Das Ehrenamt hat seinen eigenen Wert
Als der Sohn sich im Jahr 2015 das Leben nahm, war er 20 Jahre alt. Keine Depression, keine Krankheit ging dem Suizid voraus. "Das alles war bei ihm nicht. Er war ein lebenslustiger Mensch", sagt Achim Ritter, der Vater, mit ruhiger Stimme. "Es war wie eine Kurzschlussreaktion, aufgrund einer Krise mit seiner Freundin." Für die Eltern war das ein Schock. Eine Wunde, die blieb.
Zwei Jahre später suchten sie sich Hilfe und meldeten sich zu einer Trauergruppe beim Arbeitskreis Leben (AKL) in Freiburg an. "Wir haben es als wohltuend empfunden, dass man sich als Betroffene austauschen, über Suizid und die ganze Situation sprechen kann", erzählt Achim Ritter. Das Konzept und die offene Art, wie die Haupt- und Ehrenamtlichen dort mit dem Thema umgingen, haben ihn sehr angesprochen. Heute arbeitet der 65-Jährige selbst als Ehrenamtlicher beim AK Leben. Zusammen mit einer hauptamtlichen Mitarbeiterin leitet er eine Trauergruppe. Außerdem ist er als Krisenbegleiter für Menschen da, die wie er selbst einen Angehörigen durch Suizid verloren haben.
Neben vier in Teilzeit beschäftigten Hauptamtlichen engagieren sich 23 Ehrenamtliche in der Hinterbliebenenarbeit. Sie begleiten wie Achim Ritter Menschen in Krisen nach dem Freitod von Partner, Kind oder Geschwister. Im Jahr 2022 waren es 55 Hinterbliebene. Die ehrenamtliche Arbeit zeichnet sich hier dadurch aus, dass einige Freiwillige selbst einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben. "Allein wenn die Klienten wissen: Da sitzt jemand, der das auch durchgemacht hat, und sie sehen, dass man solche Krisen überleben kann, ist das hilfreich", sagt Ritter. Voraussetzung für diese Tätigkeit: "Man muss stabil sein", erklärt Sozialarbeiterin Solveig Rebholz. Zum Auswahlverfahren gehört ein längeres Gespräch mit ihr oder ihren Kolleg:innen. "Darüber hinaus bitten wir die Interessierten, einen ausführlichen Fragebogen auszufüllen", erklärt die 43-Jährige.
Die angehenden Krisenbegleiter lernen aus Theorie und Praxis
Wer sich im AK Leben engagieren möchte, durchläuft eine Ausbildung zum Krisenbegleiter. Sie wird alle zwei bis drei Jahre angeboten und dauert ein halbes Jahr. Alle zwei Wochen treffen sich acht bis zehn angehende Ehrenamtliche für einen Abend, um aus Theorie und Praxis zu lernen. Auch ein Intensivwochenende gehört dazu. Fachliche Grundlagen werden vermittelt, aber viel dreht sich auch um persönliche Fragen: "Was hat ihnen in Krisen geholfen, was hätten sie persönlich gebraucht?", erläutert die Sozialarbeiterin. Wichtig sei, dass die Gruppe gut zusammenwachse. "Es soll ein Vertrauensverhältnis entstehen, weil wir uns weiterhin regelmäßig zu Fallbesprechungen treffen."
Schon seit 50 Jahren hat Margret Krüger mit dem Tod zu tun
Achim Ritter fand den Weg zur ehrenamtlichen Arbeit über die eigene schicksalhafte Erfahrung. Margret Krüger dagegen hat schon seit 50 Jahren mit dem Tod zu tun. "In meinem früheren Beruf als Bestatterin sind mir viele Hinterbliebene nach Suizid begegnet. Da habe ich gespürt, wie groß der Bedarf an Hilfe ist", berichtet die 75-Jährige. Doch die Begleitung verzweifelter Angehöriger konnte sie in ihrer Profession nicht leisten. Deshalb hat sie schon damals Hinterbliebene an den AKL verwiesen. Im Jahr 2014 dann, nach Renteneintritt, absolvierte sie selbst die Ausbildung zur Krisenbegleiterin. "Es ist mir sehr wichtig, den Hinterbliebenen ohne jeden Druck Zeit zu geben. Das ist das, was sie brauchen."
