Lernen durch Benchmarking
Zu der Frage, wie Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland leben und wohnen, haben die evangelische Behindertenhilfe (BeB) und der Bundesfachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) ein Projekt initiiert: Das verbandsübergreifende "Qualitätsorientierte Benchmarking Wohnen für Menschen mit Behinderung" ("QB Wohnen") ist im Jahr 2006 an den Start gegangen (siehe neue caritas Heft 12/2007, S. 9-16). Es wurde für Wohnstätten für Menschen mit geistiger Behinderung konzipiert. Im Mai 2010 startet die inzwischen vierte Erhebungsrunde. Ein im Jahr 2009 erschienener erster Benchmarkingbericht (siehe Kasten) fasst zentrale Ergebnisse der ersten Erhebungsrunden zusammen.
Das "Qualitätsorientierte Benchmarking Wohnen" richtet den Blick neben der finanziellen Situation der Teilnehmer(innen) insbesondere auch auf Fragen der Prozess- und Ergebnisqualität. Betriebswirtschaft, Betreuung und Teilhabe sind somit keine getrennten Welten.
Wo lebt es sich gut?
Das Managementinstrument Benchmarking wird für Führungsverantwortliche sozialer Einrichtungen immer wichtiger. Zu wissen, wo die eigene Organisation - auch im Vergleich zu anderen - steht, ist für Unternehmen in einem zusehends intransparenten Markt unabdingbar, um Verbesserungspotenziale wahrzunehmen, Ziele zu formulieren und Qualitäts- und Kostenpositionen festzulegen. Benchmarking orientiert sich an besseren Lösungen, an "Best Practices", an vorbildlichen Prozessen, an optimierten Beziehungen zwischen Qualität, Kosten und Zufriedenheit.
Das Benchmarking-Verfahren im "QB Wohnen" umfasst - je nach Wahl - zwei anonyme Vergleichsebenen beziehungsweise "Checks". Die erste Ebene (Check I) zielt auf die Erfassung betriebs- und personalwirtschaftlicher Daten der Wohnstätte. Die zweite Ebene (Check II) umfasst sowohl einen Fragenkatalog, der für die Wohnstätte auszufüllen ist, als auch Papierfragebögen, die sich - je nach Bedarf - an Bewohner(innen), Angehörige/gesetzliche Betreuer(innen), Mitarbeiter(innen) sowie Kooperationspartner(innen) der Einrichtung richten. Dabei wird sowohl die Gestaltung von relevanten Prozessen (Einzug, Hilfeplanung, Angehörigenarbeit, Personalentwicklung, Personalorganisation, Innovation) in stationären Wohnangeboten für behinderte Menschen als auch die Prozess- und Ergebnisqualität beleuchtet. Die teilnehmende Wohnstätte hat also die Chance, die ausgewählten Prozesse mit den Meinungen und Erfahrungen der verschiedenen Interessensgruppen zu spiegeln und somit Hinweise auf Verbesserungspotenziale zu erhalten.
Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sind die Eckpfeiler, an deren Zielerreichung sich die Einrichtungen der Behindertenhilfe letztendlich messen lassen müssen. Das "QB Wohnen" trägt der Teilhabeorientierung als dem originären Auftrag der Behindertenhilfe Rechnung, indem in Check II durch die Prozessanalysen die Leistungserbringung und damit das Ergebnis ins Blickfeld gerückt wird. Was kommt gut beziehungsweise weniger gut an?
