Studie zu Kinderkuren veröffentlicht
Gesundheitliche Stärkung bei guter Ernährung und in frischer Luft - das war das erklärte Ziel der Kinderkuren, die in Deutschland von Ärzt:innen verschrieben oder von der Fürsorge – etwa Jugend- oder Gesundheitsämtern - veranlasst wurden. Etwa elf Millionen Kinder und Jugendliche verbrachten zwischen 1951 und 1990 in der Bundesrepublik Deutschland Aufenthalte in Kinderkur- und -erholungsheimen. Was sie dort erlebten, hatte mit Erholung jedoch in erschreckend vielen Fällen nichts zu tun.1
Gemeinsam mit der Deutschen Rentenversicherung Bund, der Diakonie Deutschland und dem Deutschen Roten Kreuz hat der Deutsche Caritasverband Mitte Mai einen wissenschaftlichen Forschungsbericht veröffentlicht, welcher dieses belastete Kapitel deutscher Geschichte unabhängig und systematisch aufgearbeitet hat. Berichtsbegleitend wurde erstmals ein Verzeichnis von mehr als 2000 Kinderkur- und -erholungsheimen veröffentlicht.2
Die Kosten für den Aufenthalt trugen meist Rentenversicherungen und Krankenkassen. Häufig lagen die Einrichtungen an der See, im Mittelgebirge oder in den Alpen.
Verschickt wurden Kinder aus allen sozialen Schichten im Alter von zumeist zwischen drei und elf Jahren.3 Die mehrwöchigen Kinderkuren waren ein Massenphänomen der deutschen Nachkriegszeit. Jahrzehnte später berichten viele Menschen, die als Kind auf solche Kuren geschickt wurden, von Demütigung, psychischer und physischer Gewalt.
Durchgeführt wurde die Forschung von einem Team um Alexander Nützenadel, Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Forschungsteam hat Quellen in mehr als 60 Archiven ausgewertet und zahlreiche Zeitzeug:innen befragt, darunter auch viele Betroffene. Begleitet wurde die Forschung durch einen Projektbeirat, dem auch Vertreter:innen von Betroffeneninitiativen angehörten.
Die Kooperation der drei Wohlfahrtsverbände mit der Deutschen Rentenversicherung Bund wurde von der "Initiative Verschickungskinder" als gutes und wichtiges Signal gewürdigt.
Die Kurheime waren überwiegend in privater Trägerschaft oder wurden von Wohlfahrtsverbänden oder Kommunen betrieben. Unter den insgesamt 2015 zwischen 1945 und 1989 erfassten Kinderkurheimen in Westdeutschland befanden sich 411 Einrichtungen in Trägerschaft der Caritas beziehungsweise katholischer Institutionen. Die Einrichtungen der Caritas waren dabei in Größe, Ausstattung und konzeptioneller Ausrichtung höchst heterogen. Das Spektrum reichte von kleinen Häusern mit wenigen Betten bis hin zu komplexen Heilstätten. Regionale Schwerpunkte lagen im Süden und Südwesten der Bundesrepublik.

919 ihren Höchststand. In den folgenden Jahren ging sie sukzessive zurück.
Etwa ein Fünftel der Heime war in katholischer Trägerschaft
Die Caritas-Heime wurden von einem multiprofessionellen Personal geführt, das aus ärztlichen, pflegerischen und pädagogischen Fachkräften bestand. Ein charakteristisches Merkmal war schon damals der überdurchschnittlich hohe Anteil weiblicher Mitarbeitender. Eine Besonderheit stellten die zahlreichen Ordensschwestern dar, die bis in die 1960er-Jahre hinein einen erheblichen Teil der Belegschaft ausmachten. Sie prägten die Heime oft insbesondere hinsichtlich der Organisation des Alltags und der pädagogischen Konzepte.
Allerdings litt auch das katholische Kinderkurwesen unter einem anhaltenden Mangel an pädagogisch qualifiziertem Personal. Besonders qualifizierte Fachkräfte empfanden die Arbeit in oft abgelegenen, saisonal schwankend belegten Heimen als wenig attraktiv. Infolgedessen kam es nicht selten zu personeller Unterbesetzung, was die Qualität der Betreuung beeinträchtigte.
