird. Es wird mit einem möglichen Beschäftigungszuwachs im Pflegearbeitsmarkt bis 2030 auf circa 1,1 Millionen Vollzeitkräfte gerechnet. Das geschieht auf der heutigen Basis von umgerechnet 550.000 Vollzeitkräften in der Pflege - ohne die Haushaltshilfen. Allerdings wird zugleich prognostiziert, dass aufgrund ungünstiger Rahmenbedingungen auf dem Pflegearbeitsmarkt zu wenig junge Menschen in die Pflege gehen könnten.4
Die Ausbildungslandschaft im Sozial- und Gesundheitswesen ist sehr heterogen. Neben Bundesregelungen für die Ausbildung in Altenpflege, Krankheits- und Gesundheitspflege, Physiotherapie usw. gibt es eine Regelung für assistierende Pflegehilfskräfte (§ 87b SGB XI). Die meisten Ausbildungsvorgaben für den Sozialsektor obliegen jedoch den Ländern, wie die bereits erwähnten Servicehelfer(innen) im Sozial- und Gesundheitswesen. Ferner bieten diverse Bildungsträger Assistenzqualifikationen ohne staatliche Anerkennung an, die die Arbeitsagentur oder die örtliche Arge finanziert.
Die sozialpädagogische Arbeit der Projektträger von CariVia hat einen Spagat zu bewältigen: Einerseits will sie die jungen Menschen im Übergang von der Erwerbslosigkeit in den Arbeitsmarkt ernst nehmen und unterstützen. Andererseits muss sie die Eigenlogik der Organisationen bedienen, wenn sie jungen Menschen Erwerbsmöglichkeiten schaffen will. Sie muss sie arbeitsmarkttauglich machen und dafür Anpassungsleistungen von ihnen einfordern. Damit steht die Sozialpädagogik zwischen der Anforderung, Benachteiligten Unterstützung zu geben, und der, sie doch in gewisser Weise ausgrenzen zu müssen, wenn sie die geforderten Anpassungsleistungen nicht erbringen können.
Empirische Befunde: Anforderungen aneinander
Die erste Befragung erfolgte durch die wissenschaftliche Prozessbegleitung von Februar bis März 2010.
Alle Akteure stellen wechselseitig Anforderungen aneinander: Die jungen Teilnehmenden stellen vor dem Hintergrund ihrer Lebenslage Anforderungen an die Sozialpädagogik, an die Qualifizierung und an die Einrichtungen. Die Einrichtungen stellen auf dem Hintergrund ihrer organisationalen Beschaffenheit, ihrer Kultur und des Marktes, auf dem sie tätig sind, Anforderungen an die anderen Projektbeteiligten.
Anforderungen aller Akteure an die teilnehmenden jungen Menschen betreffen ihre Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit. Von ihnen wird gefordert, Lernbereitschaft zu zeigen (IV 34, Praxis, w.5), eine "innere und äußere Stabilität" (IV 33, Sozpäd., w.) zu entwickeln, oder sie sollen "am Selbstvertrauen arbeiten" (IV 17, TN, w.), wie eine Teilnehmerin mit Blick auf sich selbst fordert.
Anpassungsleistungen werden in Form von Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft gefordert. Allgemein sollen sich die jungen Menschen in den Einrichtungen und auch während der Qualifizierung "an die geltenden Regeln halten" (IV 27, Praxis, m.).
Im Arbeitsfeld Pflege werden hohe Ansprüche an junge Menschen gestellt. So sollen sie Verantwortungsbereitschaft mitbringen, gute Kommunikationsfähigkeiten besitzen, und schließlich müssen sie auch noch mit Grenzerfahrungen umgehen können (IV 33, Sozpäd., w.).
Teilnehmer sind motiviert
Trotz vielfältiger Ablehnung, welche die jungen Menschen bereits erfahren haben, setzen sie starke Hoffnungen in das Projekt und sind in der Regel motiviert,
die neue Chance nutzen zu wollen. Sie wollen dazugehören und anerkannt sein. Deshalb fordern sie von den Praxiseinrichtungen Ansprechpartner(innen) und Zugehörigkeit zu den Teams ein. Diese Anforderungen werden auch von der sozialpädagogischen Begleitung und den Praxisanleiter(inne)n geteilt. So sollen die Jugendlichen nicht als billige Arbeitskräfte betrachtet werden, sondern als zu Qualifizierende (IV 26, Sozpäd., m.); sie sollen wie alle anderen Kräfte behandelt werden: "Also einfach normal umgehen, wie mit einem normalen Praktikanten" (IV 27, Praxis, m.).
