Soziale Arbeit im digitalen Wandel
Nutzen Sie regelmäßig Suchmaschinen, um nach Informationen zu suchen? Buchen Sie ihre Flugreise oder das Hotel über das Internet? Mögen Sie es, online zu shoppen? Lassen Sie sich von Navigationssystemen auf dem Weg in einer fremden Stadt leiten? Dann gehören Sie zu den 81 Prozent der Onliner in Deutschland1, also der Menschen, die das Internet zumindest ab und zu nutzen.
Wie intensiv die Internetnutzung ist, hängt vom Lebensalter ab. Die Gruppe der 14- bis 29-Jährigen nutzte das Internet 2017 zu 99 Prozent, die 30- bis 49-Jährigen zu 96 Prozent, die 50- bis 64-Jährigen zu 85 Prozent und immerhin noch 48 Prozent der über 65-Jährigen.2 Mehr als 60 Prozent der Gesamtbevölkerung können sich ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellen.3 Diese Zahlen belegen eindrücklich den digitalen Wandel in der Gesellschaft. Die Begriffe Digitalisierung, digitale Transformation oder digitaler Wandel bezeichnen eine Entwicklung, die alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft4: die Arbeitswelt, das Konsum- und Freizeitverhalten, den sozialen Austausch und das Kommunikationsverhalten. Ausgehend von der technischen Möglichkeit, analoge Produkte wie Bücher, Filme, Schallplatten, Bilder und so weiter in das von Computern verarbeitbare binäre System mit den Zahlen 0 und 1 umzuwandeln5, umfasst der digitale Wandel heute „eine Kombination mehrerer Technologien und Klassen von Anwendungssystemen“6. Neben dem Internet und dessen mobiler Nutzung durch benutzerfreundliche Angebote wie Smartphones oder Tablet-Computer gehören dazu auch die sozialen Medien (Facebook, Twitter und Co.), neue softwaregestützte Analysemethoden (Big Data) und nicht zuletzt auch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI).
Veränderung aller Lebensbereiche
All diese Veränderungen betreffen auch die freie Wohlfahrtspflege. So schreibt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW): „Die Digitalisierung führt in allen Lebensbereichen zu tiefgreifenden Veränderungen; (…) Digitale Teilhabe wird elementare Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe. Die digitale Transformation erfordert Anpassungsleistungen in allen Lebensbereichen; sie kann nur gelingen, wenn die Richtung der Entwicklungsdynamik als gestaltbar erlebt wird und unterschiedliche Geschwindigkeiten nicht zu uneinholbaren Vorsprüngen kleiner digitaler Eliten führen.“7 Verbände müssen „ihre Kommunikationswege, Angebotsformen und Arbeitsweisen überprüfen und sie konsequent aus der Nutzer(innen)perspektive einer hybriden analog/digitalen sozialen Welt entwickeln“.8
Was aber heißt das ganz konkret? Wie zeigen sich digitale Veränderungen in der Altenhilfe und der Behindertenhilfe, in Krankenhäusern, in Kindertagesstätten und in der Beratung? Welche Anforderungen stellt der digitale Wandel an die Kompetenzen von Erzieherinnen oder Pflegekräften? Wie werden zukünftig Rat- und Hilfesuchende erreicht, wenn die Angebote von Hilfe-Plattformen immer selbstverständlicher genutzt werden? Was heißt das für das Selbstverständnis in der sozialen Arbeit, die von der Begegnung zwischen Menschen lebt?
