Ein Dorf, das zeigt, wie die Energiewende gelingen kann
Das 2600-Einwohner-Dorf Wildpoldsried liegt in einem Meer aus grünen Wiesen, umgeben von bewaldeten Hügeln. Auf den ersten Blick gleicht das Dorf vielen anderen Allgäuer Kommunen. Das kleine Wildpoldsried ist jedoch weltweit bekannt - als Energiedorf, dessen Bürgerinnen und Bürger die Energieversorgung in die eigene Hand genommen haben.
So pilgern immer neue Delegationen ins Allgäu. Sie wollen wissen, wie es der Gemeinde gelungen ist, dass sie heute achtmal mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt, als sie selbst benötigt - und rund 60 Prozent des eigenen Wärmebedarfs abdecken kann.
Bis zu 140 Besuchergruppen im Jahr begrüßt Günter Mögele. Der Zweite Bürgermeister der Kommune begleitet sie durch die Gemeinde, fährt mit ihnen die wichtigsten Standorte ab und beantwortet auch die detaillierteste Frage. Von einem Hügel blicken die Besucherinnen und Besucher auf mit Photovoltaik (PV)-Modulen bedeckte Dächer. Oben auf dem östlichen Höhenzug drehen sich elf Windräder in unterschiedlichen Höhen. Für acht weitere habe es noch Platz, erklärt Günter Mögele.
Die Windräder gehören den Bürgern im Dorf
Finanziert hat die bestehenden Anlagen kein anonymer Investor. Vielmehr sind 400 der 750 Haushalte im Dorf an den Anlagen beteiligt. "Das sind unsere eigenen Windräder", sagt Mögele. Diese Beteiligung der Bürger:innen - erst in Form von Informationen, dann finanziell - war und ist für ihn der Schlüssel zum Erfolg.
Abzusehen war diese Entwicklung nicht. Gemeinderatsmitglied Mögele macht keinen Hehl daraus, dass es anfangs nicht einfach war, die Einwohner:innen für die Energiewende zu begeistern. Der Strom kam auch in Wildpoldsried aus der Steckdose, die Wärme aus dem eigenen, mit Öl betriebenen Heizungskeller.
Doch in dem kleinen Ort gab es einige Pioniere, die ihre Utopien unabhängig von der Mehrheitsmeinung verfolgten und damit den Unterschied ausmachten. Einer davon lebt vier Kilometer nordöstlich des Dorfes. Die kleine geteerte Straße geht an saftigen Wiesen vorbei und an Dächern, vollgepflastert mit PV-Modulen. Wendelin Einsiedler betreibt mit seinem Bruder einen Hof mit 130 Rindern. Während der Bruder das Vieh betreut, kümmert sich der 67-Jährige um seine zahlreichen Energieprojekte. "Aus Kuhscheiße Energie zu gewinnen war für mich immer schon eine reizvolle Idee", sagt er mit einem Augenzwinkern.
Wendelin Einsiedler hat einfach losgelegt
Mit 28 Kilowatt (kW) Leistung hat Wendelin Einsiedler angefangen. Heute liegt die Spitzenlast seiner Biogasanlage bei 2400 kW. Gerade erst hat er die Haube seines Gasspeichers vergrößert, um mehr Biogas speichern zu können. Er hat eine Gasleitung ins Dorf gelegt, wo insgesamt neun Blockheizkraftwerke mit seinem Gas Wärme und Strom produzieren. "Mit meiner Biogasanlage spare ich rund eine Million Liter Heizöl pro Jahr", sagt er. Auch hat er einen Weg gefunden, die Nitratbelastung durch die eigene Gülle inklusive der Entsorgungskosten aus der Welt zu schaffen. Dafür hat er eine Anlage gezimmert, die Gülle unter Vakuum erhitzt und zu Ammoniumsulfat verwandelt, das als Dünger begehrt ist.
Wendelin Einsiedler beweist, dass Umwelt- beziehungsweise Klimaschutz und Geschäftssinn keinen Gegensatz bilden müssen. Wo andere über Schwierigkeiten und Probleme reden, sieht er eine technische Herausforderung. Für ihn ist die Energiewende ein Fest, auf dem er auch mit 67 Jahren tanzen will.
"Er hat damals einfach losgelegt, die Biogasanlage errichtet und in zwei Windräder investiert", sagt Günter Mögele. Seine technische Expertise und seine Lust, neue Wege zu gehen, legten die technische Grundlage für den Wandel. Im damaligen Bürgermeister Arno Zengerle und seinem Stellvertreter Günter Mögele fand Einsiedler kongeniale Mitstreiter. Arno Zengerle unterstützte die Vision einer kommunalen Energiewende aktiv und bereitete ihr den Weg, indem er kommunale Gebäude mit PV ausstattete, für Blockheizkraftwerke und andere Projekte die Zustimmung des Gemeinderates organisierte und das Motto der Gemeinde "WIR - Wildpoldsried - Innovativ - Richtungsweisend" vorantrieb.
"Wenn man Bürgerinnen und Bürger überzeugen will, muss man als Kommune vorangehen und ein Beispiel geben", sagt der Zweite Bürgermeister. Heute muss er in Wildpoldsried niemanden mehr überzeugen. Die vielen Leuchtturmprojekte in Zeiten der Energiekrise sprechen für sich.
Der Strommarkt der Zukunft
Der Vorsprung bei der Energiewende zieht nicht nur Besuchergruppen an. Auch für Forschungsinstitute und Energieunternehmen ist die Entwicklung interessant. Im Energiecampus Wildpoldsried mit seinen vier weißen Containern setzten unterschiedliche Konsortien drei Forschungsprojekte um. Im letzten, 2019 abgeschlossenen Pebbles-Projekt ("Peer-to-Peer-Energiehandel auf Basis von Blockchains") beschäftigten sich das Fraunhofer-Institut, Siemens und drei weitere Partner mit dem Energiehandel der Zukunft sowie möglichen Geschäftsmodellen auf Blockchainbasis. Schließlich wird der Energiemarkt unübersichtlicher werden, weil auch Bürger künftig gleichzeitig Energie produzieren, verbrauchen und speichern werden.
Mit Speicherlösungen beschäftigt sich auch die in Wildpoldsried ansässige Firma Sonnen. Das 2010 gegründete Unternehmen - heute gehört es zum Shell-Konzern - entwickelt und produziert Batteriespeicher für Haushalte und Kleinbetriebe. Allein in Wildpoldsried beschäftigt der deutsche Marktführer 500 Mitarbeitende, weltweit sind es inzwischen 1500.
Die Unternehmensgründer Christoph Ostermann und Torsten Stiefenhofer sind in Wildpoldsried groß geworden. Wie Biogasbauer Wendelin Einsiedler haben sie einfach losgelegt. Insofern scheint Wildpoldsried für Pioniere der Energiewende eine inspirierende Umgebung zu sein. Jedenfalls beschäftigen sie sich hier weniger mit dem, was nicht geht. Und entwickeln Lösungen für eine Energieversorgung mit Zukunft.