Strategische Entscheidungen müssen auf Werten basieren
Die Entscheidung, ein bestehendes Angebot aufzugeben, ist für soziale Unternehmen eine der herausforderndsten Aufgaben. Insbesondere dann, wenn es sich um eine Einrichtung handelt, die langjährig fester Bestandteil des Angebots war und vulnerable Gruppen betrifft. Der Caritasverband für die Diözese Eichstätt hat im Rahmen seines Konsolidierungsprozesses die schwierige Entscheidung getroffen, das Wohnheim für geistig- und mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche im Caritas-Zentrum St. Vinzenz in Ingolstadt zu schließen. Wie kam es dazu, und welche Kriterien wurden berücksichtigt?
Der Kostendruck und seine Herausforderungen
Der Diözesan-Caritasverband befindet sich aufgrund wirtschaftlich herausfordernder Jahre in einem umfassenden Konsolidierungsprozess. Fachlich begleitet wurde er dabei im Jahr 2024 von der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Curacon. Ziel war es, Kosten- und Leistungsstrukturen systematisch zu analysieren und wirtschaftliche Herausforderungen transparent zu machen. Auch das Caritas-Zentrum St. Vinzenz stand mit einem Defizit im Fokus der Untersuchung. Besonders das Wohnheim belastete die finanzielle Situation mit einem dauerhaften Minus von rund einer halben Million Euro pro Jahr.
Es war eine Einrichtung mit einem langjährigen, modernen und gedanklich fest verankerten Angebot. Damit war klar, dass sich eine schnelle Schließungsentscheidung allein aufgrund eines aktuell hohen Defizits nicht mit dem Caritasselbstbild und -anspruch decken würde. Neben den wirtschaftlichen Aspekten spielten strukturelle und personelle Herausforderungen eine Rolle: Das Wohnheim war eine vollstationäre Einrichtung mit hohen ordnungsrechtlichen Personalanforderungen. Schon 2022 wurde eine Wohngruppe aufgrund von Personalmangel geschlossen. Mit dem verbleibenden Personalstand konnten lediglich elf Kinder und Jugendliche versorgt werden. Die Situation verschärfte sich weiter, so dass die Tragfähigkeit des gesamten Caritaszentrums von strukturellen Veränderungen abhing.
Es galt, die Möglichkeiten einer verbesserten Kostendeckung zu erkunden und deren Bedeutung sowohl für das Caritas-Zentrum St. Vinzenz als auch für den Caritasverband zu bewerten. Ebenso wichtig war es, die sogenannten Softfacts anzuschauen, wie die Auswirkungen auf die Angestellten, die Erfüllung des eigenen Anspruchs, "zu helfen", und die Bedeutung für die Klient:innen.
Wirtschaftlichkeitsanalyse stützt Entscheidungsprozess
Im Rahmen des sogenannten Zukunftskonzepts 2030 wurde eine umfassende Organisations-, Steuerungs- und Wirtschaftlichkeitsanalyse durchgeführt. Darauf aufbauend entwickelte der Verband eine Verbandsstrategie als Grundlage für die Bereichsstrategien, ohne das Grundprinzip "Not sehen und handeln" aus den Augen zu verlieren. Die Leistungsangebote der einzelnen Bereiche wurden systematisch weit über das rein Finanzielle hinaus bewertet - so auch das Caritas-Zentrum St. Vinzenz. In den Prozess waren verschiedene Akteure eingebunden: die Einrichtungsleitung, die Verwaltungsleitung, zwei weitere Führungskräfte von St. Vinzenz, der betriebswirtschaftliche Referent des Verbandes und der Vorstand. Um eine professionelle und neutrale Bewertung zu erhalten, wurde der Prozess durch externe Berater begleitet.
Die Entscheidung, das Wohnheim zu schließen, basierte auf drei zentralen Perspektiven:
- Konzeptionelle Aspekte: Im Fokus standen die Anforderungen der Klientel an das Betreuungspersonal, die infrastrukturellen Gegebenheiten, welche mit den Bedürfnissen der Klientel im Einklang stehen müssen, sowie das Leitbild einer Lebensweltorientierung. Nach vielen Überlegungen und Diskussionen wurde entschieden, dass der konzeptionelle Schwerpunkt im Kinder- und Jugendbereich der Eingliederungshilfe im Caritas-Zentrum St. Vinzenz in Richtung teilstationärer Angebote ausgebaut werden sollte. In diesem Teilbereich profitiert die Einrichtung von einer jahrelangen Expertise und Erfahrung. Die Ressourcen können optimal genutzt werden, während sie im stationären Setting immer schwerer abrufbar sind.