Achim Ritter und Margret Krüger trafen sich schon vor Jahren beim AKL. Krüger leitete damals die offene Trauergruppe, an der er und seine Ehefrau teilnahmen. Dass sie sich gut kennen und schätzen, ist deutlich zu spüren. Zwischen den Ehrenamtlichen entstehen oft enge Verbindungen, finden doch nach der Ausbildung alle zwei Wochen Supervisionsabende statt. An diesen nehmen alle Krisenbegleiter teil, unabhängig davon, ob sie gerade jemanden beraten oder nicht. "Es ist wichtig, dass alle kommen, denn die Gruppe berät sich untereinander", erklärt Solveig Rebholz das Prinzip. "Es geht nicht nur darum, dass ich mein Fachwissen einbringen kann. Die anderen haben die Lebenserfahrung, mehr als ich. Das alles zusammen ist äußerst wertvoll für die Fallbesprechungen."
Die meisten der Freiwilligen in der Hinterbliebenenarbeit sind schon jahrelang dabei. So wie Ritter und Krüger sind sie auch älter. "Viele unserer Ehrenamtlichen sind 60 plus", sagt Solveig Rebholz. Denn sie bringen die Zeit mit. "Als ich noch gearbeitet habe, hätte ich das nicht machen können", bestätigt auch Ritter. Zu aufwendig und intensiv sei diese Arbeit nebenbei, so der ehemalige pädagogische Leiter eines Sonderschulheims. Eigentlich wollte er nach der Rente nicht mehr therapeutisch arbeiten. Bäume schneiden, in der Natur sein, das war seine Vorstellung. Doch nach dem Suizid seines Sohnes war alles anders.
"Es kann sich aus den tiefsten Tiefen etwas zum Guten wenden"
Die Freiwilligen, die sich beim AK Leben engagieren, haben einen Zugang zum Thema Sterben und Tod. "Es befriedigt, wenn man Menschen durch eine Krise begleiten kann und sieht: Es wird wieder gut", erzählt Margret Krüger. Sie denkt an eine Klientin, die nach einer sehr unglücklichen Ehe und dem Freitod ihres Mannes viele Jahre später wieder eine Beziehung gewagt hat: "Wenn ich sehe, wie sie wieder ins Leben zurückgefunden hat und wie nun ihr ehemals schmerzvolles Gesicht wieder strahlt: Das freut mich sehr und gibt Kraft." Denn in diesen Begegnungen spiegelt sich das Leben selbst. "Es macht demütig und stärkt einen in eigenen Lebenskrisen. Ich weiß, es gibt nichts, was es nicht gibt, und ich weiß, dass sich etwas ändern kann. Das habe ich bei dieser Arbeit erfahren. Es kann sich wirklich aus den tiefsten Tiefen etwas zum Guten wenden", sagt Krüger.
Viele Hinterbliebene stellen die Frage nach dem Sinn
Der Suizid eines Angehörigen löse bei vielen Menschen eine tiefe Krise aus, so Ritter, der oft feststellt, dass sich bereits lange zuvor Probleme angebahnt haben: Lebenskonflikte, Schwierigkeiten in der Ehe oder im Beruf. "Dann ist der Suizid des Angehörigen wie ein Auslöser für den Klienten. Das, was das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn man tiefer gräbt, merkt man, dass damit eine Art Retraumatisierung stattfindet." Viele Hinterbliebene stellen da die Frage nach dem Sinn. "Hier kommen wir auch in spirituelle Dimensionen. Woher kommen wir, was machen wir hier und wie geht es weiter, wenn wir den Körper abgelegt haben? Das sind bereichernde Gespräche für beide Seiten, weil die Betroffenen sehr offen sind", berichtet Ritter.