Die Transformation mitgestalten
Mit diesen Fragen will sich die Caritas-Kampagne „Sozial braucht digital“ auseinandersetzen. Sie ist Einladung und Aufforderung zugleich, innerhalb der Caritas-Landschaft, aber auch mit der Politik, mit Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Ausbildungsstätten, anderen Verbänden und Organisationen Lösungen zu entwickeln, die den digitalen Wandel konstruktiv gestalten im Sinne der Menschen, die Hilfe und Unterstützung suchen. Wie wichtig es ist, dass die Anbieter sozialer Dienste diese Transformation mitgestalten, zeigt der Artikel eines Magazins für digitale Themen. Unter der Überschrift „Ungewöhnliche Zielgruppe: So hilft KI Senioren und Menschen mit Behinderung“9 wird auf digitale Unterstützung für Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten hingewiesen. Dass diese Gruppen keineswegs „ungewöhnlich“ sind, sondern gerade hier digitale Entwicklungen wichtig sind, belegt unter anderem das Projekt des Bundesverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. (CBP) „Ambient Assisted Living-Modelle zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung“, das 2017 abgeschlossen wurde. Dabei wurde deutlich, dass nach wie vor „die systematische Erschließung technischer Entwicklung für Menschen mit Behinderung“10 fehlt und es besser gelingen muss, „die rasanten technischen Entwicklungen für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung zur Verfügung zu stellen“.11
Auch die Möglichkeiten von KI werden in der Caritas ausgelotet. In Pflegeeinrichtungen in Köln wird aktuell Pepper getestet, ein 1,20 Meter großer Roboter, der hören, sehen, sprechen und Emotionen erkennen kann. Entwickelt von der Uni Siegen und der FH Kiel soll und können Roboter wie Pepper Pflegefachkräfte nicht ersetzen, aber sie können zu deren Entlastung beitragen.12 „Denn da, wo Pepper im Einsatz ist, bleibt Mitarbeitenden im Idealfall mehr Zeit für menschliche Zuwendung.“13
Service-Robotik und Künstliche Intelligenz nutzen
Den Einsatz von Assistenzrobotern erprobt auch der DiCV München. Technologieexperten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie Pflege- und Bildungsexperten des Caritasverbands für München und Oberbayern arbeiten an Servicerobotik für Menschen in Lebenssituationen mit Einschränkungen. EDAN und Justin heißen die beiden Roboter des Projekts SMiLE, die zukünftig pflegebedürftige Personen und Menschen mit Behinderung im Alltag unterstützen sollen.14
Der Einsatz künstlicher Intelligenz ist nur ein Baustein des digitalen Wandels. Mit Blick auf selbstbestimmte Teilhabe auch in der digitalen Welt ist es zwingend notwendig, Menschen für den Umgang mit diesen neuen Formaten zu befähigen. Dass dies bereits im frühen Kindesalter geübt werden muss, zeigt das Bremer Programm „Medien-Kids“. Kern des Programms sind unter anderem die medienpädagogische Fortbildung, das Coaching der pädagogischen Fachkräfte und die Einbindung der Eltern.15 Längst geht es nicht mehr darum, ab wann der Umgang mit neuen Medien für Kinder sinnvoll ist, sondern wie er so gestaltet werden kann, „dass sie zu kompetenten und kritischen Nutzern heranwachsen“16. Die Anforderung an die Kita in der digitalen Welt und damit an die pädagogischen Fachkräfte lautet, Kinder darin zu stärken, „Kompetenzen im Umgang mit digitaler Technik zu erwerben und gleichzeitig pädagogische Konzepte zu entwickeln, um dem Missbrauch der Medien und den damit verbundenen Gefahren vorzubeugen“.17
Digitale Kompetenz wird analog aufgebaut
Dass die Kompetenz-Entwicklung im Umgang mit digitaler Technik nie losgelöst von der analogen Welt geschehen kann, ist selbstverständlich. So wird die Fähigkeit, eine kritische Distanz zu Medien und ihren Inhalten zu entwickeln und selbstbewusst und ich-stark aufzutreten in der analogen Welt, entwickelt mittels Gesprächen, Rollenspielen und in der Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglichen Welt.18 Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte und erfordert von Kita-Trägern, „zum didaktischen Empowerment in die digitale Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden zu investieren“.19
Wie beim digitalen Wandel analoge und digitale Welt ineinandergreifen, zeigt eindrücklich die Online-Beratung der Caritas. Seit 2006 finden Ratsuchende hier Hilfe unabhängig von Zeit und Ort. Diese Form der Beratung erfordert angesichts rasanter technischer Veränderungen eine Weiterentwicklung der bestehenden Plattform, um auch künftig nutzerfreundlich Beratung anzubieten. Online-Beratung verbindet die schnelle Hilfe im Netz mit der Möglichkeit, weitergehende Fragen in der Beratungsstelle vor Ort besprechen zu können. Dieses Zusammenspiel erfährt allerdings eine Begrenzung in der analogen Welt: Die Finanzierungsstrukturen, die sich an regionalen Grenzen orientieren, erweisen sich als Hemmschuh, wenn es um das Angebot einer bundesweit agierenden Plattform geht. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Forderung „Sozial braucht digital“ mit zentralen Anforderungen an Politik und Kostenträger verbunden ist: Die gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sind so zu gestalten, dass Online-Beratung im Interesse hilfesuchender Menschen entsprechend realisiert werden kann.
