„Das Verschärfte ist das neue Normal“
Im Blick war vor allem die Pflege, stark betroffen war aber ebenso die Kinder- und Jugendhilfe. Nachwirkungen der Coronazeit sind nach wie vor spürbar, zumal die Sorge bleibt, auch künftig wieder übersehen zu werden. Wie haben Kinder und Jugendliche die Pandemie erlebt? Welche Lehren lassen sich aus den Auswirkungen für die Zukunft ziehen? Darüber sprechen im Interview drei Expert:innen, die es in der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz in Münster selbst erlebt haben: Michael Kaiser leitet die Einrichtung und kennt als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Erziehungshilfen (AGE) in der Diözese Münster auch die Nöte seiner Kolleg:innen. Hannah Zelzner unterstützt als Psychologin Mitarbeitende und Jugendliche, und Ina Pünt ist Teamleiterin einer Intensivwohngruppe.
Corona hat die Kinder- und Jugendhilfe hart getroffen. Wie haben Sie die Situation am Anfang erlebt?
Michael Kaiser: Die Gruppen wurden zum Schulersatz. Mit einer großen Herausforderung: Sechs oder acht Kinder waren zu den Zeiten anwesend, in denen normalerweise kein Personal da ist. Schmerzhaft war vor allen Dingen, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen wurde. Dazu kam die Digitalisierung. Wir haben mit hohen Kosten nachgerüstet.
Wie haben die Mitarbeitenden das empfunden?
Hannah Zelzner: Die Situation hat die Kolleg:innen persönlich betroffen. Außerhalb haben viele gesagt, Corona habe alles so schön entschleunigt. Aber unsere Welt hat ein paar Umdrehungen zugelegt.
Vor welche praktischen Herausforderungen hat Corona Sie gestellt?
Ina Pünt: Wir mussten kreativ werden. Wie kann man den Kontakt halten, wie trotzdem für die Kinder eine Verbindung und eine Verbindlichkeit herstellen? Bezüglich Schule war ich Lehrkraft für mehrere Klassen. Es hat ganz viel Zusammenhalt gebraucht, um diese Zeit überstehen zu können, aber räumlich mussten wir uns distanzieren.
Zelzner: Not macht erfinderisch. Wir haben beim Telefonieren am Fenster gestanden, damit wir uns dabei wenigstens aus der Ferne sehen konnten. Aber zu einigen Kinder und Jugendlichen konnte ich den Draht nicht wieder anknüpfen. Da ist es zu Therapieabbrüchen gekommen. Diese Pause war auch eine Kränkung.
Pünt: Zum Thema Kränkung fällt mir ein, dass es am Anfang ganz schwierig war, mal einen Spaziergang zu machen mit sechs Kindern und zwei Erwachsenen. Es hieß sofort: Ihr überschreitet die Personengrenze. Es gab Leute, die wirklich blöde Kommentare vor den Kindern gemacht haben.
Wie haben die Kinder und Jugendlichen die politische Situation erlebt?
Zelzner: Bei den jüngeren Kindern war das Politische kaum Thema. Bei Älteren war dieses Erleben von Ohnmacht und das Gefühl, ein Spielball zu sein, mit einer maximalen Verunsicherung verbunden. Sie erleben sowieso sehr viel Ohnmacht und in dieser Situation noch mal verschärft. Das hat bei manchen schon einen großen Groll auf Erwachsene ausgelöst.
Haben die Kinder und Jugendlichen das Agieren oder Entscheidungen der Politik infrage gestellt?
Zelzner: Kleinkinder können nicht direkt die Verbindung mit der Politik herstellen, Jugendliche aber durchaus. Manche Eltern waren sehr coronakritisch oder -leugnerisch unterwegs, da sind Kinder zum Teil in extreme Loyalitätskonflikte geraten. Zeitweise durften nur Eltern kommen, die aktuelle Tests vorgelegt haben oder geimpft waren. Manche Eltern haben dann die Kinder lieber nicht gesehen.
Spüren Sie nach fünf Jahren Nachwirkungen dieser Konflikte?
Kaiser: Angststörungen haben zugenommen, auch Essstörungen und Depressionen. Mit diesen Folgen haben wir sowohl bei den Neuaufnahmen zu tun wie auch bei den Kindern und Jugendlichen, die die Pandemie hier erlebt haben und in diesen Loyalitätskonflikten waren. Trotzdem gab es eine relativ hohe Akzeptanz der Regelungen.
Was ich heute sehr kritisch betrachte, ist die Zimmerquarantäne gerade bei erkrankten jüngeren Kindern. Das würde ich heute nicht mehr so machen. Da muss man sich was anderes einfallen lassen oder ein anderes Risiko akzeptieren.
Gab es für die Mitarbeitenden Möglichkeiten, die Situation aufzuarbeiten?
Kaiser: Wir sind gleich von der einen Krise in die andere geraten, nach Corona in den Ukraine-Krieg. Das hat wieder etwas mit Angst zu tun. Kinder und Jugendliche haben gefragt, muss mein Papa jetzt auch in den Krieg? Wir konnten bislang keine Kraft schöpfen, keine Überstunden abbauen, sondern sind wie in einem Hamsterrad in die nächste Krise eingestiegen. Das ist, glaube ich, fatal. Wir merken, dass Kinder und Jugendliche darauf reagieren, indem sie mehr Schwierigkeiten machen oder mit anderen Problemen kommen. Bei den Mitarbeitenden sind die Krankmeldungen weiterhin auf einem relativ hohen Niveau.