Die Finanzierung der Heime basierte vorrangig auf Pflegesätzen, die bereits frühzeitig für viele Caritas-Träger nicht mehr kostendeckend waren. Schon in den 1960er-Jahren gerieten viele Einrichtungen in wirtschaftliche Schieflage. Sinkende Belegungszahlen, steigende Personalkosten und unzureichende staatliche Zuschüsse führten zu wachsenden Defiziten. Modernisierungsmaßnahmen ließen sich oft nicht finanzieren.
Überbelegung, schlechte Hygiene und Ernährung, liebloser Umgang
Die Trägerschaft lag in der Hand lokaler Einrichtungen, Diözesanverbände und Ordensgemeinschaften. In den Quellen des Forschungsberichts zeigen sich zahlreiche Hinweise auf Missstände: Überbelegung, unzureichende Hygiene, mangelnde Ernährung und vor allem ein liebloser, autoritärer Umgang mit den Kindern prägten viele Berichte ehemaliger Kurkinder. Die Untersuchungen weisen auch auf körperliche Züchtigung, Essenszwang, Briefzensur und Besuchsverbote hin.
Trotz wiederholter Beschwerden reagierten Heimleitungen und Trägerorganisationen oft nicht oder bagatellisierten die Vorwürfe. Ein schwerwiegendes strukturelles Versäumnis bestand darin, dass es in vielen Fällen kein funktionierendes Beschwerdemanagement gab. Es fehlte an einheitlichen Standards und verbindlichen Sanktionen.
Die Einrichtungen der Kinderkurheime ermöglichten Millionen von Kindern den Zugang zu gesundheitlicher Erholung, doch die historische Aufarbeitung zeigt die Ambivalenz: Neben erfolgreichen Erholungsmaßnahmen und auch positiven Erinnerungen stehen strukturelle Defizite, personelle Engpässe und gravierende Missstände im Umgang mit Kindern. Viele, zu viele Betroffene haben in den Kinderkureinrichtungen keine schöne und erholsame Zeit verbracht. Sie wurden kontrolliert, gedemütigt, eingeschüchtert. Manche waren Gewalt ausgesetzt, einigen wurden zwangsweise Medikamente verabreicht. Psychische Langzeitfolgen und teilweise Traumata, die bis heute starke Belastungen für die Betroffenen darstellen, sind die Folge.
Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa hat in der gemeinsamen Pressemitteilung die Betroffenheit hierüber zum Ausdruck gebracht: "Statt Fürsorge und Geborgenheit haben viele der verschickten Kinder Demütigung und Schmerz erfahren. Die Erkenntnisse des Forschungsberichts erschüttern uns. Wir können das erlittene Leid nicht ungeschehen machen, aber wir stehen zu unserer Verantwortung und sprechen den Betroffenen unser tief empfundenes Bedauern aus. Die Durchführung von Kindererholungsmaßnahmen ist Teil der Geschichte verschiedener Einrichtungen und Träger in der verbandlichen Caritas. Wir haben diese Geschichte sichtbar gemacht und dürfen sie nicht vergessen – dafür müssen wir Orte oder Momente der Erinnerung schaffen."
Erinnerungskultur und Aufarbeitung stärken
Mit dem Forschungsbericht liegt nun erstmals eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung dieses viel zu lange unbeachteten Arbeitsfeldes der Wohlfahrtspflege vor. Die Forschungsergebnisse bieten eine gute Basis, um eine individuelle Aufarbeitung der Erlebnisse voranzubringen. Insbesondere das daraus entstandene Verzeichnis von mehr als 2000 Kinderkur- und -erholungsheimen kann als Grundlage zur persönlichen Recherche dienen.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung und die notwendige Erinnerungskultur sind ein notwendiger Schritt, um die Lehren aus diesem geschichtlichen Kapitel der Kinderkurheime in zukünftige Fürsorgepraxis zu überführen. Das erlittene Leid kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber der Deutsche Caritasverband hat diese Geschichte sichtbar gemacht, um zu seiner Verantwortung zu stehen und gegen das Vergessen anzutreten – für Orte und Momente der Erinnerung.
1. S. a. Westbeld, H.: Erholung ist es nicht immer gewesen. In: neue caritas Heft 15/2024, S. 35 f.
2. Zu finden unter https://tinyurl.com/nc25-11-kinderkur
3. Jachertz, N.: Kinderkuren in den 1950er- bis 1990er-Jahren: Versuch einer Aufarbeitung. In: Ärzteblatt 3/2021, https://tinyurl.com/nc25-11-kurkinder