Vieles dreht sich um diese existenziellen Fragen. Das ist es, was die Ehrenamtlichen schon so lange bei dieser Arbeit hält, meint Solveig Rebholz. Auch ihr gehe es so. Dem AK Leben ist sie schon lange verbunden, seit 2009 ist sie dort fest angestellt, nach jahrelanger ehrenamtlicher Mitarbeit. "Das Arbeitsfeld ist so vielschichtig. Viele Themen kommen hier zusammen, die man mit anschauen darf." Auch wenn es schwer sei, solche Lebenssituationen zu begleiten: "Ich sehe das oft als Geschenk." Dass Menschen an den Rand ihrer Existenz geraten, geschieht häufiger, als es scheint. Rund 10.000 Suizide gab es in Deutschland im letzten Jahr. "Es sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Drogen, Unfälle oder HIV-Infektionen zusammengenommen", sagt die Sozialarbeiterin.
Die Angehörigen werden oft von Schuldgefühlen gequält
Die Angehörigen bleiben verzweifelt zurück: mit Schuldgefühlen, weil sie es nicht verhindern konnten, mit Wut, dass der andere einfach so gegangen ist. Mit der Enttäuschung, wenn Freunde sich mit der Zeit abwenden, weil sie es nicht mehr hören können. Und natürlich mit der Trauer. "Manche der Klienten haben vorher an normalen Trauergruppen teilgenommen. Doch das verursacht oft noch mehr Schmerz, denn nach Suizid kommt dieses tiefe Schuldgefühl hinzu", sagt Krüger. Umso wichtiger, dass es Menschen gibt, die anderen Menschen zuhören, sie auffangen, mit ihnen lachen und mitfühlen können. Die Hauptamtlichen allein könnten das nicht leisten. "Doch warum gibt es nicht einfach mehr Hauptamtliche?", fragt Achim Ritter - und antwortet gleich selbst: "Weil sie zu teuer sind." Er sehe das grundsätzlich kritisch, wenn professionelle Arbeit aus finanziellen Gründen mit Freiwilligen sozusagen aufgefüttert werde. Im AKL jedoch ist die ehrenamtliche Arbeit Teil des Konzepts: "Menschen in Krisen brauchen ein Gegenüber, das zuhört, das offen ist, das die Menschen annimmt, so wie sie sind, und das sich auch als Mensch anbietet", erklärt Rebholz. "Das Ehrenamt hat seinen eigenen Wert."
Wertschätzung ist unverzichtbar
Deshalb gehört für sie als hauptamtliche Mitarbeiterin unbedingt dazu, Wertschätzung auszudrücken: "Das sehe ich als meine Aufgabe." Ihre Freiwilligen bekommen kein Entgelt. Ganz wichtig und selbstverständlich sei es daher, dass wenigstens Kaffee und Kekse dastehen, dass sie ein Sommerfest, eine Adventsfeier als Dankeschön organisieren. An ihren Ehrenamtlichen schätzt sie ihre Verlässlichkeit, Offenheit und Kontinuität. "Das müssen wir ihnen immer wieder sagen und unsere Wertschätzung auch auf andere Weise ausdrücken."
Margret Krüger und Achim Ritter fühlen sich in ihrer freiwilligen Arbeit anerkannt. Bei Problemen finden sie immer eine Ansprechpartnerin. Doch mehr professionelle Mitarbeiter:innen könnten es schon sein, findet die Rentnerin. "Es klappt nur deshalb so gut, weil unsere Hauptamtlichen so engagiert sind." Die beiden Freiwilligen schätzen, dass sie von Rebholz und ihren Kolleg:innen begleitet, aber nicht bevormundet werden, dass sie mit ihren Kompetenzen und ihrer Lebenserfahrung gefragt sind. Und sie freuen sich über den Optimismus, der bei all der Schwere bei allen Beteiligten immer wieder durchscheint.
www.akl-freiburg.de
[U25] - Jugendliche helfen Jugendlichen Junge Menschen mit Suizidgedanken scheuen sich oft, eine Beratung aufzusuchen. Daher hat der Freiburger AK Leben das Online-Präventionsprojekt [U25] entwickelt. 28 geschulte Ehrenamtliche im Alter von 16 bis 25 Jahren begleiten Gleichaltrige per Mail. Sie werden von zwei Fachkräften unterstützt. Das vom Deutschen Caritasverband getragene Projekt hat zehn Standorte. www.u25.de #dubistmirwichtig Zeit und Empathie bringen die Ehrenamtlichen mit.