Diabetes-Nachsorge bringt Welt wieder ins Lot
Wenn Marie ihre Mutter von ihrem Handy anruft, geht es immer erst um Zahlen: Von 236 ist der Blutzuckerwert auf 73 gefallen? Sie fühlt sich zittrig, ihr wird warm und flau? Susanne Tepaße muss schnell entscheiden: Soll ihre achtjährige Tochter ein Eis essen oder sich Insulin spritzen? Seit einem Jahr begleiten diese Fragen die Familie aus Bocholt. Marie ist Anfang 2009 an Diabetes erkrankt, eines von derzeit 2000 Kindern bundesweit, die es jährlich trifft. „Die Rate steigt von Jahr zu Jahr um drei bis vier Prozent“, weiß Dirk Bierkamp, Oberarzt im St.-Agnes-Hospital. Warum, weiß die Medizin nicht. Für die Eltern bricht bei der Diagnose eine Welt zusammen, Susanne Tepaße bestätigt das. Sie wieder ins Lot bringen will das Projekt „Diabetes Nachsorge für Kinder“, kurz „DiNa“. Die Bocholter Klinik, die Caritas Bocholt und der örtliche Selbsthilfeverein Diabolinos finden sich darin zusammen.
Mit einer Finanzspritze von 40.000 Euro durch die Aktion Lichtblicke der NRW-Lokalradios ist das Projekt gestartet. „DiNa“ ist auf drei Jahre als Modellphase angelegt. Auch wenn die Finanzierung für den Anfang durch Spenden gesichert ist, müssen noch mehr Sponsoren gesucht werden. Auf Dauer hoffen die drei Partner, die Krankenkassen für eine Regelfinanzierung zu gewinnen.
Die Tepaßes sind eine der wenigen Familien, die schon von der „Vorlaufphase“ profitieren konnten, in die die Projektpartner gut 40.000 Euro an Eigenmitteln investiert haben. Diese ersten Erfahrungen haben gezeigt, dass eine Vollzeitstelle in der Kinderkrankenpflege mit der Zusatzkompetenz Diabetes benötigt wird. Da in vielen Familien weitere Probleme im Hintergrund zu lösen sind, muss mindestens eine halbe Stelle Sozialarbeit oder Sozialpädagogik hinzukommen. Die ist im Caritasverband Bocholt in der zentralen Anlaufstelle für Familien (FiZ = Familie ist Zukunft) angesiedelt. Pro Jahr ist so mit gut 60.000 Euro Aufwand zu rechnen, erklärt Irmgard Frieling-Heipel, Geschäftsführerin des Caritasverbandes Bocholt.
Den Part der Krankenpflege hat Claudia Schüttel von der Sozialstation des Caritasverbandes übernommen. Intensiv hat sie die Familie in den ersten 14 Tagen nach der Entlassung von Marie aus dem Krankenhaus begleitet. „Sie war wie eine Hebamme nach der Geburt täglich da und hat uns Sicherheit gegeben“, sagt Susanne Tepaße. Jetzt muss sie nur noch selten um Rat fragen, hat aber für alle Fälle die Handynummer der Caritas-Mitarbeiterin eingespeichert und vertraut darauf, jederzeit anrufen zu können.
Spontan sein geht nicht mehr
Marie ist eines von 25.000 Kindern in der Bundesrepublik, die ihr Leben der Diagnose Diabetes, Typ 1, anpassen müssen. Einschränkungen bei der körperlichen Leistungsfähigkeit oder in der Schule bedeutet das nicht, erklärt Dirk Bierkamp: „Aber die Spontaneität geht verloren.“ Die Grundschülerin ist ein gutes Beispiel dafür. Sie hat im Frühjahr die zweite Klasse übersprungen, schwimmt jede Woche bei der DLRG und kommt gut damit klar. Aber sie und ihre Mutter müssen jeden Tag planen, bis zu zehnmal am Tag den Blutzuckerwert messen und immer neu rechnen.
Das beginnt beim Frühstück. 176 Gramm Vollmilch passen in Maries Glas, aus dem sie Backkakao mit Süßstoff trinkt, um den vielen Zucker im normalen Trinkkakao zu vermeiden. Die Brötchenhälfte legt ihre Mutter auf die Waage und dosiert darauf exakt 20 Gramm Nutella, bevor sie sie verstreicht. Viel musste Susanne Tepaße lernen. Als Marie nach der Diagnosestellung kurz nach Neujahr zwei Wochen im Krankenhaus lag und die Ärzte sie medikamentös einstellten, wurde ihre Mutter drei Stunden täglich in den verschiedenen Aspekten des Lebens mit Diabetes geschult.
Diesen Teil hatte das St.-Agnes-Hospital, in dem jährlich 160 an Diabetes erkrankte Kinder versorgt werden, schon lange gut im Griff. Nicht verborgen blieb Bierkamp und seinen Kolleg(inn)en jedoch, wie schwierig es danach zu Hause wird. Er wusste, dass die ambulante Krankenpflege der Caritas sehr offen für das Thema Diabetes bei Kindern und Jugendlichen ist. Der Anruf bei Claudia Schüttel war der erste Schritt zu „DiNa“. Eine Projektgruppe von Caritas, Diabolinos und Klinik überlegte sich dann das Konzept zur Unterstützung der Eltern zu Hause – „in dieser Struktur bislang bundesweit einmalig, soweit ich weiß“, so der Arzt.
Gerade zu Hause wird es schwierig
In vielen Fällen ist die Hilfe noch notwendiger und aufwendiger als bei Familie Tepaße. Dann ist neben Claudia Schüttel auch Ingrid Quincke-Kraft gefordert, die bei der Caritas im Dienst „Familie ist Zukunft – FiZ“ die unterschiedlichsten Hilfen koordiniert, wenn erforderlich, beispielsweise auch Schuldnerberatung. Sie berät über die Möglichkeit einer Kur und weiß, dass ein Antrag für einen Schwerbehindertenausweis über eine 50-prozentige Behinderung gestellt werden kann. Eine Schwerbehinderung können die Eltern steuermindernd nutzen und damit einen Teil der zusätzlichen Kosten auffangen.
Bei Tepaßes ist die Welt wieder im Lot. Die Familie hat gelernt, mit der Krankheit zu leben. Marie passt auf und rechnet mit. „Neulich hat sie mich daran erinnert, dass natürlich auch Erdbeeren Zucker enthalten“, sagt Susanne Tepaße. Essen kann sie eigentlich alles, nur manche Süßigkeiten wie Gummibärchen sind problematisch, weil die den Blutzucker hochschießen lassen. „Aber Weingummi mochte ich sowieso nicht so gern“, erklärt Marie.