Ein WissenschaftsNetzwerk Caritas entsteht
Am Anfang stand ein paradoxer Befund. Die Verbände und Trägerschaften der katholischen Wohlfahrt, die universitären Fakultäten und Institute für Katholische Theologie und die Katholischen Hochschulen sowie die Stabsstellen großer Caritas-Träger für eine caritativ ausgerichtete Pastoral berufen sich auf ein gemeinsames religiöses, sogar konfessionell geprägtes Grundverständnis. Analysiert man jedoch im deutschsprachigen Raum die Zusammenarbeit, zeigt sich ein ernüchterndes Ergebnis. Obwohl deren Akteure häufig in den gleichen Themenfeldern und bisweilen an ähnlichen Projekten arbeiten, existieren nur wenige etablierte Kooperationen.
Neue Problemlagen verlangen neue Formate
Dabei stehen alle vor Herausforderungen, die eine bessere Zusammenarbeit nahelegen: Die universitären Fakultäten und Institute nehmen seit Jahren den Rückgang der Studierendenzahlen zur Kenntnis. Überraschenderweise kommen die Handlungsfelder der Caritas - des größten kirchlichen Arbeitgebers hierzulande - in Lehre und Forschung kaum vor. Aufseiten der Verbände und Trägerschaften finden sich mittlerweile etliche Stabsstellen – mit Bezeichnungen wie Caritas und Pastoral, Theologische Grundsatzfragen und Caritasprofil, Caritaspastoral oder Christliche Unternehmenskultur –, viele davon haben jedoch mit einer vagen Aufgabenbeschreibung umzugehen. Ähnliches zeigt ein Blick in die diözesanen Strukturen. Die Fachstellen für die kategoriale Seelsorge (Kranken-, Senioren-, Behinderten- und weitere Stellen diakonischer Pastoral) sind in den Stellenplänen der Diözesen zwar eingerichtet, Kooperationen mit universitären Strukturen jedoch selten etabliert. Von ihrem Selbstverständnis her stehen die Katholischen Hochschulen im Sinne der angewandten Wissenschaften stärker unter dem Anspruch, den interdisziplinären Diskurs zu fördern. Die dortigen Bereiche, die sich auch mit theologischen, ethischen und spirituellen Fragen beschäftigen, sind in der Regel in ein Zusammenspiel verschiedener Expertisen aus den Bereichen Pädagogik, der Pflege- oder Hebammenwissenschaft, der Sozialen Arbeit und Ähnlichem mehr eingebettet. Dahinter steht ein erkennbarer Praxisbezug, der die Kooperation mit den Diensten der Caritas wie kirchlicher Pastoral und Verwaltung sucht.
Eine Folgerung aus dem Befund lautet: Der theologische Diskurs in den Verbänden, Trägerschaften, der diözesanen diakonischen Pastoral, den Hochschulen und Universitäten könnte in vielen Fällen, noch dazu, wenn thematische Schnittmengen bestehen, jeweils voneinander profitieren. Das setzt voraus, dass alle sich gegenseitig als theologiegenerative Orte wahrnehmen und von den anderen Beiträge erwarten, die sie selbst nicht generieren können. Genau hier setzt die Idee des WissenschaftsNetzwerks Caritas an.
Der Leitgedanke: Communities of Practice
Engagierte Vertreterinnen und Vertreter besagter Institutionen haben sich daher die Frage gestellt: Über welche Form der Organisation muss man nachdenken, wenn die Akteure miteinander in einen Austausch kommen sollen, ohne gleich eine institutionelle Rechtsform dieses Miteinanders festlegen zu müssen? Angesichts der Unterschiedlichkeit der Institutionen zeigten die Diskussionen, dass der Prozess der Zusammenarbeit flexibel gestaltet werden muss. Akteure können sich dann einbringen, wenn sie einen Bedarf haben oder einen eigenen Nutzen sehen. Als Zielgruppe eines solchen Netzwerkes soll angesprochen werden: das Management, Mitarbeitende in Fach- und Stabsstellen der Verbände, der Diözesen und größerer Trägerschaften konfessioneller Wohlfahrt, die Professorenschaft sowie wissenschaftlich Mitarbeitende an Hochschulen und Universitäten. Die inhaltlichen Schwerpunkte ergeben sich aus Beiträgen von Personen, die sich im Netzwerk engagieren. In einer ersten Phase sollen Themen der Gesundheits- und Sozialpolitik, der Pastoral, Spiritualität, Ethik sowie des christlichen Profils aus interdisziplinärer Perspektive bearbeitet werden.
Nach dieser wichtigen Konturierung fehlte jedoch noch ein Selbstverständnis, mit dem dies alles angegangen werden soll. Die Theorie der Communities of Practice bot schließlich die passenden Gedanken dafür. Sie schöpft aus dem Fundus einer pragmatisch ausgerichteten Sozialanthropologie und einer situativen Lerntheorie. Demzufolge wird unter einer Community of Practice eine Gruppe von Menschen verstanden, die ein Anliegen für etwas teilen. Sie handeln und lernen, wie sie etwas besser machen können, wenn sie sich regelmäßig austauschen. Gelernt wird im Arbeiten an gemeinsamen Fragestellungen aus der Praxis. Lernen im Netzwerk heißt deshalb, einen sozialen Prozess zu organisieren, in dem die einzelne Person mit anderen Teilnehmenden gemeinsame Ziele zur Lösung erarbeitet und teilt.