Bisherige Strukturen werden zum Hindernis
Der Vorstand eines Orts-Caritasverbandes macht deutlich: „Durch die Digitalisierung erleben wir die Entgrenzung von Sozialräumen. Wir müssen deshalb Antworten auf die Frage finden, was wir beispielsweise mit Klienten aus Bayern machen, die eine digitale Beratung bei uns hier am Niederrhein in Anspruch nehmen möchten. An diesem Punkt passt die historisch gewachsene Systematik der Refinanzierung sozialer Leistungen durch die Kommunen und Kreise vor Ort nicht mehr in die Lebenswirklichkeit. (…) Wir brauchen eine Art digitalen Masterplan, der im sozialen Bereich neue Lösungen ermöglicht. Wenn wir nicht schnell die Voraussetzungen schaffen, dass die Menschen digitale Zugangswege zu sozialen Dienstleistungen erhalten, dann werden mehr Menschen durch das soziale Netz unserer Gesellschaft fallen, als wir es uns heute vorstellen.“20
In einer digitalen Welt müssen soziale Dienstleistungen auch online erreichbar sein: für alle zugänglich und in einer fachlichen Qualität, die in der analogen Welt selbstverständlich ist. Dies fordert nicht nur Politik und Kostenträger heraus, sondern auch einen dezentral organisierten Verband wie den DCV. Hinsichtlich der Gewohnheit, in verbandlichen und regionalen Strukturen zu denken, stellt die digitale Welt in ihrer „Grenzenlosigkeit“ bestehende Abläufe infrage und fordert alle Beteiligten heraus, neue Wege zu gehen. Den Bedarf belegt eine Studie des DiCV Münster. Sie zeigt, dass „die Potenziale des digitalen Wandels (…) in weiten Bereichen der Caritas-Arbeit noch nicht ausgeschöpft“21 sind. Dabei wird der „digitale Reifegrad künftig immer stärker über die Marktfähigkeit der Träger, ihre Attraktivität für ehrenamtliches Engagement oder ihren Einfluss auf politische Diskurse entscheiden.“22 Der Claim „Sozial braucht digital“ soll als Signal nach innen und außen verstanden werden. Der digitale Wandel betrifft nicht nur Wirtschaftsunternehmen oder die öffentliche Verwaltung. Alle Einrichtungen und Dienste der Caritas sind angesprochen bei den Fragen: Wie erreichen wir die Menschen auch in der digitalen Welt? Wie finden die Menschen unsere Angebote und Hilfen?
Digital die Menschen erreichen
Alte Selbstverständlichkeiten müssen überdacht werden, und es muss gelingen, analoge und digitale Angebote konsequent und sinnvoll zu verbinden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich hier bisher nicht gekannte Konkurrenzsituationen zeigen: „Amazon, Google und Co. arbeiten bereits an Portal- und Dienstleistungsmodellen, die den Verantwortlichen in der Wohlfahrtspflege bald Schweißperlen auf die Stirn treiben könnten.“23 Die Kampagne „Sozial braucht digital“ will im Jahr 2019 einen Beitrag dazu leisten, die Präsenz der Dienstleistungen und Angebote der Caritas in der digitalen Welt zu diskutieren und zu stärken. Dabei soll:
- deutlich werden, dass die Caritas sich offensiv und engagiert mit digitalen Entwicklungen auseinandersetzt und diese im Interesse hilfebedürftiger Menschen nutzt und einsetzt.