Möglichkeiten und Grenzen
Den Anforderungen, die die beteiligten Akteure aus ihren Perspektiven an das Projekt stellen, stehen seine Möglichkeiten und Grenzen gegenüber. Was die Beschäftigungsmöglichkeiten für Benachteiligte in den Einrichtungen angeht, reicht das Spektrum der Aussagen von: "Die Einrichtungen lassen sich auf die benachteiligten Jugendlichen ein" (IV 13, Sozpäd., w.) über: "Es ist mühsam, immer wieder Verständnis zu schaffen für die Jugendlichen" (IV 15, Praxis, w.) bis hin zu der Auffassung, dass die Träger der Einrichtungen keine Arbeitsplätze für Benachteiligte schaffen könnten. - "Aber ich sehe das Hauptproblem bei den Trägern, bei den Einrichtungen, die in seltensten Fällen bereit sind, Einstellungen, wirklich Arbeitsplätze vorzuhalten für Personen mit Einschränkung oder für weniger qualifizierte Personen. Das ist unser Hauptproblem, dass wir diese Plätze nicht haben. Wenn jede Einrichtung eine Planstelle oder zwei Planstellen schaffen müsste, hätten Personen mit Einschränkungen eine Chance. Aber das Problem ist, dass ich diese Stelle nicht finde und nicht habe, und die scheinen dann nicht finanzierbar zu sein" (IV 18, Sozpäd., w.).
Die Einsatzfelder Pflege, Hauswirtschaft und Service unterliegen bei den jungen Menschen Zuschreibungen, die eine Rolle als Horizont der Möglichkeiten und Grenzen spielen. Viele wollen in der Pflege arbeiten, weil sie sich davon einen gesellschaftlich angesehenen Status versprechen. Diesen sehen sie nicht bei einer Arbeit in Hauswirtschaft oder Service.
Gute Rahmenbedingungen lassen sich in den Einrichtungen offensichtlich nicht immer herstellen. Häufig fehlen Arbeitsplatzbeschreibungen für Praktikums- oder Helferstellen, teilweise gibt es keine festen Ansprechpartner(innen) für die Teilnehmenden, so dass diese einen gewissen Mangel an Struktur erleben: "Was besser laufen könnte: Anleitung! … Dass man halt nicht von einer Pflegekraft zur anderen geschickt wird" (IV 28, TN, w.). Andererseits konnten die Teilnehmenden auch ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihren Anleiterinnen und Anleitern entwickeln.
Problematisch sind die Arbeitszeiten in den Einrichtungen, weil Schichtarbeit die Regel ist. Alleinerziehende, die kaum eine Kinderbetreuung organisieren können, werden durch diese Rahmenbedingungen fast aus diesem Berufsfeld ausgeschlossen.
Auftrag an alle: Einsatzfelder schaffen
Soll das Projekt gelingen, ist der Deutsche Caritasverband mit den Fachverbänden aufgefordert, Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte zur Verfügung zu stellen. Einrichtungen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft müssen, wenn sie Einsatzfelder für Benachteiligte schaffen, prüfen, in welchen Arbeitsbereichen zwei "vulnerable Gruppen" - die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und pflegebedürftige Menschen - miteinander in gelingende Arbeitsbeziehungen gebracht werden können.6
Anmerkungen
1. Vgl. Bohlen, Elise: Schulabschluss schlecht, Aussichten gut. In: neue caritas Heft 18/2009, S. 15-17.
2. Angewandt wurde die Methode des "Problemzentrierten Interviews" nach Witzel, Andreas: Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt/M. : Campus, 1982.
3. Böhnisch, Lothar: Sozialpädagogik der Lebensalter. Weinheim/München : Juventa, 1997, S. 29.
4. Pohl, Carsten: Entwicklungen des Arbeitsmarktes für Pflege im Spiegel demographischer Veränderungen. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Nordrhein-Westfalen, Referat anlässlich einer Fachtagung in Paderborn am 24.6.2009. Siehe auch www.iab.de/389/section.aspx/Publikation/k100114311
5. Interviewcodes: "IV": Interview; "34": 34. Interviewpartner(in); "Praxis": Mitarbeiter(in), in der Regel Anleiterin einer Praxiseinrichtung; "w.": weiblich; "m.": männlich; "Sozpäd.": Sozialpädagoge/Sozialpädagogin; "TN": Teilnehmer(in).
6. Am 23. September 2010 fand in Limburg eine CariVia-Fachtagung statt, bei der auch das Schaffen von Arbeitsplätzen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft Thema war.