Regenbogenkompetenz stärkt Jugendliche und Fachkräfte
Nach wie vor werden queere Jugendliche auf vielfältige Art und Weise diskriminiert. Fachkräfte in der Jugendarbeit sind gefordert, sichere Räume zu schaffen und alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Das Konzept der Regenbogenkompetenz soll Fachkräfte dabei unterstützen, mit Themen der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung und Vielfalt professionell und diskriminierungssensibel umzugehen.
Die Regenbogenkompetenz, entwickelt von Ulrike Schmauch, Professorin für Methoden Sozialer Arbeit, Mediation, Sexualpädagogik und Praxisreflexion, ist ein Konzept aus der Sozialen Arbeit. Es fokussiert darauf, Handlungsfähigkeit im Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu entwickeln. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund: die Diskriminierung zu reduzieren und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu stärken.
Die Regenbogenkompetenz unterteilt sich in vier Teilkompetenzen:
◆ Sachkompetenz: Hierbei geht es um das Wissen über die unterschiedlichen Lebenslagen, Diskriminierungen und Ressourcen von LSBTIQ* (lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen, queeren) Personen. Dieses Wissen bildet die Basis, um individuelle Bedürfnisse und Herausforderungen besser zu verstehen.
◆ Methodenkompetenz: Sie bezieht sich auf die Handlungsfähigkeit und das Verfahrenswissen im Umgang mit LSBTIQ*-Themen. Hierzu gehört beispielsweise die Anwendung geeigneter pädagogischer Methoden und Maßnahmen, um eine inklusive und unterstützende Umgebung zu schaffen.
◆ Sozialkompetenz: Die Regenbogenkompetenz umfasst insbesondere die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit im Kontext sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Dies beinhaltet die Sensibilität für unterschiedliche Lebensweisen und Identitäten sowie die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur:innen (zum Beispiel Team, Trägern, Eltern, Jugendlichen). Dazu gehört das Einschreiten bei Diskriminierungen und die Berücksichtigung queerer Jugendlicher und Kinder aus Regenbogenfamilien in der alltäglichen Kommunikation.
◆ Selbstkompetenz: Die Fähigkeit zur Reflexion eigener Gefühle, Vorurteile und Werte ist ein entscheidender Aspekt der Regenbogenkompetenz. Es geht darum, das eigene Denken und Handeln kritisch zu hinterfragen, um Vorurteile abzubauen und eine unterstützende Haltung gegenüber LSBTIQ*-Personen zu entwickeln.
Die ganzheitliche Verbindung dieser Teilkompetenzen bildet die Basis für eine qualifizierte und sensible Begleitung von LSBTIQ*-Personen in der Jugendarbeit.
Rechtliche Grundlagen, um Benachteiligungen abzubauen
Die Kinder- und Jugendarbeit soll einen Rahmen dafür schaffen, dass Kinder und Jugendliche sich frei, selbstbestimmt und ohne Angst vor Anfeindungen entfalten können. Fachkräfte haben die Aufgabe, diesen Rahmen zu gestalten und Kinder und Jugendliche professionell zu begleiten. Das SGB VIII benennt im Paragrafen 9 "Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von jungen Menschen" seit 2021 ausdrücklich auch transidente, nichtbinäre und intergeschlechtliche junge Menschen und unterstreicht den Aufruf, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung zu fördern als Ziel der Kinder- und Jugendhilfe. Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 2/19) und dem SGB VIII § 1 haben Fachkräfte den Auftrag, Kinder in ihrer individuellen Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Dies gilt auch für junge LSBTIQ* sowie Kinder in Regenbogenfamilien.
Beim ersten Coming-out oft negative Reaktionen
In der Studie "Coming-out und dann?"1 des Deutschen Jugendinstituts (DJI) berichteten fast 90 Prozent der trans* und drei Viertel der lesbischen, schwulen und bisexuellen Befragten, dass sie die eigene Bewusstwerdung der geschlechtlichen Identität beziehungsweise sexuellen Orientierung als "mittel- bis sehr schwierige Zeit" empfanden. Diese und andere Studien2 zeigen, dass weit über die Hälfte der befragten Teilnehmenden bis zum 17. Lebensjahr wussten, dass sie lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder nichtbinär sind. In ihrem ersten Coming-out erlebten die Befragten oftmals negative Reaktionen in der Familie (45 Prozent), im Freundeskreis (41 Prozent), in der Schule oder am Ausbildungsplatz (40 Prozent). Jede zehnte Person gab an, körperlich angegriffen worden zu sein, jede vierte, zwangsgeoutet zu werden, jede zweite wurde bereits beschimpft und beleidigt.3 All diese Diskriminierungserfahrungen erhöhen die Gefahr, psychisch und/oder körperlich krank zu werden, und tragen zu einem erhöhten Suizidrisiko bei LSBTIQ*-Jugendlichen bei.4
Diskriminierung, Mobbing und Gewalt erfahren Kinder und Jugendliche auch im außerschulischen Bereich, etwa in der Kinder- und Jugendarbeit. Nicht selten fehlt es an Sichtbarkeit und einem diskriminierungsfreien Umgang mit Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt. Kinder und Jugendliche erleben heute jedoch tagtäglich Vielfalt und bringen diese auch mit. In jeder Klasse sitzen statistisch ein bis zwei Kinder, die jetzt oder später nicht cisgeschlechtlich5 beziehungsweise nicht heterosexuell sind.6 Da Kinder und Jugendliche berechtigte Fragen zur gesellschaftlichen Vielfalt haben, ist es wichtig, ihnen altersgerechte Antworten zu ermöglichen. Heterosexualität oder Cisgeschlechtlichkeit als Norm beschränkt Kinder und Jugendliche und begünstigt zudem LSBTIQ*-feindliche Einstellungen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, einen offenen und inklusiven Austausch über geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung zu fördern, um eine positive Entwicklung und ein unterstützendes Umfeld für alle jungen Menschen zu gewährleisten.
