Wo Kind draufsteht, muss Pädagogik drin sein
Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit", so heißt es im Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz). Um dieses Recht auch und gerade in schwierigen Lebenslagen zu gewährleisten, garantiert das SGB VIII jungen Menschen und ihren Eltern Leistungen aus einem differenzierten Leistungskatalog - aber leider nicht allen. Der § 10 Abs. 4 ordnet Kinder mit einer geistigen, körperlichen oder einer Sinnesbehinderung leistungsrechtlich dem SGB XII (Sozialhilfe) zu. Und das hat Folgen.
Schon die Vorgänger der heutigen Gesetzesbücher, das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und die Fürsorgegrundsätze von 1924, haben sich schwergetan mit einer für die betroffenen Kinder und Jugendlichen stimmigen und hilfreichen Regelung. Zugrunde lag und liegt bis heute ein unterschiedliches Verständnis vom Begriff Lebenslage.
Das Kinder- und Jugendhilferecht in seiner heutigen Form konzentriert sich - wie bereits aus der Bezeichnung erkennbar - auf spezifische Bedarfe, die in der Kindheit und Jugendphase auftreten können. Es hat damit immer die elterliche Sorge und Verantwortung, also die ganze Familie, im Blick.
Hilfen knüpfen lediglich an Bedarf für Behinderte an
Die übrigen Sozialgesetzbücher, insbesondere IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) und XII sprechen von "Hilfen in besonderen Lebenslagen". Auch diese knüpfen an einen jeweils spezifischen Bedarf an - nämlich den aus einer Behinderung resultierenden. Diese Hilfen sind jedoch, bis auf wenige Ausnahmen wie etwa die Frühförderung, altersunabhängig ausgestaltet. Sie kommen also grundsätzlich für erwerbstätige Erwachsene ebenso in Betracht wie für alte Menschen, Säuglinge und Kleinkinder. Dass dies nicht der Weisheit letzter Schluss ist, macht ein Hinweis im § 1 des SGB IX deutlich: "Dabei wird den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder Rechnung getragen." Wie dies geschehen soll, dazu schweigt der Gesetzgeber.
In der Fachwelt unstrittig ist die Tatsache, dass sich bei Kindern mit einer Behinderung Erziehung und behinderungsbedingte Hilfen wechselseitig bedingen. "Ein (besonderer) erzieherischer Bedarf kann gerade dadurch entstehen, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist. Damit steigen die Anforderungen an die Erziehungskompetenz der Eltern und es mag sein, dass die Eltern im konkreten Fall mit der Erziehung eines behinderten Kindes überfordert sind. Andererseits kann ein behinderungsspezifischer Bedarf durch eine darauf ausgerichtete Erziehung und dementsprechend auch durch erzieherische Hilfen reduziert werden", so der "Vater" des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, Reinhard Wiesner1.
Hilfen sind rechtlich unterschiedlich verankert
Ein behinderungsspezifisches Sonderrecht erklärt de facto, dass behinderungsspezifische Bedarfe nicht in die Regelgesetzgebung integrierbar sind, anstatt die Ansprüche dort einzubauen, wo sie im Alltag hingehören. Gespiegelt wird ein solches Sonderrecht vom behinderungsspezifischen Kindergarten- und Sonderschulwesen, das zwar spezielle Förderung garantiert, aber die Kinder mit und ohne Behinderung frühzeitig trennt. Die Initiative des Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe, auch Kindern mit einer Behinderung die Möglichkeit der Vollzeitpflege im SGB XII zu ermöglichen, resultiert aus der gleichen Problematik. Kinder mit einer Behinderung werden rechtlich vorrangig als behindert wahrgenommen - mit einer Fülle an Konsequenzen. Die rechtlich unterschiedliche Verankerung von Hilfen für Familien, deren Kind behindert oder schwer erkrankt ist, erschwert die Hilfe für die Familie als Komplexleistung.
Ebenso ist, wie schon erwähnt, die Aufrechterhaltung eines weitgehend separaten Betreuungs- und Bildungssystems für Kinder mit Behinderung nicht nur für die betroffenen Kinder selbst, sondern auch für deren Eltern wenig förderlich in Bezug auf Normalität und soziale Teilhabe. Es besteht die Gefahr, dass die sozialhilferechtliche Praxis mit ihrer Aufteilung der Kinder in behindert und erziehungshilfebedürftig in einen Widerspruch zur grundgesetzlichen Norm des Benachteiligungsverbotes (Art. 3 Abs. 3 GG) gerät. Die Erfahrungen belegen, dass sich im Fall der Behinderung eines Kindes Eingliederungshilfe und Hilfe zur Erziehung aufeinander beziehen und sich ergänzen müssen, statt sich gegenseitig auszuschließen.
Kinder sollten auch als Kinder wahrgenommen werden
Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat sich deshalb erst kürzlich für eine lebenslagen- und lebensweltorientierte Sicht- und Handlungsweise eingesetzt, die Kinder zuerst als Kinder wahrnimmt. In einer Stellungnahme2 heißt es:
"Kinder mit Behinderung sind immer zuerst Kinder in einer Familie. Als Kinder sind sie für ihre Entwicklung auf elterliche Zuwendung, Fürsorge und Erziehung angewiesen. Die Behinderung eines Kindes prägt den Alltag einer Familie und stellt für deren Mitglieder eine besondere Aufgabe und Herausforderung dar. Nicht alle Familien können die Anforderungen, die die Betreuung und Erziehung eines behinderten Kindes mit sich bringen, immer erfüllen. Dadurch kann die Entwicklung des Kindes gefährdet sein.
Im Interesse der betroffenen Familien fordern wir:
- den Auf- und Ausbau und die Finanzierung präventiver und niedrigschwelliger familienunterstützender und -ergänzender Hilfen;
- eine qualifizierte Hilfeplanung für Familien mit Kindern mit Behinderung vergleichbar der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII;
- die Anerkennung und Berücksichtigung der kindspezifischen Hilfebedarfe und aufsichtsrechtlichen Verpflichtungen neben dem behinderungsspezifischen Förder- und Unterstützungsbedarf für den Fall notwendiger stationärer Hilfen;
- die rechtliche Gleichstellung der Kinder mit Behinderung in Bezug auf Regelungen zur Gewährleistung des Kindeswohls."
Die Politik kommt um die "große Lösung", also die Einbeziehung auch der Kinder mit einer Behinderung in den Geltungsbereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, nicht herum. Gleiches gilt für die Bildungspolitik. Beides ist Voraussetzung und Grundlage für eine inklusionsfreundlichere Gesellschaft. Eine Fortschreibung des Status quo wird mit dem Vorwurf der Ausgrenzung und Benachteiligung leben müssen.
Anmerkungen
1. Reinhard Wiesner ist Leiter des Referats Kinder- und Jugendhilfe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und war zuständig für den Entwurf des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990. Zitat aus: Bopp, Christiane; Gräf, Christoph: Tagungsbericht "Vom behinderten Kind zum Kind mit Behinderung". Würzburg, 2003.
2. Stellungnahme anlässlich des Fachtages "Kind im Heim" des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales. Frühjahr 2008