Die Praxis ist das Labor und ein Erkenntnisort
Beispielhaft hierfür sind Bereiche der Technologieentwicklung, insbesondere der IT. Forschung findet seit Längerem nicht mehr ausschließlich in den Laboren akademischer Institutionen statt, sondern erhält eine Erweiterung. Die konkrete Zusammenarbeit, vor allem zwischen Unternehmen und Hochschulen, wird zum Erkenntnis- und Entwicklungsort. Theorie und Praxis treten in eine dynamische Beziehung. Der Wissenschaftsanspruch bleibt also nicht für jene reserviert, die an Hochschulen oder Universitäten beschäftigt sind. Miteinander zu arbeiten, damit intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnisse zu begründetem, geordnetem und gesichertem Wissen führen, benennt den Grundanspruch eines solchen Verbundes. Was daraus entsteht, muss robust genug sein, um weitere Theorie- und Praxistests zu bestehen. Die Praxis selbst ist Ort des Wissensgewinns und zugleich der Ort der Überprüfung von wissenschaftlichen Reflexionen. Der Name "WissenschaftsNetzwerk Caritas" soll diese Charakteristik zum Ausdruck bringen.
Aus all diesen Überlegungen entstand auf dem Jahrestreffen 2024 in Frankfurt eine Kurzbeschreibung des WissenschaftsNetzwerks Caritas, das folgende Aspekte umfasst: Das WissenschaftsNetzwerk Caritas
- versteht sich als Kommunikationsplattform;
- ermöglicht einen transparenten wissenschaftlichen Diskurs;
- pflegt den kontinuierlichen Austausch der verschiedenen Akteure;
- achtet darauf, dass die Inhalte von Akteuren des Netzwerks selbst bestimmt werden;
- hat keinen externen Auftraggeber und ist nur sich selbst gegenüber verantwortlich;
- generiert, wenn möglich, Ressourcen und Finanzierungsoptionen.
Stand der Dinge
Das WissenschaftsNetzwerk Caritas hat den Anspruch, neue Formen engagierter Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen, diözesanen und caritativen Institutionen herzustellen. Es lädt ein, sich aktiv zu beteiligen. Mehr Informationen erhalten Sie unter dem Kurzlink: https://tinyurl.com/nc11-25-wissenschaftsnetzwerk
Was als Diskussionsprozess begann, zeigt sich heute als ein breites WissenschaftsNetzwerk Caritas mit über 450 Interessierten aus neun europäischen Ländern. Organisiert werden die Aktivitäten von einer Steuerungsgruppe, der rund ein Dutzend Personen angehören. Mit seinen vier Kommunikationsformaten (siehe Kasten unten) wird sich das WissenschaftsNetzwerk Caritas weiter als eine aktive Community of Practice an den Schnittstellen zwischen Verbänden, Trägerschaften, Diözesen, Universitäten und Hochschulen etablieren. Das Jahrestreffen 2026 findet gemeinsam mit dem Netzwerk Diakoniewissenschaften statt. Weitere Kooperationen wie eine Veranstaltung zur "Zukunft der Seelsorge bei konfessionellen Komplexträgern" mit dem Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln im Jahr 2026 stehen auf der Agenda.
Service
Die Angebote des Netzwerks
1) Ein quartalsweise versandter Newsletter, der über aktuelle Stellungnahmen, Publikationen, Forschungsprojekte, Stellenausschreibungen, Veranstaltungen etc. berichtet. Interessierte können sich über folgenden Kurzlink anmelden: https://tinyurl.com/nc11-25-wissenschaftsnetzwerk
2) Jeweils im November findet eine Online-Veranstaltung statt. Die bisherigen Veranstaltungen stellten eine Studie zur narrativen Ethik in der Klinikseelsorge, eine Forschungsarbeit zu den seelsorglichen Ressourcen der Caritas, das Thema Advance Care Planning und ein Konzept zur Einstellungspraxis in der Caritas vor.
3) Jährlich findet ein Treffen in Präsenz statt. Das diesjährige tagte anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Instituts für Caritaswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Daran schloss unmittelbar das 18. Forum für Theologie und Caritas "Der Barmherzige Samariter braucht keinen Tempel?!‘ – Was können [wir als] Theolog:innen in der Caritas leisten?" an.
4) Künftig wird es ein Wiki für das Netzwerk geben: Die Wiki-Plattform wird in den kommenden Monaten mit den eingereichten Themen aus den Feldern Pastoral, Spiritualität, Ethik, Gesundheits- und Sozialpolitik sowie Profil befüllt, ein Kategoriensystem eingerichtet und Themenverantwortliche benannt.