Erste Schritte auf dem Weg zur Regenbogenkompetenz
Als erster Schritt auf dem Weg zur Regenbogenkompetenz bietet sich an, die eigene Rolle und das eigene (pädagogische) Handeln zu reflektieren. Dazu gehört zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und mit persönlichen Moralvorstellungen. Zudem gilt es, etwaige Spannungen zwischen eigenen Werten und der professionellen pädagogischen Haltung zu überprüfen. Dabei ist es wichtig, zu überlegen, welche Gefühle das Thema Regenbogenfamilien und allgemeiner das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der eigenen Person auslöst. Diese Teilkompetenz - die Selbstkompetenz - hat in der Regenbogenkompetenz einen besonderen Stellenwert. Denn, so Ulrike Schmauch: "Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn soziale Fachkräfte solche Gefühle und inneren Verbote bei sich wahrnehmen. Es zeugt von mehr beruflicher Eignung, diese Verunsicherung auszuhalten, als sie unter progressiven Floskeln zu verdecken."7
Die Entwicklung der eigenen Regenbogenkompetenz und die Umsetzung von Handlungsempfehlungen sind Prozesse. Es ist nicht notwendig, bereits alles zu wissen und sich in sämtlichen Bereichen auszukennen. Wichtiger ist die Bereitschaft, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln. Fachkräfte müssen nicht über alle relevanten Informationen verfügen, aber es ist hilfreich, zu wissen, wohin verwiesen werden kann. Es muss nicht alles sofort perfekt sein. Es geht darum, schrittweise den eigenen Umgang mit LSBTIQ*-Themen zu verbessern. Ein unaufgeregtes und diskriminierungsarmes Verhalten gegenüber Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in der Jugendarbeit trägt entscheidend dazu bei, das Risiko von psychischen und körperlichen Erkrankungen zu verringern und das Suizidrisiko bei jungen queeren Menschen zu senken. Jede:r kann etwas dazu beitragen.
Handlungsempfehlungen
Was in Einrichtungen getan werden kann
◆ Reflektieren Sie die eigene Rolle und das eigene (pädagogische) Handeln.
◆ Signalisieren Sie Offenheit, Ansprechbarkeit und Interesse im Kontakt.
◆ Thematisieren Sie vielfältige Lebensweisen und Identitäten in der Arbeit.
◆ Schreiten Sie bei abwertenden Äußerungen gegen LSBTIQ* ein und sprechen Sie über diskriminierende Aussagen.
◆ Fördern Sie Sichtbarkeit und Unterstützung im Umfeld der Einrichtung.
◆ Überprüfen Sie das Leitbild und die Konzeption und passen Sie diese an.
◆ Nehmen Sie in den Blick, wie LSBTIQ*-feindliche Einstellungen mit anderen Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus, Adultismus und Klassismus verschränkt sind.
◆ Gehen Sie in den regelmäßigen Austausch mit lokalen/regionalen LSBTIQ*-Beratungsstellen.
◆ Bilden Sie sich im Team und im Selbststudium weiter.
◆ Jeder Schritt ist ein Fortschritt. Fangen Sie an, machen Sie den ersten Schritt.
1. Krell, C.; Oldemeier, K.: Coming-out - und dann ...?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 2015. Online verfügbar unter Kurzlink: https://is.gd/Us6PAk
2. Timmermanns, S.; Graf, N.; Merz, S.; Stöver, H.: "Wie geht’s euch?" Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*. Weinheim: Beltz Juventa, 2021.
3. Oldemeier, K.: Coming-out mit Hürden. 2018. Online verfügbar unter Kurzlink: https://is.gd/5FYTO3
4. DIW/Universität Bielefeld: Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen. DIW-Wochenbericht 6/2021, S. 80-88, online verfügbar unter Kurzlink: https://is.gd/6N7WYm
5. Cisgeschlechtliche Menschen sind Menschen, die in dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht leben beziehungsweise sich damit wohlfühlen und identifizieren. Cisgeschlechtlichkeit gilt in unserer Gesellschaft als Norm, mit der Folge, dass trans*- oder intergeschlechtliche Menschen oftmals als "anders" markiert, tabuisiert, abgewertet, diskriminiert oder gar angegriffen werden.
6. Eine repräsentative Befragung von YouGov (2021) kam zu dem Ergebnis, dass sich sieben Prozent der in Deutschland lebenden Menschen als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* identifizieren. Online verfügbar unter Kurzlink: https://is.gd/E11sU5
Laut dem LGBT+ Pride 2021 Global Survey identifizieren sich hingegen drei Prozent als trans* und elf Prozent als nicht-heterosexuell. Online verfügbar unter Kurzlink: https://is.gd/loNReA
7. Schmauch, U.: Regenbogenkompetenz in der Sozialen Arbeit. In: Timmermanns, S.; Böhm, M. (Hrsg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim: Beltz Juventa, 2020, S. 318.