Zelzner: Ich erlebe eine große, zeitverzögerte Erschöpfung. Ebenso beim Jugendamt und den Kliniken, die unter Corona aus allen Nähten geplatzt sind. Das hält bis heute an. Dieses Verschärfte ist das neue Normal. Für Kinder, die einen Psychotherapeuten brauchen, haben wir den Luxus eines eigenen Therapieteams, aber wir können nicht alle Kinder versorgen. Die Wartelisten der Kliniken und Praxen sind sensationell hoch, selbst in Münster, wo wir verhältnismäßig gut aufgestellt sind. Gleichzeitig haben wir weniger Personal. Nachwuchskräfte konnten während Corona nicht gut qualifiziert werden.
Gibt es Ideen oder Formate, wie Sie da wieder rauskommen?
Kaiser: Wir schauen, wie viel Belastung wir zulassen können. Bei den Inobhutnahmen sind die Kapazitäten begrenzt. Das heißt aber: Es findet Triage im Jugendhilfebereich statt. Absagen zu müssen, ist kein befriedigendes Gefühl, denn hinter jeder Anfrage steht das Schicksal eines Kindes. Aber wir müssen uns darauf konzentrieren, was wir schaffen können.
Gibt es spezielle Angebote zur Entlastung für die Mitarbeitenden?
Kaiser: Mit der Berufsgenossenschaft beschäftigen wir uns mit der Frage, wo wir bei psychischen Belastungen Entlastung anbieten können. Der Fortbildungs- und Supervisionsbereich ist enorm angestiegen. Wir müssen ja nicht nur die aktuelle Situation bewältigen, sondern auch neue Konzepte entwickeln, uns mit Digitalisierung und KI auseinandersetzen. Zudem muss investiert werden, um die Bedingungen für die Mitarbeitenden und die Kinder zu verbessern. Was an Gesprächen, Supervision hinzugekommen ist, können wir in den vorhandenen Räumlichkeiten nicht mehr abbilden. Ich erlebe das nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Einrichtungen. Aber die originäre Betreuung von Kindern und Jugendlichen ist das Wesentliche, auf dass wir uns dann auch zurückziehen.
Pünt: Unter Corona war das kontinuierliche Bearbeiten des Themas schon Teil der Aufarbeitung. Irgendwie sind wir durchgekommen und haben zusammengehalten. Der Zusammenhalt in den Wohngruppen und in den Teams, besser aufeinander zu gucken, noch feinfühliger dafür sein, auch das war ein wichtiger Teil. Das ist auch das, was geblieben ist. Wo wir können, versuchen wir, nah dran zu sein, sensibel zu sein im Kontakt und im Austausch miteinander. Viele kleine Alltagsthemen sind notwendig, um genug Energie für die nächste Krise zu haben.
Kaiser: Das gilt auch für den Führungsstil, niemand kann das alles von den Mitarbeitenden erwarten, ohne gleichzeitig auch etwas anzubieten. Gemeinschaft innerhalb einer Einrichtung muss gefördert werden, damit diese Aufgaben gelingen können.
Welche Lehren ziehen Sie aus der Pandemie für die Kinder- und Jugendhilfe?
Kaiser: Wir müssen uns, das sieht auch unser Verband, der BVkE, deutlicher ins Spiel bringen, auch in der Caritas. Die Gefahr ist, wieder übersehen zu werden. Da braucht es entsprechende Netzwerke. Wir müssen die Lobby für unsere Kinder sein. Auch bei der digitalen Ausstattung müssen wir jetzt ran. Wir brauchen in den Entgeltvereinbarungen oder im Digitalpakt Anteile für die Jugendhilfe. Die Schule stattet unsere Kinder nicht aus. Aber wenn sie kein digitales Gerät haben, sind sie zusätzlich benachteiligt.
Und mit Blick auf die Mitarbeitenden, damit sie genügend Kraft für eine nächste Krise gewinnen?
Kaiser: Wir müssen hingucken und sensibel sein: Wie entwickeln sich die Krankenstände weiter? Was geben die Mitarbeitenden in Personalgesprächen zurück? Wie nutzen wir die zusätzlichen Angebote, die wir im Unterschied zu anderen Organisationen haben, die Regenerationstage in der AVR zum Beispiel? Wir können vor Ort auch mehr Supervision anbieten oder mehr Selbstfürsorge. Da hilft uns, dass die Traumapädagogik für uns ein bekanntes Thema ist. Aber eine Patentlösung gibt es nicht.
Wie hat Corona die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen verändert, was muss dort weiterentwickelt werden?
Kaiser: Es gibt mehr Verantwortungsgemeinschaften. Das ist eine Erfahrung aus der prekären Situation, ob sie jetzt Corona geschuldet ist, den gesellschaftlichen Entwicklungen durch Digitalisierung, Kinderpornografie oder sonstigen. Wir müssen enger zusammenrücken. Wir gehören zur systemrelevanten Infrastruktur. Auch deshalb muss aus dem Infrastrukturprogramm der neuen Bundesregierung ein Teil der Mittel in die Kinder- und Jugendhilfe fließen.