"Leistung und Effektivität" - Ergebnisse
Die Befragungen von insgesamt 3600 Bewohner(inne)n der Jahre 2006 und 2007 zeigen, dass es - mit jeweils etwa 70 Prozent - der Mehrheit in ihrer Wohneinrichtung gut gefällt. Lediglich bis zu fünf Prozent geben explizit an, dass es ihnen nicht gefällt. Neben der Gesamtzufriedenheit der Bewohner(innen) gestalten sich auch die entsprechenden Werte für die Angehörigen und gesetzlichen Betreuer(innen) sowie die Kooperationspartner(innen) sehr erfreulich. So nimmt beispielsweise die durchschnittliche Gesamtzufriedenheit der Angehörigen und gesetzlichen Betreuer(innen) im Jahr 2006 einen Wert von 1,6 und im Jahr 2007 einen Wert von 1,8 an (jeweils arithmetisches Mittel; fünfstufige Antwortskala: 1 = sehr zufrieden bis 5 = sehr unzufrieden). Die Einrichtungen der Behindertenhilfe nehmen damit im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen Spitzenplätze ein (siehe www.kundenmonitor.de).
Aus den Fragen zur Prozessgestaltung wird deutlich, dass sich die Wohnstätten stark engagieren, den Bewohner(inne)n Teilhabe zu bieten. Gut 60 Prozent (2006) beziehungsweise 70 Prozent (2007) der Bewohner(innen) nehmen regelmäßig einrichtungsexterne Bildungs- und Kulturangebote wahr. Weitere Auswertungen stützen die Erkenntnis, dass die Einrichtungen ihren Teilhabeauftrag ernst nehmen und umsetzen.
Der überwiegenden Mehrzahl der Benchmarking-Teilnehmer(innen) scheint es dabei im Wohnbereich gelungen zu sein, die Kosten an die stabilen Einnahmen anzupassen. Allerdings zeigt sich, dass das Leistungsangebot auf Kante genäht ist. Man kommt so gerade hin, kann sich aber, insbesondere im investiven Bereich, kaum innovativ bewegen.
Kundenzufriedenheit und -bindung stellen auch für die Behindertenhilfe wichtige Zielgrößen dar. Befragungen sind in diesem Zusammenhang wertvolle Steuerungsinstrumente, um dem Anspruch der Kundenorientierung gerecht zu werden. Ein organisiertes Kundenzufriedenheitsmanagement zahlt sich unternehmerisch aus.
Die Mitarbeiter als Erfolgsfaktor
Durch den demografischen Wandel erhält das Thema Personalentwicklung zukünftig weiteren Schwung, indem die Wettbewerbssituation der Wohnstätten um die Dimension eines verstärkten Wettbewerbs um Fachkräfte verschärft wird. Die Wohnstätten sind gut beraten, in ihre Mitarbeiter(innen) als der wertvollsten Ressource zu investieren.
Die Beobachtung der Mitarbeiterzufriedenheit ist auch für soziale Unternehmen wichtig, um Risiken und Problemherde frühzeitig zu identifizieren und handeln zu können.
Betrachtet man die globale Mitarbeiterzufriedenheit, so zeigt sich ein Bild, das zunächst nachdenklich stimmt. Im Jahr 2006 lag die mittlere Arbeitszufriedenheit bei 2,38 ("Wie zufrieden waren Sie in den letzten zwölf Monaten insgesamt mit Ihrer Arbeitsstelle?" - fünfstufige Antwortskala von 1 = sehr zufrieden bis 5 = sehr unzufrieden). Im Jahr 2007 lag der entsprechende Wert bei 2,57. Damit tendiert die durchschnittliche globale Arbeitszufriedenheit vom positiven zum befriedigenden Bereich. Eine derartige verhalten positive Mitarbeiterzufriedenheit als Ergebnis der vorliegenden Erhebungsrunden bei den Einrichtungen ist ein Signal für ein gewisses Unzufriedenheitspotenzial, das ernst genommen werden sollte. Ein genauerer Blick auf weitere Daten ist daher geboten.
Der Blick erhellt sich bereits, wenn man statt des arithmetischen Mittels den Median als eine weitere statistische Maßzahl hinzuzieht. Dabei zeigt sich, dass die "mediane" Gesamtzufriedenheit der Mitarbeiter(innen) im Erhebungsjahr 2006 bei 2,40 lag und im Erhebungsjahr 2007 praktisch unverändert bei 2,38. Damit steht die Gesamtzufriedenheit nicht deutlich besser da, allerdings - und das ist nicht unwesentlich - ist die Interpretation entkräftet, wonach ein Trend zu einer Verschlechterung der Globalzufriedenheit erkennbar sei.