- Strukturelle Faktoren: Die Personalsituation war langfristig nicht gesichert, sowohl die Kapazität als auch die Qualität betreffend. Die schwierige Personalsituation hat dazu geführt, dass Plätze reduziert wurden. Dies wiederum hat die Synergieeffekte innerhalb des Personals eingeengt und zu einer Abwärtsspirale geführt. Ordnungsrechtliche Vorgaben sind in Zeiten des teils massiven Personalmangels nicht mehr umzusetzen, ohne über Belastungsgrenzen hinauszugehen.
- Wirtschaftlichkeit: Auch unter Berücksichtigung möglicher Verbesserungen der Refinanzierung waren ein dauerhaftes Defizit und nicht refinanzierte Investitionskosten zu erwarten. Negative Wirkungen auf andere Angebote wären die Folge gewesen. Die Kostenstrukturen waren durch die Personal- und Gebäudesituation nachhaltig negativ beeinflusst. Das Defizit im einzelnen Angebot war allerdings kein finales Ausschlusskriterium. Trotz der Kostenstellenstruktur erfolgte die betriebswirtschaftliche Bewertung ganzheitlich.
Kommunikation: rechtzeitig und transparent
Zentraler Erfolgsfaktor war die transparente Kommunikation innerhalb des Verbandes sowie nach außen und gegenüber dem Kosten- und Leistungsträger. Es wurde versucht, die Wirkungen für die Betroffenen und deren Fragen im Zusammenhang mit der Schließung zu identifizieren. Darauf ausgerichtet wurden Lösungen erarbeitet und eine geeignete und rechtzeitige Art der Kommunikation strukturiert. Regelmäßige Statusberichte auf verschiedenen Ebenen sowie eine Projektplattform ermöglichten den Austausch mit den Mitarbeitenden. Um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten, wird die Schließung zum Ende des Schuljahres 2024/25 erfolgen. In diesem Zeitraum liegt der Fokus darauf, für die betroffenen Kinder geeignete Alternativunterbringungen zu finden. Die Verantwortung dafür liegt grundsätzlich bei den Leistungsträgern, wobei die Kenntnisse über Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner im Caritas-Zentrum St. Vinzenz liegen. Hier ist es wichtig, sich partnerschaftlich mit allen anspruchsberechtigten Parteien auszutauschen. Entstehende Kosten und persönliche Belastungsfaktoren wurden bei der Entscheidung berücksichtigt. Die Mitarbeitenden des Wohnheims sollen - gegebenenfalls auch mit personellen Überschneidungen – in andere Bereiche integriert werden, betriebsbedingte Kündigungen sollen nicht erfolgen.
Ein regelmäßiger und intensiver Austausch im laufenden Prozess mit Mitarbeitenden, Eltern, gesetzlichen Vertretern, Leistungs- und Kostenträgern, der Heimaufsicht sowie den Klientinnen und Klienten ist die ausschlaggebende Komponente.
Entscheidungen strukturiert und wertebasiert treffen
Die Entscheidung zur Schließung des Wohnheims war notwendig, um die Zukunftsfähigkeit anderer Leistungsangebote zu sichern. Entscheidend war ein strukturierter und wertebasierter Entscheidungsprozess. Die Learnings aus diesem Prozess können auch für andere soziale Unternehmen von Bedeutung sein: Um tragfähige Entscheidungen zu treffen, sind fundierte wirtschaftliche und strukturelle Analysen unerlässlich. Dabei ist es wichtig, strategische Kriterien zu definieren, um die Zukunftsfähigkeit von Angeboten aus verschiedenen Perspektiven zu bewerten. Eine transparente Kommunikation sowohl innerhalb der Organisation als auch nach außen fördert Akzeptanz und Unterstützung. Die konsequente Umsetzung der getroffenen Entscheidungen sollte durch ein strukturiertes Controlling begleitet werden, um den Erfolg sicherzustellen.
Soziale Unternehmen stehen vor der Herausforderung, wirtschaftliche Stabilität mit ihren Werten in Einklang zu bringen. Der Fall des Caritaszentrums St. Vinzenz zeigt, dass dies mit einem systematischen und verantwortungsvollen Prozess gelingen kann.