- bewusst bleiben, dass die Angebote und Hilfen für Menschen durch digitale Möglichkeiten unterstützt werden, ohne dass persönliche Kontakte und Begegnungen aufgegeben werden können.
- die Befürchtung und Sorge vieler Mitarbeitenden vor dieser Entwicklung ernst genommen werden. Wichtig ist es, im gegenseitigen Austausch von gelingenden und misslingenden Erfahrungen zu berichten und voneinander zu lernen.
- in die Ausbildungspläne sozialer Berufe der Erwerb digitaler Kompetenzen Einzug finden und sich die Träger verpflichten, die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden in diesem Bereich zu unterstützen.
- gegenüber den politisch Verantwortlichen in Bund, Land und Kommune deutlich werden, dass die digitale Transformation der sozialen Arbeit finanzielle und gesetzgeberische Unterstützung braucht. Dies gilt auch für Kostenträger, die aufgefordert sind, sich neuen Logiken der Finanzierung zu stellen.
Die große Veränderung durch den digitalen Wandel beschreibt der Leiter des Hasso-Plattner-Instituts: „Es ist so, als würde man einen neuen Kontinent entdecken und das Ende der Entdeckungsreise nur in Umrissen erahnen. Wir kommen allmählich in ein Stadium, in dem sich nicht nur ein paar Freaks und Experten dafür interessieren, sondern alle anderen dazukommen.“24 Dieser „neue Kontinent“ fordert alle heraus, gleich in welchem Bereich oder welcher Position.
Mit dieser Herausforderung konstruktiv und offensiv umzugehen und den Dreiklang: Solidarität, Anwaltschaft, Dienstleistung auch in der digitalen Welt umzusetzen, ist der Anspruch. Vieles geschieht schon, viele Mitarbeitenden und Führungskräfte engagieren sich im digitalen Wandel. Weitere Potenziale zu nutzen und alle zu gewinnen, aktiv dabei zu sein bei der Entdeckung des neuen Kontinents: das will die Kampagne 2019 erreichen. Für die Menschen da sein in der analogen und der digitalen Welt: Sozial braucht digital.
Anmerkungen
1. D21 Digital-Index 2017/2018 (2017): Jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft. S. 12.
2. Ebenda, S. 11.
3. DIVSI Internet-Milieus 2016: Die digitalisierte Gesellschaft in Bewegung, 2016.
4. Kreidenweis, H. (Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Baden-Baden, 2018, S. 11.
5. Ebenda, S. 11.
6. Ebenda, S. 13.
7. BAGFW: Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Berlin, 2017, S. 2;
8. Ebenda, S. 3.
9. t3n digital pioneers (Nr. 52), Juni 2018, (Abruf am 29.7.2018).
10. Magin, J.: Technische Assistenz ermöglicht Teilhabe. In: neue caritas, CBP-Spezial Juli 2017, S. 3. 11. Ebenda, S. 3.
12. Diözesan-Caritasverband Köln: Pressemeldung, 10. Juli 2018.
13. Ebenda.
14. Diözesan-Caritasverband München: Pressemeldung vom 30. April 2018.
15. Roboom, S.: „Medien-Kids“ brauchen Medienbildung. In: Welt des Kindes Heft 4/2018. S. 11.
16. Ebenda, S. 15.
17. van Kampen, A.: Mit Gelassenheit und Augenmaß. In: Welt des Kindes Heft 4/2018, S. 18.
18. Ebenda, S. 18.
19. Ebenda, S. 16.
20. Döring, K.: Soziale Arbeit im Wandel. In: Caritas in NRW Heft 2/2018. S. 8.
21. Kessmann, H.-J. et al.: Digitalisierung: Wo klemmt es bei der Caritas? In: neue caritas Heft 9/2018, S. 29.
22. Ebenda, S. 30.
23. Ebenda, S. 29.
24. Bauchmüller, M.; Braun, S.: „Als würde man einen neuen Kontinent entdecken“. In: Süddeutsche Zeitung, 25. Juli 2018, S. 22.