Forschen im Dienst des Viertels
Am Anfang stand eine Idee im Caritasverband Witten: die Gemeinwesenarbeit im alten katholischen Marienviertel von Witten zu fördern, einem Viertel, das zwar längst nicht mehr katholisch dominiert ist, das aber noch immer vom Zuzug von benachteiligten Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen geprägt ist. Waren es früher arme zugezogene Katholiken in einem überwiegend evangelischen Umfeld, sind es nun häufig muslimische Zuwanderer, die Mühe haben, in der Gesellschaft anzukommen und Fuß zu fassen.
"Die Stadt hat mit einem Sozial-Index ermittelt, dass hier einerseits die meisten älteren und hochaltrigen Menschen leben, andererseits sehr viele Familien mit kleinen Kindern", erklärt Rolf Kappel vom Caritasverband Witten. Gemeinsam mit Rim Alabdallah, einer 53-jährigen Religionswissenschaftlerin aus Syrien, die im Marienviertel lebt, managt der 69-jährige Sozialarbeiter ein zweijähriges Projekt, in dem örtliche, vor allem weibliche "Stadteilforscher" mehr über ihr Viertel herausfinden wollen, und das auf wissenschaftlicher Grundlage. Dafür schiebt Rolf Kappel auch seinen Ruhestand noch etwas auf.
Ein großes Anliegen des Projekts ist dabei die Förderung der Gesundheit im Marienviertel, um die es gerade bei armutsbetroffenen Menschen oft nicht gut stehe. Als Rolf Kappel auf das Stadtteillabor in Bochum-Hustadt aufmerksam wurde, einem Viertel mit dem höchsten Index-Wert für gesundheitliche Herausforderungen, nahm er gleich Kontakt auf mit der Gründerin des Projektes, Christiane Falge, Professorin für Gesundheit und Diversity an der Bochumer Hochschule für Gesundheit. "Oje, dachte ich", berichtet die Sozialanthropologin in der Rückschau schmunzelnd. "Da kommt ein Praktiker und will mal eben unseren komplexen wissenschaftlichen Ansatz im Alleingang in die Praxis umsetzen." Wie ihr sehr zeitaufwendiger Ansatz in einem weiteren Stadtteil umgesetzt werden sollte, sei ihr zunächst nicht klar gewesen. Doch nach gemeinsamer Suche fand sich dann ein Weg. Mit finanzieller Unterstützung des Sonderfonds für spezifisch armutsorientierte Dienste in der Caritas im Erzbistum Paderborn, dem "Armutsfonds", schulte Falge zehn ausgewählte Bewohner aus dem Marienviertel im Tandem mit Studierenden der Hochschule für Gesundheit zu "Stadtteilforscherinnen" in qualitativen Forschungsmethoden. Dabei wurden Ängste abgebaut, buchstäblich nach einer gemeinsamen Sprache gesucht und Vertrauen aufgebaut.
"Die Stadtteilforscherinnen haben dann auf Augenhöhe mit Studierenden und Wissenschaftlerinnen geforscht", erklärt Rolf Kappel. Ausgangspunkt war die schlichte Frage: "Wie geht es Ihnen eigentlich hier im Marienviertel?" In einer ersten Welle wurden 19 im Marienviertel lebende Menschen aus sieben Nationen ausführlich befragt. Erste Ergebnisse wurden bei einer Zukunftswerkstatt im vergangenen Herbst in Witten mit immerhin 57 Mitwirkenden diskutiert. Ergebnisse waren zum Beispiel, dass die meisten eigentlich gern im Marienviertel leben. Aber je mehr es ins Detail ging, um so kritischer wurde die Situation bewertet: So macht der Lutherpark manchen Frauen Angst, besonders am Abend. Orte zum Treffen mit erschwinglichen Preisen sind Mangelware - es fehlt aber auch die Kenntnis über die durchaus vorhandenen schönen Ecken im Viertel. Vielen geht es finanziell schlecht, Hilfsangebote sind nur zum Teil bekannt, der Ärger über bürokratische Formulare groß. Beim Thema Verständigung besteht dringender Unterstützungsbedarf vor allem für Mütter und Alleinerziehende. Dank der Förderung durch den Armutsfond der Caritas kann dies nun genauer in den Blick genommen werden.