Die Berücksichtigung weiterer objektiver Kennzahlen wie der Fluktuation kann zusätzliche Hinweise auf (Un-)Zufriedenheit liefern. Nimmt man etwa die Krankheitstage je Mitarbeiter(in) hinzu, so zeigt sich im Vergleich mit anderen Bereichen der deutschen Wirtschaft deutlich, dass die teilnehmenden Einrichtungen der Behindertenhilfe mit 8,61 (Erhebungsrunde 2006) beziehungsweise 8,63 (Erhebungsrunde 2007) Tagen pro Jahr sehr gut abschneiden. Mit diesen Zahlen stehen die Einrichtungen deutlich besser da als etwa das gesamte Gesundheits- und Sozialwesen (10,16 Krankheitstage).1
Der Nutzen liegt auf der Hand
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt: Das Projekt ist für die Teilnehmer(innen) anspruchsvoll, aber zweifellos mit einem vertretbaren Aufwand machbar. Durch das umfangreiche und aufschlussreiche Datenmaterial sowie die anonyme und zu hundert Prozent "blamagefreie" Konzeption können die Wohnstätten durch die Teilnahme am Benchmarking nur gewinnen.
Die Benchmarking-Teilnehmer(innen) erhalten durch die Verbindung der verschiedenen "Checks" ein umfassendes Bild über die eigenen Stärken und Schwächen und vielfältige Informationen, um Lernfelder für die eigene Organisation erschließen zu können. Bei der Teilnahme mehrerer Wohnstätten eines Rechtsträgers besteht die Möglichkeit eines internen Benchmarking, das nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit Dezentralisierungs- und Ambulantisierungsprozessen Hinweise für die Angebotsentwicklung stationärer Wohnstätten liefern kann.
Das QB Wohnen ist ein praxiserprobtes, scharfes Analyseinstrument, das Fragen aufwirft, die die Teilnehmer(innen) häufig an den richtigen Stellen irritieren und dazu veranlassen, bessere Lösungen zu erkennen und zu entwickeln. Antworten auf derartige Fragen finden die Teilnehmer(innen) in den aggregierten anonymen Vergleichsdaten der übrigen Beteiligten und im direkten Austausch im Rahmen von Auswertungsworkshops oder Fachtagen. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Wunsch in einen längerfristigen Kontakt mit anderen Einrichtungen zu treten und an Lernpartnerschaften sowie Benchmarkingzirkel teilzunehmen. "Last but not least" gibt es für die Teilnahme am Benchmarking ein Zertifikat, das nach innen und außen deutlich macht, dass sich die jeweilige Einrichtung den wirtschaftlichen und inhaltlichen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft stellt.
Wie das Projekt abläuft
Die Anmeldung zum Benchmarking ist ab Februar 2010 möglich. Die Datenerhebungen starten ab Mai 2010 und können bis Ende August 2010 abgeschlossen werden. Nach der Auswertung der erhobenen Daten erhalten die Teilnehmer(innen) dann ab Oktober des Jahres die Ergebnisunterlagen und einen exklusiven Zugang zu einem Kennzahlenserver, mit dem weitere spezifische Kennzahlen abgerufen werden können. Die wichtige Arbeit folgt erst dann: die Identifikation von Lernfeldern und das Erschließen von Verbesserungspotenzialen.
Anmerkung
1. Daten zu Vergleichsbranchen in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Institut für Wirtschafts- und Sozialpsychologie der Universität zu Köln/Psychonomics AG (Hrsg.): Unternehmenskultur, Arbeitsqualität und Mitarbeiterengagement in den Unternehmen in Deutschland. Abschlussbericht zum Forschungsprojekt. O.O., 2007, S. 121.