Erlebter Rassismus
Die Befragungen seien aber kein Selbstzweck, sagt Rolf Kappel. "Sie sollen helfen, etwas zu verbessern." So gab es im vergangenen Jahr bereits eine gemeinsame Begehung des Lutherparks - zusammen mit der Polizei, dem Kinderschutzbund und der Frauenberatung. Zudem entstand neu eine "Spaziergangsgruppe", weil das Fehlen kleinerer Bewegungsangebote für Senioren bemängelt wurde. Auch der Wunsch vieler zugezogener Frauen nach einem Frauentreff wurde erfüllt: Der Treffpunkt "Hallo Abla" (Hallo Schwester) startete mit einem gemeinsamen Frühstück. "Dies ist für auch für die Gemeinde-Caritas interessant", erklärt Rolf Kappel, "weil ja auch in Witten viele herkömmliche Treffs und Vereinsstrukturen ihr Leben aushauchen, während gleichzeitig solch neue Angebote entstehen können, wenn wir die Bedarfe dank des Projektes genau kennen.
Inzwischen liegen Prof. Dr. Christiane Falge auch weitere Ergebnisse der Befragungen vor. Und die machen nachdenklich: So wurde als ein Hauptproblem für das Wohlbefinden der Befragten der immer wieder erlebte Rassismus benannt. Berichtet wurde von verbalen Angriffen und teils dramatischen Folgen für die eigene Persönlichkeit. So schilderte ein 26-Jähriger aus Indien, dass er, als er in Deutschland ankam, noch freundlich gewesen sei und jeden begrüßt habe. Doch nachdem er immer wieder ignoriert und wie unsichtbar behandelt worden sei, mache er das nicht mehr und gehe auf der Straße einfach an den Menschen vorbei.
Als ein weiteres großes Problem wurde die Bürokratie in Deutschland benannt und das Bedürfnis nach Beratung. Vor allem auch die mangelnde Verständlichkeit macht den meisten Befragten zu schaffen, auch die fehlende Mehrsprachigkeit. "Dass im System keine Dolmetscher vorgesehen sind, ist ein großes Problem", sagt Prof. Dr. Christiane Falge. Und Deutsch zu lernen, sei für viele schwierig, weil sie sozial isoliert leben und keinen Kontakt zu Deutschen finden, obwohl großes Interesse daran bestehe. Eine konkrete Maßnahme als Reaktion auf dieses Problem sei aber schon angestoßen worden, berichtet Rolf Kappel. So wurde in einer örtlichen Grundschule ein Sprachkurs für Eltern angeboten. 15 Mütter seien zu einem ersten Treffen zusammengekommen, die teilweise bereits existierenden Sprachkursen zugeordnet werden konnten. "Die Schulleiterin war begeistert", sagt Rolf Kappel.
Für die älteren Befragten sind die Themen Altersarmut und Einsamkeit im Alter dominierend. So ist die Mehrheit der Befragten entweder selbst einsam oder kennt einsame Menschen in der Nachbarschaft. "Witten hat keine Seele", kritisierte ein Befragter bitter. "Man ist schon eher alleine für sich", sagte eine andere. Einsamkeit gebe es sowohl bei den alteingesessenen Deutschen, als auch bei den Zugezogenen, erklärt Christiane Falge. Beide Seiten zusammenzubringen, könne eine Win-Win-Situation schaffen. "Viele vereinsamte Deutsche sind dankbar für einen Kontakt zu netten Migrantinnen und Migranten."
Im Mai dieses Jahres startete eine weitere Welle von Befragungen. 15 Stadtteilforscher sowie Studierende sind dafür im Marienviertel unterwegs und führen die Interviews in verschiedenen Sprachen. So kann die Sprachbarriere überwunden werden. Und die Rolle als Stadtteilforscherin stärkt das Selbstvertrauen der involvierten Frauen, erklärt Falge, hat zwei von ihnen sogar geholfen eine Arbeitsstelle zu finden - ein unerwarteter positiver Nebeneffekt. Das Projekt hat jedenfalls großes Potential, Veränderungen anzustoßen. Es könnte ein Modell sein für viele weitere von Armut betroffene Nachbarschaften, ist sich die Sozialanthropologin sicher. Sie ist deshalb bereits Teil eines europaweiten wissenschaftlichen Netzwerkes, das diesen Ansatz weiter entwickeln möchte. Ende des Jahres soll das Ergebnis einer weiteren Zukunftswerkstatt in Witten auch der Politik vorgestellt werden. "Dann gilt es, aus den Ergebnissen weitere Angebote zu entwickeln", sagt Christiane Falge. Von dem Projekt profitiere auch die Caritas Witten immens, ist sie überzeugt. "Dadurch werden viele Menschen erreicht, die als ‚schwer erreichbar‘ gelten. Das ist ein riesengroßer Beitrag der Caritas!"